Mareike Fallwickl: „Es ist Zeit, zu tanzen“ – Befreiung des eigenen Körpers I #FrauenDerBoheme

Die österreichische Autorin Mareike Fallwickl setzt sich als Literaturvermittlerin ganz besonders für weibliche Erzählstimmen ein. Sie erzählt von ihrem langen Weg zur Befreiung des eigenen Körpers nach einer Jugend ohne Feminismus. Warum Tanzen ein Akt der Revolution und wir uns endlich von vorgefertigten Bildern verabschieden sollten? Das lest ihr im Beitrag zu mon_boheme, dem Online-Magazin zu #FrauenDerBoheme* – eine Ausstellung der Monacensia!

„Jeder Körper ist ein guter Körper“: Mareike Fallwickl schreibt als eine unserer heutigen Stimmen über die Themen der #FrauenDerBoheme. Foto: Gyöngyi Tasi
„Jeder Körper ist ein guter Körper“: Mareike Fallwickl schreibt als eine unserer heutigen Stimmen in der Ausstellung über die Themen der #FrauenDerBoheme. Foto: Gyöngyi Tasi

„Es ist Zeit, zu tanzen“ von Mareike Fallwickl

Ich tanze mit meinen Kindern durchs Wohnzimmer und trage dabei nur Unterwäsche. An meinem Körper hüpft, wackelt und schwabbelt es, dass es eine Freude ist. Auf den ersten Blick sieht das nicht aus wie ein Akt der Revolution. Und doch ist es einer. Denn mir wurde beigebracht, dass ich mich so nicht zeigen darf, weil das nicht schön ist. Und eine Freude schon gar nicht.

Der schambesetzte Frauenkörper

In meiner Kindheit gab es keine selbstbewussten Frauen. Ich bin in einem Dorf in den Bergen am Rand von Österreich aufgewachsen, es waren die Achtzigerjahre, und die einzigen Frauen, die wir gesehen haben, waren unsere Mütter, die Models im Universalversand-Katalog und Vera Russwurm im Fernsehen.

Ob Vera Russwurm ihren Körper gut fand, weiß ich nicht, aber unsere Mütter haben sich geschämt. Das Körperliche, nein, das Frauenkörperliche, das war eng mit Scham verbunden: Unsere Mütter haben sich nicht ausgezogen. Unsere Mütter haben gesagt, dass wir im Freibad ein Leiberl anlassen sollen wegen der Speckröllchen am Bauch, unsere Mütter sind selbst nie ins Freibad gegangen, und immer haben sie Diät gemacht. Warmes Wasser mit Essig haben sie getrunken und nichts mit Weißmehl gegessen, an sich herumgezwickt und gezupft, die Haut an den Schenkeln zusammengedrückt und dabei geseufzt.

„Iss nicht so viele Pommes“, haben unsere Mütter gesagt und zu Cindy-Crawford-Videokassetten geturnt, „sonst schaust du auch SO aus!“ „Jetzt bist du noch schmal und straff“, haben unsere Mütter gesagt und uns Zucker verboten, „aber warte ab, du gehst schneller auseinander, als du glaubst.“ Einen Frauenkörper zu haben, war offenbar etwas, das es zu vermeiden galt. Ein Frauenkörper war etwas, das uns drohte. Vor der Zukunft im Frauenkörper sollten wir uns fürchten.

Eine Jugend ohne Feminismus

Es gab kein Internet, es gab keine Hashtags wie #saggyboobsmatter und #womendontoweyoupretty, es gab keinen Aufschrei gegen Bodyshaming, keine ästhetischen Bilder von mehrgewichtigen Frauen, keine instagramtauglichen Sprüche über Body Positivity. Es gab, in meiner kleinen Bergdorfwelt, keinen Feminismus. Dafür aber unerreichbare Vorbilder, die Topmodels der Neunziger, die Tänzerinnen auf MTV, die Schauspielerinnen auf den Postern in der Bravo. Natürlich habe ich versucht, meinen Körper in diese Schablonen zu pressen. Wir alle haben das getan. Statt diese Vorlagen – die nichts als ein soziales Konstrukt waren und sind, menschengemacht und fiktiv wie jede Norm – zu zerreißen und unsere Körper mit Respekt und Dankbarkeit anzunehmen. Das hat mir niemand beigebracht. Das habe ich erst viel später gelernt. Dazu musste ich erst Kinder bekommen, Bücher lesen, von klugen Frauen inspiriert werden, selbst ein Buch über Sexismus schreiben und Feministin werden.

Es ist ein langer Weg zur Befreiung des eigenen Körpers von der Fremdbestimmung durch die Gesellschaft. Ich bin noch nicht am Ziel angekommen. Denn ich tanze zwar mit meinen Kindern in Unterwäsche durchs Wohnzimmer, aber ich schäme mich dabei. Die Scham, die mir in jungen Jahren an die Seite gestellt wurde, tanzt mit mir, hält mich fest, hängt sich an mich und flüstert: Was tust du da, bist du verrückt, wer will das sehen, niemand. Merkst du nicht, wie die Unterseite deiner Oberarme schwingt, dass du Cellulite hast, dass dein Bauch nicht flach ist, dass du nicht schön bist?

Tanzen gegen die Fremdbestimmung

Ich höre das, trotz Musik höre ich es sehr deutlich. Ich mache die Augen zu, ich atme. Jede Bewegung ist schwer, jede Bewegung muss etwas aufbrechen, das jahrzehntelang auf mich draufbetoniert wurde. Aber ich tanze weiter. Aus zwei Gründen.

Der erste ist meine neunjährige Tochter. Ich tanze, damit ihr Körper ihr gehört, ihr allein. Damit sie ihn nicht durch diesen Filter wahrnimmt, der Frauenkörper zum Besitz der Gesellschaft macht, der ihnen auferlegt, begehrenswert für Männer zu sein, aber nicht zu sexy, Standards zu entsprechen, denen kaum ein Körper entspricht, unzufrieden mit sich zu sein, um anzuspringen auf die Versprechen der Schönheitsindustrie. Ich tanze, damit sie sieht: Es ist okay, wenn Frauenhaut dellig ist, es ist okay, dass der Bauch, in dem sie und ihr Bruder gewachsen sind, nicht aussieht wie vor den Schwangerschaften.

Alles an meinem Körper ist okay, deshalb ist auch alles an ihrem Körper okay.

In meiner Kindheit gab es keine selbstbewussten Frauen, deswegen bin ich jetzt für meine Tochter eine selbstbewusste Frau. Ich frage meine Tochter: „Möchtest du noch Pommes?“ Ich sage: „Die haben diese Hose so genäht, dass sie vielen Kindern auf der Welt passt. Ist doch klar, dass das nicht funktionieren kann, weil alle Kinder verschieden sind, wir finden eine andere Hose, es ist nur Stoff.“

Der andere Grund bin ich selbst. Ich tanze für mich, weil ich stärker sein will als die Scham. Weil ich die Nase voll habe davon, mir vorschreiben zu lassen, wie viel ich wiegen darf, wie ich mich anziehen soll, um als schön zu gelten, wenn dieses „schön“ doch bloß ein Schnittmuster ist, wandelbar, uns aufgezwungen. Es ist nicht real. Aber wir sind es.

Boykott der Normen

Ein Körper ist real, und weil er existiert, weil er ein Menschenkörper ist, ist er normal. Dass etwas an einem Körper falsch ist, das ist nicht möglich. Breit, groß, schmal, verrunzelt, sommersprossig, dunkel, klein, mit Haaren und ohne – ja! Wir haben Hängebrüste, faltige Hälse, knubbelige Knie, wir haben krüppelige Zehen und Dehnungsstreifen, ein wildes Muster aus Muttermalen, Speckrollen, Schlupflider, wir sind Natur und Mensch und Wirklichkeit. Wir sind gut und wir sind richtig. Wir sind.

Stürzen wir das Ideal, dass unsere Haut glatt und straff zu sein hat, sie lebt und bekommt Falten, je älter wir werden. Hören wir auf, alle gleich aussehen zu wollen, wie ein Magazin-Bild, das mit Photoshop verschmälert und retuschiert wurde. Wir wissen das, wir wissen genau, dass das nicht echt ist, wir könnten kopfschüttelnd lachen und uns im Spiegel zuzwinkern. Boykottieren wir jenes Schönsein, für das man leiden muss. Es gibt doch schon genug anderes, unter dem wir leiden.

You don’t owe prettiness to anyone. Not to your boyfriend/spouse/partner, not to your co-workers, especially not to random men on the street. You don’t owe it to civilization in general. Prettiness is not a rent you pay for occupying a space marked female.

Das schreibt Florence Given in ihrem augenöffnenden Buch „Women Don’t Owe You Pretty” und zitiert damit Erin McKean.

Was für eine Erleichterung, keinen Krieg mehr gegen den eigenen Körper zu führen.

Das schreibe ich in meinem Roman „Die Wut, die bleibt“. Denn es ist tatsächlich eine Revolution, die wir anzetteln können: unsere Körper nicht mehr in Schablonen zu pressen, sondern jeden Millimeter, jedes Röllchen, jedes Dellchen liebevoll zu pflegen und achtsam zu behandeln. Nicht mehr zu denken, dass wir jung, dünn, schön sein müssen, um erfolgreich, glücklich und geliebt zu sein.

Es ist Feminismus, sich gut zu finden, richtig gut. Und alle Menschen mit Respekt zu behandeln, unabhängig davon, wie ihre Körper beschaffen sind. Es ist radikal und wild und inspirierend, es ist schmerzhaft und befreiend und mutig. Es ist Empowerment, niemandem gefallen zu wollen – außer sich selbst. Es ist Zeit, unsere Körper zurückzuerobern, sie uns zu eigen zu machen, sie zu befreien von Urteil, Kritik und Vergleich. Es ist Zeit, die alten Standards aufzubrechen und Schönheit neu zu definieren.

Es ist Zeit, zu tanzen.

Autorin: Mareike Fallwickl

Mareike Fallwickl lebt als freie Autorin in der Nähe von Salzburg und setzt sich auf Bühnen sowie Social-Media-Kanälen für Literaturvermittlung ein, mit Fokus auf weiblichen Erzählstimmen. Ihr zweiter Roman „Dunkelgrün fast schwarz“ stand im März 2018 auf Platz acht der ORF-Bestenliste sowie auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises 2018. Ihr aktueller vierter Roman „Die Wut, die bleibt“ handelt von Mutterschaft, Gewalt, der Objektifizierung der Körper und der Erschöpfung der Frauen.

Website | Instagram

Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Bisher erschienen sind:

Artikel und Dossiers des AddF zu #FrauenDerBoheme:


Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München

Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei

Besucht auch gerne die Cafébar Mona.

Verbindet euch gerne mit uns im Social Web auf: Instagram | Twitter | Facebook

Abonniert unseren Newsletter! Er informiert euch über das spannende Programm der Monacensia.


Abonniert unseren Newsletter! Er informiert euch über das spannende Programm der Monacensia.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Beitragsnavigation: