Dr. Hope Bridges Adams Lehmann – visionäre Reformerin am Rand der Boheme | #FrauenDerBoheme

Wer war Dr. Hope Bridges Adams Lehmann, und wie kam sie zu ihren reformerischen Ideen? Warum befindet sie sich am Rand der Boheme? Marita Krauss, Lehrstuhlinhaberin für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Augsburg, beleuchtet die Reformerin und ihr Umfeld. Zudem stellt sie das „Frauenheim“ als wichtigstes Projekt der Ärztin vor – ein Beitrag zum Online-Magazin mon_boheme der Monacensia.

Hope Bridges Adams Lehmann im Sprechzimmer, 1910. Foto: Monacensia, C.A.L. Album, #FrauenDerBoheme
Hope Bridges Adams Lehmann im Sprechzimmer, 1910. Foto: Monacensia, C.A.L. Album, #FrauenDerBoheme

Dr. Hope Bridges Adams Lehmann – die erste praktische Ärztin Münchens

Die Lebensreform hatte viele Gesichter. Antibürgerliche Lebensentwürfe der Boheme gehörten ebenso dazu wie die Wanderbewegung, die Bemühungen um Hygieneerziehung oder der Antialkoholismus. Hier gab es viele Berührungspunkte zwischen der ersten in München praktizierenden Ärztin Dr. Hope Bridges Adams Lehmann, und den Frauen, die in Schwabing gegen Zwänge aufbegehrten: 

  • Weg mit dem Korsett! 
  • Reformkleider! 
  • Radfahren für Frauen! 
  • Hosen! 
  • Kurze Haare! 
  • Neue Modelle des Zusammenlebens von Mann und Frau, von Ehe und Mutterschaft! 
  • Empfängnisverhütung und das Recht auf Abtreibung!

Die gebürtige Engländerin Hope Bridges Adams Lehmann hatte als erste Frau in Deutschland 1880 in Leipzig ein medizinisches Staatsexamen abgelegt. Es wurde 1904 nachträglich anerkannt. Sie führte mit ihrem zweiten Mann in München eine Doppelpraxis, schrieb viel gelesene Medizinratgeber und plädierte für die Befreiung von Frau  u n d  Mann

Die Frauenfrage ist die Männerfrage. Es gibt keine Befreiung der Frau, die nicht den Mann mitbefreit. 

Die Frau müsse mit dem Mann konkurrieren, erst dadurch könne sie eine ebenbürtige Partnerin werden. Andererseits sollten sich die Väter an der Kindererziehung beteiligen und von Frauen deren lang geübte „Sklaventugenden“ lernen.

Die Frau der Zukunft und die Boheme

Die Lebenskonzepte, die Hope Bridges Adams Lehmann vertrat, unterschieden sich in vieler Hinsicht grundlegend von denen der Boheme: Sie war eine Ärztin mit großer Praxis, engagierte sozialdemokratische Gesellschaftsreformerin, Autorin und dazu noch Mutter zweier Kinder. 

Nimmt man die Gräfin der Münchner Boheme als Zeugin, so werden die Gegenpositionen sichtbar. 1899 schrieb Franziska zu Reventlow in Oscar Panizzas „Zürcher Diskuszionen“ mit Blick auf die Frauenbewegung: 

Die extremsten Bewegungsdamen haben die Behauptung aufgestellt: Das Weib kann alles, was der Mann kann, es ist nur durch jahrhundertelange Unterdrückung und Gewohnheit um die Möglichkeit zu fisischen und geistigen Kraftleistungen gebracht worden. … Hat es irgendeinen Zweck …, die Geschlechtsunterschiede, die alle anderen bedingen, zu verwischen, damit eins dem anderen ähnlicher wird? – … Die geschlechtliche Attacke ist die Urleistung des Mannes … Das Weib erwartet, verlangt sie, gibt sich ihr hin. Das ist seine Funkzjon.

An anderer Stelle spottete sie: 

Wir lernen in der Praxis immer nur überarbeitete nervöse Berufsfrauen kennen, die der Welt und ihrer Lust abhold sind, weil sie eben beides nicht miteinander vereinigen können.

Doch ebendas forderte Hope. Reformen bildeten für sie die Voraussetzung einer elementaren Entwicklung der damals noch meist „inferioren“ Frau zum gleichwertigen und zu Partnerschaft fähigen Menschen. Unter der Überschrift „Die Frau als Weib“ zeichnet sie die Konturen der Frau der Zukunft. Sie wünscht sich die freie und selbstbestimmte Frau, die

  • einer eigenen Arbeit nachgeht, aber dennoch nicht auf Ehe und Kinder verzichten muss;
  • Freude an der geschlechtlichen Liebe empfindet, dadurch sich und ihrem Mann ein erfülltes Leben ermöglicht; 
  • auf Mode-Torheiten verzichtet und 
  • partnerschaftlich in die Welt des Mannes eintritt.

