Der Rüttenauerplatz in München – wie ich zu Gabriele Reuter gekommen bin | #FrauenDerBoheme

Was hat der Rüttenauerplatz mit Gabriele Reuter zu tun? Was ein Pippinger mit Benno Rüttenauer? Andreas Rüttenauer führt uns humorvoll auf die Spuren seines Urgroßvaters in München. Schwabing, die Boheme, ein wildes, folgenreiches Leben zwischen Wiederentdeckung und Vergessen spielen dabei eine Rolle. Für das Online-Magazin mon_boheme* der Monacensia und passend zur Verlängerung der Ausstellung #FrauenDerBoheme (bis 14. Januar) lest ihr heute eine besondere Familiengeschichte.

Mit Gabriele Reuter hatte Benno Rüttenauer eine folgenreiche Affäre. Der Rüttenauerplatz in Obermenzing bei München bringt eine spannende Familiengeschichte hervor.
Mit Gabriele Reuter hatte Benno Rüttenauer eine folgenreiche Affäre. Der Rüttenauerplatz in Obermenzing bei München bringt eine spannende Familiengeschichte hervor.

Da war dieses Bild, das in der Wohnung hing. Ein lustiges älteres Männlein mit einer Strickmütze auf dem Hinterkopf und einem Ziegenbärtchen am Kinn. Es hing über dem Bild eines anderen älteren Herren. Dieser blickte an einem riesigen Cognacschwenker vorbei in die Kamera, als das Foto gemacht wurde. Das war mein Großvater. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Den Krieg hat er nicht lange überlebt. Er soll ein feiner Mann gewesen sein, ein guter Katholik, gescheit wie kein zweiter und eine tragische Figur. In der Familie wurde er jedenfalls verehrt.

Der Pippinger auf den Spuren des Schriftstellers – der Rüttenauerplatz in Obermenzing

Und der andere? Der auf dem Bild drüber, der so aussieht, wie man sich heute vielleicht einen in Würde gealterten Hipster vorstellt? Das war mein Uropa. Ja, auf den war man auch irgendwie stolz, aber so richtig geredet hat man über ihn nicht. 

Dass in München ein Platz nach diesem Benno Rüttenauer benannt ist, wusste ich schon früh und habe in der Schule damit geprahlt:

Da halten zwei Buslinien, und bei einer ist der Platz sogar Endstation! 

Gut, der Platz war jetzt nicht wirklich mitten in München. Er war in Obermenzing. Da wohnen gewiss Leute. Sie dürfen sich Münchner nennen. Aber die meisten Münchner kommen ganz gut durchs Leben, ohne einmal Obermenzinger Boden betreten zu haben.

Der Rüttenauerplatz in Obermenzing, München. #FrauenDerBoheme einmal anders erzählt. Foto: Privat.
Der Rüttenauerplatz in Obermenzing, München. #FrauenDerBoheme einmal anders erzählt. Foto: Privat.

Ein Mitschüler ist dann mal meiner Angeberei nachgegangen. Der Rüttenauerplatz liegt in Pipping, hatte er herausgefunden, es laut herumposaunt und jede Menge Lacher geerntet. Pipping! So heißt ein Teil von Obermenzing. Meine Schwabinger Mitschüler nannten mich daraufhin eine Zeit lang nur noch Pippinger genannt. Der Pippinger! Fäkalhumor geht immer. Danke, Benno Rüttenauer!

Ich muss dennoch weiter angegeben haben mit dem Platz, der nach einem Vorfahren von mir benannt ist, obwohl ich immer noch nicht viel mehr über Benno Rüttenauer wusste. Gut, er war also Schriftsteller. Das haben mir meine Eltern gesagt. Er habe richtig viele Bücher  geschrieben. Früher sei das auch gelesen worden. Aber heute interessiere das keinen Menschen mehr. Benno Rüttenauer war kein Thema, in der Welt da draußen nicht, aber auch nicht bei uns in der Familie. Gewundert hat mich das schon. Immerhin war Bennos Tochter meine Taufpatin. 

Tante Irmingard. Auch von ihr wusste ich nicht viel. Und an vieles kann ich mich auch nicht erinnern. Vor allem die riesigen Dauerwürste, die in ihrer Küche hingen, habe ich in Erinnerung. Sie sei eben eine gelernte Brotzeitmacherin, hat meine Mutter über sie gesagt. Nach Benno habe ich sie nie gefragt. Ich war ja noch sehr klein, als sie starb. 

Ich wusste also wirklich nicht viel über den Mann, nach dem der Rüttenauerplatz benannt ist. Mein diesbezüglicher Angeberstolz war längst verflogen, als ich zum ersten Mal nach Obermenzing fuhr, um den Platz in Augenschein zu nehmen. Ich tat das nicht aus Neugier. Mein älterer Sohn war gerade zur Welt gekommen, und mein Vater hatte uns ins Auto gesetzt und nach Obermenzing gefahren. Nach Pipping. 

Dort fotografierte er drei Generationen Rüttenauer unter dem Schild, auf dem Rüttenauerplatz stand. Dass sein Enkel gar nicht Rüttenauer hieß, störte meinen Vater dabei nicht weiter. Wahrscheinlich reichte es ihm, dass er Rüttenauer hieße, wenn es nach ihm gegangen wäre. Egal, da war er also wieder, dieser merkwürdige Stolz auf jemanden aus der Familie, über den man nicht weiter sprach. 

Der Rüttenauerplatz präsentierte sich uns recht unspektakulär. Es war eigentlich gar kein richtiger Platz. Eher eine dreieckige Verkehrsinsel, deren Betreten nicht vorgesehen war. Vor ein paar Jahren schickte mir ein Freund, den ich noch aus Schulzeiten kannte, eine E-Mail mit einer Meldung aus dem „Münchner Merkur”. Darin machten sich Anwohner Sorgen um das Erscheinungsbild des Rüttenauerplatzes . Der Bezirksausschuss Pasing-Obermenzing wollte sich des Problems annehmen. Ob ich mich nicht für den Platz engagieren wolle, witzelte der Freund. Ein Fall für Rüttenauer, den Pippinger. Sehr lustig!

In der Meldung ging es um ein Schreibwarengeschäft am Platz, dessen Erhalt gefährdet war, weil es keine Lizenz als Lotto-Annahmestelle erhalten hatte. Im Bezirksausschuss von Pasing Obermenzing meinte eine SDPlerin: „Wenn nun auch das vorletzte Geschäft hier schließt, ist alles tot.“ Das Schicksal des Rüttenauerplatzes wurde diskutiert, ohne die Geschichte des Mannes auch nur zu erwähnen, nach dem er benannt worden war. Es hätte ja sein können, dass man sich um den Platz kümmern wollte, um dem Schriftsteller Benno Rüttenauer, der einen Großteil seines Lebens in München verbracht hat, würdig zu ehren. Aber um den ist es nie gegangen. Niemand wusste, wer Benno Rüttenauer war. Nicht einmal ich hätte damals viel über ihn sagen können.

Immerhin hatte ich inzwischen mitbekommen, dass mein Urgroßvater auch als Übersetzer in Erscheinung getreten war. Bei einer Familienfeier unterhielten sich seine Enkel darüber, dass es nun bald vorbei sei mit den Tantiemen für die „Tolldreisten Geschichten”, die bis dahin reichlich geflossen waren. Tatsächlich: Benno Rüttenauer stand als Übersetzer in der Goldmann-Taschenbuch-Ausgabe der Geschichtensammlung von Honoré de Balzac, die bei uns zu Hause im Regal stand.

Das ist nichts für dich!

Meine Mutter nahm mir das Buch aus der Hand, als sie mich darin blättern sah. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass mich die alten Schlüpfrigkeiten in meiner Pubertät toll machen könnten. Beispiel gefällig? 

Da er sehr enthaltsam lebte, dabei immer seinen alten Erzbischof als Muster vor Augen, der nicht mehr sündigte, weil er es nicht mehr konnte, und darum für einen Heiligen galt, hatte sein Fleisch fast immer böse Anfechtungen, und seine Seele wurde darüber voll Traurigkeit, um so mehr, als er nirgends jenen verführerischen Frauenzimmern ausweichen konnte, die so offen und freigebig ihre Reize zur Schau trugen, aber kalt waren wie Eis, wenn es sich um einen armen Teufel handelte.

Ich weiß nicht, wie toll das in den 1980er Jahren einen 14-Jährigen wohl hätte machen können.

Benno Rüttenauer – Bohemien und die Frauen in seinem Leben

Später erfuhr ich von meiner Großmutter, dass es gar nicht Benno Rüttenauer war, der die Geschichten übersetzt hatte. Es war seine Frau Karoline. Die habe im Gegensatz zu ihrem Mann die französische Sprache beherrscht. Ihr Name taucht nirgends auf. Wie viele berühmte Übersetzer haben wohl ihrem Mann die Arbeit abgenommen und ihm den Ruhm überlassen? Der Name Karoline ist im Familienkreis jedenfalls nie gefallen. Ich kenne auch kein Bild, auf dem sie zu sehen ist. Sie hatte sich wohl unterzuordnen. Sie habe es nicht leicht gehabt, meinte meine Großmutter über Karoline, ihre Schwiegermutter, zu der sie wohl ein gutes Verhältnis hatte. Sie habe oft mit ihr in ihrem Haus in Nymphenburg zusammengesessen, von dem aus Benno Rüttenauer immer wieder in Richtung Schwabing aufgebrochen war. Hier frönte er dem Leben eines Bohemiens, während sich seine Frau um Haushalt und Kindererziehung kümmerte. 

Büste von Benno Rüttenauer. Foto: Privat. Ruettenauerplatz und Gabriele Reuter für #FrauenDerBoheme
Büste von Benno Rüttenauer. Foto: Privat.

Vergessene Liäson mit Gabriele Reuter

Klar, von der Schwabinger Boheme hatte man viel gehört, von Bällen, Gelagen, Malern, Musen, Dichterinnen und einem wilden Leben überhaupt. Wenn wir als junge Männer im Vollrausch durch Schwabing gezogen sind, mögen wir uns so rebellisch gefühlt haben, wie es die Bohemeins und Bohemiennes wohl wirklich waren in einer Zeit, in der moralischer Anstand noch mit Polizeigewalt durchgesetzt worden ist.

Benno Rüttenauers wildes Leben blieb jedenfalls nicht folgenlos. Elisabeth hieß diese Folge und die Familie fragte sich, wie sie denn nun mit dieser unehelichen Tochter Bennos verwandt sei. Ist sie meine Halbgroßtante? Auf die neue Angehörige ist ein Onkel von mir gestoßen, als er begonnen hat, sich um das Andenken seines Großvaters zu bemühen. Er hat einen Wikipedia-Eintrag veranlasst, betreibt eine Website über Benno Rüttenauer und hat einen Teil seiner Werke ins Netz gestellt. Hätte es Wikipedia zu meiner Schulzeit schon gegeben, hätte meine Angebereien gut unterfüttern können. Von wegen Pippinger! 

Natürlich hat der Onkel versucht herauszufinden, ob jene Elisabeth Nachkommen hat. Ob wir vielleicht Verwandtschaft hätten, von der wir nichts wussten. Hatten wir nicht. Zumindest hat er keinen Hinweis darauf gefunden. Sonst noch was? Bei Wikipedia steht, wer Elisabeths Mutter ist. Über die wird in der Familie nicht gesprochen. Sie war auch Schriftstellerin, heißt es, mehr nicht. Dabei war jene Gabriele Reuter im Gegensatz zu Benno Rüttenauer eine wahre Bestsellerautorin. Trotzdem ist sie in Vergessenheit geraten.

Gabriele Reuter. München 1896. Foto: gemeinfrei. #FrauenDerBoheme
Gabriele Reuter. München 1896. Foto: gemeinfrei.

Vielleicht ein typisches Frauenschicksal. Vielleicht das Schicksal einer Frau, die als alleinerziehende Mutter versuchte, in Dichterkreisen ernst genommen zu werden. Vielleicht das Schicksal einer Frau, die allzu ehrlich darüber schrieb, wie es ist, von der Gesellschaft verstoßen zu werden, nur weil sie schwanger wurde. Vielleicht auch nur das Schicksal einer Feministin. 

Jedenfalls brachte Gabriele Reuter ihre Tochter Elisabeth in einem armseligen schwäbischen Haus zur Welt, wo solche Mütter vor der bürgerlichen Welt versteckt wurden. Nicht so nett von unserem Benno Rüttenauer, oder? Er hat sie dort doch sogar besucht, sagte der Onkel einmal. Alles gut also?

Während Gabriele Reuter gerade wiederentdeckt wird, von Frauen natürlich, die sich mit der Rolle von Frauen in der Literaturszene befassen, wissen immer weniger Menschen, wer Benno Rüttenauer war. Sorry Onkel, aber da nutzt auch die Website wenig. Den Platz, den er mal bekommen hat, wird ihm wohl niemand mehr nehmen.

Und Gabriele Reuter? In München gibt es bis heute keinen Ort, der nach ihr benannt ist. Nicht einmal eine Verkehrsinsel in Stadtteil Pipping. 

Autor: Andreas Rüttenauer

Andreas Rüttenauer. Foto: Privat.
Andreas Rüttenauer. Foto: Privat.

Andreas Rüttenauer, 1968 in München geboren, lebt als Journalist und 
Autor in Berlin. Er ist Redakteur der taz. Für den Verbrecher Verlag hat 
er 2004 zusammen mit Jörg Sundermeier das „Münchenbuch“ herausgegeben.

Wir danken Ihnen, Andreas Rüttenauer, sehr für diesen kurzweiligen Ausflug zum Rüttenauerplatz, der uns an einen vergessenen Schriftsteller erinnert, uns vor allem aber mit Gabriele Reuter verbindet – eine etwas andere Perspektive auf die Boheme und so passend zum AddF-Artikel zu Gabriele Reuter! Wir sind begeistert!


Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Bisher erschienen sind:

Artikel und Dossiers des AddF zu #FrauenDerBoheme:


Monacensia im Hildebrandhaus
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Kommentar zu “Der Rüttenauerplatz in München – wie ich zu Gabriele Reuter gekommen bin | #FrauenDerBoheme

  1. Danke, Andreas. Auch der Onkel ist begeistert!

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