Weibliche Moderne: Sandra Kegel über schreibende Frauen I #FrauenDerBoheme

Sandra Kegel, Literaturwissenschaftlerin und Feuilleton-Redakteurin der „FAZ“, erweitert den literarischen Kanon: Die von ihr herausgegebene, über 900 Seiten starke Anthologie „Prosaische Passionen“ versammelt Short Stories von 101 zwischen 1850 und 1921 geborenen Autorinnen – sowie der etwas älteren Sofja Tolstaja – aus 25 Weltsprachen. Einige erscheinen darin erstmals auf Deutsch, andere gelten als Ikonen der literarischen Moderne.

Für das mon_boheme-Magazin* der Monacensia zur Ausstellung #FrauenDerBoheme bringen wir Auszüge aus Sandra Kegels Nachwort „Schreiben, um nicht zu sterben“. Es geht um die ewige Debatte um die Frauenliteratur, um sich langsam verändernde Bedingungen weiblichen Schreibens im 20. Jahrhundert – und um deutlich mehr als nur ein Zimmer für sich allein.

Die von Sandra Kegel herausgegebene Anthologie versammelt 101 Geschichten von Frauen der Moderne und #FrauenDerBoheme. Cover © Manesse Verlag, Foto Sandra Kegel © Helmut Fricke
Die von Sandra Kegel herausgegebene Anthologie versammelt 101 Geschichten von Frauen der Moderne und #FrauenDerBoheme. Cover © Manesse Verlag, Foto Sandra Kegel © Helmut Fricke

Sandra Kegel: Auszüge aus „Schreiben, um nicht zu sterben“ – dem Nachwort in „Prosaische Passionen“

Ohne Frauen geht es nicht. Das hat sogar Gott einsehen müssen.

So scherzte Eleonora Duse um 1900. Dabei war die Ausgrenzung bis in die Lebenszeit der Schauspielerin hinein und freilich auch im Literaturbetrieb die Regel. Das ist inzwischen vielfach benannt und gut erforscht. An der Frage, welche Rolle das Geschlecht für die Literatur spielt und ob es ein dezidiert weibliches Schreiben gibt, scheiden sich die Geister. Die These, dass männliches Schreiben eher politisch und weltbezogen sei, weibliches eher privat und emotional, wie dies noch bis in die 1990er-Jahre behauptet wurde, ist aus der Welt.

Wetten, dass nicht einmal Profileser aus anonymisierten Texten das Geschlecht der Verfasser herauslesen können? Selbst Silvia Bovenschen, die große Vordenkerin und Feministin, ließ diese von ihr selbst aufgeworfene Frage nach den Merkmalen weiblicher Autorschaft letztlich unbeantwortet. Und wenn die Écriture féminine, vertreten durch die französischen Theoretikerinnen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva, von weiblichem Schreiben spricht, meint sie damit nicht etwa zwingend biologisch weibliche Autorschaft, sondern eine Literatur wider die männliche Tradition.

Frauenliteratur gibt es nicht – genauso wenig wie Linkshänderliteratur oder Rothaarigenliteratur.

Schriftsteller seien so unterschiedlich wie alle Menschen, sagte die schottische Autorin A. L. Kennedy vor ein paar Jahren, und die Ausdrucksformen und ihre Interessen „so variabel und unvorhersehbar, wie jeder vernünftige Psychologe (und jeder vernünftige Mensch) erwarten dürfte“.

Lücken im kulturellen Archiv

Für das kulturelle Archiv spielt das Geschlecht durchaus eine Rolle. Die Kanons der Vergangenheit belegen eindrucksvoll, wie sehr literarische Bildung jahrhundertelang durch die männliche Sicht geprägt und zementiert wurde. Autorinnen in literaturgeschichtlichen Darstellungen sind, so der Heidelberger Literaturwissenschaftler Helmuth Kiesel 2004, „auf bestürzende Weise unterrepräsentiert“. Damals habe der Diskurs die Frauen als „Mängelwesen“ erscheinen lassen, unfähig zu künstlerischer Tätigkeit. Heute würden im Archiv „zumeist nur ganz wenige Autorinnen namentlich genannt. Und wenn es geschieht, wird ihr Schaffen im Telegrammstil mit wenigen Worten abgetan“.

In den hohen Kanon finden überwiegend männliche Autoren Eingang. Natürlich. Es gab Jane Austen, es gab die Brontë-Schwestern, Mary Shelley, Emily Dickinson, George Sand, es gab hierzulande Karoline von Günderrode, Annette von Droste-Hülshoff oder Marie von Ebner-Eschenbach, die zugleich als Vorreiterin wie als Zeitgenossin in die weibliche Moderne herüberragt. Und doch blickten Generationen von Leserinnen und Lesern fast ausschließlich durch die männliche Linse auf Gott und die Welt.

Die britische Schriftstellerin Jane Austen veröffentlichte ihre literarischen Werke zeitlebens anonym. Stich um 1869 nach der Skizze von Cassandra Austen. #FrauenDerBoheme. Quelle: Wikimedia Commons.
Die britische Schriftstellerin Jane Austen veröffentlichte ihre literarischen Werke zeitlebens anonym. Stich um 1869 nach der Skizze von Cassandra Austen. #FrauenDerBoheme. Quelle: Wikimedia Commons.

Wer wählt nach welchen Kriterien aus?

Nur gut fünfzehn Prozent der literarischen Vor- und Nachlässe im Deutschen Literaturarchiv Marbach stammen heute von Autorinnen, erwähnte die DLA-Direktorin Sandra Richter in einem Gespräch. Damit wies sie auf das „seit 1750 währende Ungleichgewicht“ nicht nur der Produktion, sondern auch in der Sammlung und Konservierung hin. Was aus dem Weltreich der Literatur als bedeutsam gilt und also bewahrenswert, ist die Gretchenfrage für jedes kulturelle Archiv. Und wirft gleich mehrere Fragen auf:

  • Wer wählt aus?
  • Wann wird ausgewählt?
  • Für wen wird ausgewählt?
  • Welche Kriterien werden zugrunde gelegt?
  • Wie steht es mit der Überlieferung der Texte?

Die neue Frau im 20. Jahrhundert

Spätestens um 1900 ist die Weltliteratur nicht mehr bloß ein Gruppenbild mit Dame. Frauen hatten sich ihren Anspruch auf Gleichberechtigung erfolgreich erkämpft. Sie genossen als selbstständige, gebildete und studierte Frauen mehr Freiheit denn je. Spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, der großen Epochenzäsur, tauchten die neuen Frauen – flapper nannten sie sich keck – überall in den Metropolen auf und feierten Aufbruch und Ausbruch aus traditionellen Rollen und Normen. In Berlin, New York oder Buenos Aires schnitten sie die alten Zöpfe ab. Stattdessen trugen sie Bubikopf und Hosenanzug, hörten Jazz, tanzten und tranken, rauchten und schrieben, als gäbe es kein Morgen.

Wir sehen heute unsere Frauen mit leichten, federnden Schritten durch den rasenden Tumult der Straßen schreiten, lächelnd und sicher, von Gefahr umspielt, Tennis spielend auf sonnigen Plätzen … oder furchtlos an den stampfenden Maschinen stehend und Hebel und Ventile handhabend, den Strom elementarer Kräfte lenkend mit ihrer in der Übung stark gewordenen Hand.

So beschrieb Curt Moreck 1925 das Bild der „neuen Frau“. Mit der Mode, den kurzen Haaren und der Aneignung des männlichen Habitus allein aber war es nicht getan. Die nach Autonomie strebenden Frauen drängten auf nichts weniger als die Bestimmung einer neuen weiblichen Identität. Und während die nach vierjährigem Gemetzel mit Millionen toter Soldaten von den Schlachtfeldern heimkehrenden Männer vielfach gezeichnet waren, was noch dazu folgenreich war für das Verhältnis der Geschlechter, übernahmen Frauen, nunmehr in der Überzahl, auch deshalb Tätigkeiten in der Schwerindustrie, als Straßenbahnführerin oder Schornsteinfegerin, die zuvor Männern vorbehalten waren.

Lulu als Frauenideal der Zeit

Beruflich begannen Frauen sich in großer Zahl zu emanzipieren. Das Ideal einer freien Persönlichkeit aber blieb in weiter Ferne, denn in der traditionellen Geschlechterhierarchie ändert sich kaum etwas. Kein Wunder, dass ausgerechnet „der Lulutyp“ zum Frauenideal jener Zeit wird, wie Gabriele Tergit damals im Berliner Tageblatt beobachtet. Er repräsentiere das männermordende Wesen, das einen „untrüglichen Instinkt“ besitze und „die Männer für dumm halte“. Seine Gegenfigur seien die „tränenreichen Gretchens und Mariens“, die „ihre Tage im Wesentlichen mit Sitzengelassenwerden ausfüllen“.

Sich verändernde Schreibbedingungen

Literarisches Schöpfertum nebenher, ad hoc und zwischen Tür und Angel – bei Frauen keine Seltenheit, sondern lange Zeit die Regel. Die legendäre „creaking door“, von der Jane Austen häufig sprach, war mehr als nur ein Spaß. Denn auch Austen hatte wie die meisten Autorinnen des 19. Jahrhunderts kein eigenes Arbeitszimmer, in das sie sich hätte zurückziehen können. Ihre Romane entstanden an einem unscheinbaren Mahagonisekretär, der im Wohnzimmer der Familie stand. Und um von neugierigen Blicken nicht überrascht zu werden, schrieb sie auf kleinen Blättern, die sie mit einem Stück Löschpapier schnell abdecken konnte. Die knarrende Schwingtür war das Signal, dass jemand kam – und es vorbei war mit den „leeren Stunden“.

Kaum je hatten Autorinnen für ihr konzentriertes literarisches Arbeiten den von Virginia Woolf geforderten Room Of One’s Own.

Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf forderte 1929 in ihrem gleichnamigen Essay „Ein Zimmer für sich allein“. Foto: George Charles Beresford um 1902. Quelle: Wikimedia Commons
Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf forderte 1929 in ihrem gleichnamigen Essay „Ein Zimmer für sich allein“. #FrauenDerBoheme. Foto: George Charles Beresford um 1902. Quelle: Wikimedia Commons

Anna Seghers bekannte einmal:

Ich habe große Sehnsucht nach dieser ganz besonderen Art von Welt, in der man arbeiten und atmen und sich manchmal wie verrückt freuen kann.

Wie ihr ging es den allermeisten Autorinnen und Künstlerinnen. Sie mussten sich ihren Freiraum für kreative Selbstentfaltung erst mühsam und gegen Widerstände aller Art erkämpfen. Denn wie es bei Simone de Beauvoir so kühn wie treffend heißt:

Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen – sie bekommen nichts.

Mehr als ein Zimmer für sich alleine

Virginia Woolfs berühmtes Zitat, das sie vor fast hundert Jahren formulierte, ging über das „Zimmer“ hinaus, wenn sie außerdem auf ökonomische Unabhängigkeit drang:

Eine Frau braucht Geld … wenn sie Bücher schreiben möchte.

Anlass des 1929 veröffentlichten Texts war ein Vortrag der Autorin an den Colleges in Newnham und Girton über Frauen und Literatur. Darin hob sie hervor, dass Frauen „vielleicht das meistdiskutierte Lebewesen im Universum“ seien. Erstaunlicherweise würden diese Diskussionen jedoch nicht von ihnen, sondern von Männern geführt. Und als hätte es noch einer Illustration dieses Sachverhalts bedurft, erschien im selben Jahr in Deutschland der Sammelband Die Frau von Morgen, wie wir sie wünschen mit Beiträgen von Robert Musil bis Stefan Zweig, aber ohne jegliche Beteiligung einer Autorin.

Die Frau wird zum Thema ihrer selbst

Wie sehr sich die sozialen und politischen Erfahrungswelten von Frauen von denen der Männer unterschieden, zeigt sich in den Themen und Perspektiven der 101 Erzählungen in Prosaische Passionen. Wie sie schreiben über

  • Mutterschaft,
  • sexuelle Gewalt,
  • Begehren und Gebären,
  • das häusliche Leben,
  • Krankheiten, aber auch über
  • die Schwierigkeiten, wenn Berufstätigkeit und Liebe einander ausschließen,
  • oder welche Folgen durch den Wegfall tradierter Frauenrollen sichtbar werden,

belegt, was Virginia Woolf ihren zeitgenössischen Autorinnen attestierte: dass in der Moderne die Frau erstmals zum Thema ihrer selbst wurde, nicht immer mit Lust, wie Woolf bemerkte,

but always, always with interest.

Autorin: Sandra Kegel

Sandra Kegel, Literaturwissenschaftlerin, Feuilleton-Redakteurin der „FAZ“ und Herausgeberin der Anthologie „Prosaische Passionen“. #FrauenDerBoheme. Foto: ©ZDF
Sandra Kegel, Literaturwissenschaftlerin, Feuilleton-Redakteurin der „FAZ“ und Herausgeberin der Anthologie „Prosaische Passionen“. #FrauenDerBoheme. Foto: ©ZDF

Sandra Kegel studierte in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt am Main Literaturwissenschaft sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Seit 1999 ist sie Redakteurin im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, das sie seit 2019 leitet. Sie gehört zum Kritikerquartett der 3sat-Literatursendung „Buchzeit“, ist Mitglied verschiedenster Buchjurys und zählt zu den profiliertesten Literaturkennerinnen unserer Gegenwart. Die von ihr herausgegebene Anthologie „Prosaische Passionen. Die weibliche Moderne in 101 Short Stories“ ist 2022 beim Manesse Verlag erschienen.

Mehr Infos zu den „Prosaischen Passionen“ gibt es hier.

Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Bisher erschienen sind:

Artikel und Dossiers des AddF zu #FrauenDerBoheme:


Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München

Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei

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