Neben Veränderungen bei Ernährung, Bewegung und Kleidung verlangte sie auch eine andere Erziehung und ein neues Verhältnis der Frauen zur eigenen Sexualität. Sie erklärte ausführlich Geschlechtskrankheiten, ebenso andere, oft schamhaft verschwiegene Frauenkrankheiten. Ihr Ratgeber „Das Frauenbuch enthielt Bezugsadressen für Verhütungsmittel. In der Unwissenheit vieler Frauen sah die Ärztin die größte Gefahr für Gesundheit und Partnerschaft.

Porträt Hope Bridges Adams Lehmann. Foto: Monacensia, C.A.L. #FrauenDerBoheme
Porträt Hope Bridges Adams Lehmann. Foto: Monacensia, C.A.L. #FrauenDerBoheme

Wer war Hope Bridges Adams Lehmann, und wie kam sie zu ihren damals radikal reformerischen Ideen? 

Hope wurde als jüngstes Kind eines exzentrischen englischen Eisenbahningenieurs, Erfinders und Publizisten 1855 in Hallifort bei London geboren. Ihr Vater gehörte bereits in den 1830er Jahren zu einer Gruppe von „early radical feminsts“, größtenteils intellektuelle Politiker und Publizisten, die sich öffentlich für die Frauen-Emanzipation einsetzten. Nach dem Tod des Vaters 1872 zog die Mutter mit Hope nach Dresden. 

Hope nutzte die wenigen Jahre, in denen man Frauen an der Universität Leipzig als Hörerinnen duldete: Sie schrieb sich dort 1876 als Hörerin in Medizin ein. Nach Staatsexamen und Promotion ließ sie sich mit ihrem ersten Mann Dr. Otto Walther in Frankfurt am Main als Ärztin nieder. Dort kamen auch ihre Kinder auf die Welt. 

Die beiden Ärzte errichteten dann eine international frequentierte Lungenheilanstalt in Nordrach im Schwarzwald. Dort verliebte sich Hope in den zehn Jahre jüngeren Carl Lehmann, der ihr zuliebe Medizin studierte. Nach fast sechs Jahren konnte sie die Scheidung erreichen, Hope und Carl heirateten und zogen nach München.

Die Wohnung der Familie Lehmann in der Gabelsbergerstraße 20a wurde zu einem wichtigen Münchner Treffpunkt ganz unterschiedlicher Kreise. Hier diskutierte man über Sozialreformen, über Politik und Literatur. 

Hope Bridges Adams Lehmann mit ihrem zweiten Mann Carl Lehmann in Schönwald, 1895. Foto: Monacensia, C.A.L. Album. #FrauenDerBoheme
Hope Bridges Adams Lehmann mit ihrem zweiten Mann Carl Lehmann in Schönwald, 1895. Foto: Monacensia, C.A.L. Album. #FrauenDerBoheme

Literarischer und künstlerischer Freundeskreis

Der Schriftsteller und Wahlschwabinger Franz Blei, der mit Carl Lehmanns Schwester Maria verheiratet war, brachte Künstler und Intellektuelle mit. Der Arztkollege Dr. Mieszyslaw Epstein, der mit den Lehmanns eng in der „Kommission für Arbeiterhygiene und Statistik“ zusammenarbeitete, kam mit seiner Frau, der Malerin Elisabeth Iwanowna Epstein. Sie war Schülerin von Alexej von Jawlensky und eng mit der Gruppe Blauer Reiter verbunden; Thomas Mann setzte ihr in seinem Roman „Tonio Kröger“ ein Denkmal. 

Hope freundete sich mit Richard Dehmel sowie seiner Geliebten und späteren Frau, der Berliner Salonière Ida Auerbach, an und lud ihn zu einem literarischen Abend. Dehmel galt damals als einer der wichtigsten deutschen Lyriker. Hope bezog sich in ihrem Aufsatz „Das Weib und der Stier“ unmittelbar auf eines seiner Gedichte und schickte ihm diesen vor der Publikation. Die Lehmanns waren auch mit dem kurzlebigen Münchner Verein Volksbühne verbunden. Der Schriftsteller Otto Julius Bierbaum, Begründer der literarischen Zeitschrift „Die Insel“, zählte ebenfalls zum literarischen Freundeskreis.

Sozialreform und Politik

Es ging bei den Lehmanns aber auch immer um Politik: Neben August Bebel gehörten SPD-Politiker wie Georg von Vollmar, Erhard Auer, Johannes Timm oder Adolf Müller, der Chefredakteur der „Münchener Post“, zum engsten Umfeld. Auch die sozialdemokratische Frauenrechtlerin Clara Zetkin war häufig zu Besuch; ihre beiden Söhne wohnten während ihres Studiums über Jahre bei den Lehmanns. 

Der enge Kontakt zu dem Revolutionär Alexander Parvus-Helphand, mit dem Carl Lehmann 1901 das hungernde Russland bereiste, führte zudem russische Emigranten wie Vera Sassulitsch und Wladimir Iljitsch Lenin ins Haus der Lehmanns. Ein Großteil von Lenins Auslandskorrespondenz für die Zeitschrift „Iskra“lief in der Zeit seines München-Aufenthalts über die Adresse der Lehmanns. Carl Lehmann wirkte im Landrat von Oberbayern, als Münchner Gemeindebevollmächtigter und war auch aktives Alpenvereinsmitglied und Hüttenreferent im Karwendel. In seiner Alpenvereinssektion finden sich die Namen von Maxim Zetkin, Erhard Auer, Adolf Müller, Johannes Timm und Philipp Scheidemann. 

Reformvorhaben und das „Frauenheim“

In diesem Umfeld liefen große Reformvorhaben: Hope gründete einen bilingualen Kindergarten und überprüfte ihre Erziehungskonzepte in einem fünfjährigen Schulversuch des „Vereins Versuchsschule“ in München. Ihr wichtigstes Projekt war jedoch das „Frauenheim“: eine Klinik mit über 400 Betten mit je einem Haus für Wöchnerinnen, für Frauenkrankheiten und mit einem Müttergenesungsheim. Die Stadt München stellte ihr dafür ein Grundstück am Isarkanal und Stiftungsgelder zur Verfügung, es gab bereits viele prominente Unterstützer und konkrete Baupläne.

In dieser Klinik wollte Hope die Klassenmedizin aufheben, arme und reiche, ledige wie verheiratete Frauen sollten den gleichen Komfort genießen:

  • Ein ausgedehntes Belegarztsystem sicherte die freie Arztwahl. 
  • Ein Angehöriger konnte bei Entbindungen anwesend sein und war zur Pflege oder zu Besuch jederzeit zugelassen. 
  • Es gab keinen zentralen Kreißsaal, sondern Einzelzimmer für die Entbindungen. 
  • Begrenzte Besuchszeiten waren abzuschaffen.
  • Auf Wunsch konnten sich halbe Familien in der Klinik einquartieren. 
  • Die enge Zusammenarbeit mit einer Hauspflege konnte die abwesende Mutter weitgehend ersetzen und ihr zu einer unbelasteten Erholung verhelfen. 

Und: Die Mitglieder des Trägervereins „Frauenheim“, dem auch die Patientinnen beitreten konnten, sollten den Chefarzt wählen. 

Doch 1914 wurde Hope von Hebammen denunziert, Abtreibungen vorgenommen zu haben. Es kam zu einer umfänglichen Voruntersuchung. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, fuhr Hope zu einer Friedensmission nach England. Als aber Carl Lehmann 1915 als Frontarzt starb, schien auch für Hope das Leben nicht mehr lebenswert. Sie starb 1916 auf eigenen Wunsch. Bis zur Verwirklichung ihrer Konzepte sollten noch viele Jahrzehnte vergehen.  

Autorin: Marita Krauss

Marita Krauss
Marita Krauss

Prof. Dr. Marita Krauss ist Historikerin, sie lehrte in München, Bremen und Wien. Seit 2008 ist sie Lehrstuhlinhaberin für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Augsburg. 2009 erschien von ihr im Volk Verlag München „Hope. Dr. Hope Bridges Adams Lehmann – Ärztin und Visionärin“ (TB 2017). 

Dr. Hope Bridges Adams Lehmann und Female Peace Palace 

Nicht nur ist die erste Münchner Ärztin Hope Bridges Adams Lehmann in der Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 vertreten – sie spielt auch eine wichtige Rolle in Female Peace Palace, einem kooperativen Projekt der Münchner Kammerspiele und der Monacensia.


Die Artikel-Serie im Online-Magazin mon_boheme zu #FrauenDerBoheme verlängert die Ausstellung Frei leben! Die Frauen der Boheme 1890–1920 der Monacensia in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft und ergänzt die Themen der damaligen Zeit um heutige literarische und wissenschaftliche Perspektiven.

Bisher erschienen sind:

Artikel und Dossiers des AddF zu #FrauenDerBoheme:


Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München

Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei

Besucht auch gerne die Cafébar Mona.

Verbindet euch gerne mit uns im Social Web auf: Instagram | Twitter | Facebook

Abonniert unseren Newsletter! Er informiert euch über das spannende Programm der Monacensia.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Beitragsnavigation: