Am Anfang war das Teilen

von Dr. Arne Ackermann und Katrin Schuster

In den Debatten um gesellschaftlichen Wandel spielen Bibliotheken eine prominente doppelte Rolle: sowohl als Begleiterinnen und Agentinnen der Veränderung wie auch als Institutionen, an deren Transformation sich die Diskussionen entzünden. So sind Bibliotheken mit ihrem wichtigsten Partner, dem Buchmarkt, in einen teils erbittert klingenden Streit über die eBook-Leihe geraten, weil ein fairer Ausgleich der verschiedenen Interessen weiterhin aussteht. Immer häufiger werden sie zudem von konservativen Netzwerken an den Pranger gestellt, weil sie auch und gerade für Minderheiten und Marginalisierte da sind und daher LGBTIQ+-Bücher im Bestand haben oder Lesungen mit Dragqueens veranstalten.

Wie diese beiden Megatrends – die Digitalität und die Diversität – darf auch der dritte, die Nachhaltigkeit, als große gesellschaftliche Zumutung in vielerlei Hinsicht verstanden werden, deren demokratische Bearbeitung von Bibliotheken (ko-)moderiert wird.

Zugänge & Teilhabe

Die DNA von Bibliotheken bildet der Artikel 5 des Grundgesetzes, der den ungehinderten Zugang zu Informationsquellen zur unbedingten Voraussetzung für Meinungsfreiheit macht. Was die Menschen dafür benötigen, unterliegt freilich ebenfalls dem Wandel, deshalb gibt es in Öffentlichen Bibliotheken neben Büchern heutzutage auch Filme, Spiele und Konsolen, Computer, Kopierer und freies WLAN, Tonstudios und Maker Spaces. Vor allem der Bedarf an Arbeitsplätzen steigt rasant, denn gelernt wird heutzutage hybrid: mit Laptop, Mobiltelefon, Buch und Script, sowohl lesend als auch schreibend und stets im Austausch mit anderen. Auch dafür die Zugänge zu schaffen, begreifen Bibliotheken als ihre Verantwortung.

Kinder mit dem Roboter Pepper.
Kinder mit dem Roboter Pepper (Bild: Marco Zielske/MSB)

Die Frage, wie die ungehinderte Unterrichtung in – nicht nur medial – komplexen Zeiten fortgesetzt garantiert werden kann, stellen sich Bibliotheken mithin jeden Tag aufs Neue. Bildung für nachhaltige Entwicklung haben sie bereits avant la lettre praktiziert; die „sichere, gewaltfreie, inklusive und effektive Lernumgebung für alle“ (siehe Ziel 4 für nachhaltige Entwicklung „Hochwertige Bildung“) beschreibt präzise das gegenwärtige Ideal von Bibliotheken. Der offene Zugang zu Wissen und Information gilt ihnen als Voraussetzung gesellschaftlicher Teilhabe und damit Grundlage demokratischen Handelns und sozialer Gerechtigkeit. Als langjährige Lotsinnen durch Informations- und Wissenswelten haben Bibliotheken die Erfahrung, die Räume und die Netzwerke, um Empowerment und Austausch zu fördern und zu gestalten.

Leihen & Tauschen

Am Anfang der Bibliothek steht nicht das Leihen, sondern das Teilen: das Teilen von Information und deren gemeinsame Nutzung vor Ort. Seit einigen Jahren lassen sich neue Nutzungsweisen von Bibliothek entziffern, beste Beispiele dafür sind die Saatgutbibliothek und die „Bibliothek der Dinge“ sowie Lebensmittelteilstationen, Pflanzentauschbörsen oder gar Kleidertauschpartys. All diese neuen Praktiken eint, dass sie ausdrücklich nachhaltige Argumente verwenden, allen voran die Schonung bzw. effiziente Nutzung der Ressourcen – bekanntermaßen schon immer ein großes bibliothekarisches Anliegen. Vor allem anderen aber stellen all diese Formate erste tastende Schritte auf dem Weg in die Postwachstumsgesellschaft dar, die noch viel mehr als nur Bücher und Bohrmaschinen wird teilen müssen und dieses Teilen oft erst wird lernen müssen.

Eröffnung der Stadtteilbibliothek Neuaubing (Bild: Michael Nagy/LHM)

Auch in dieser Hinsicht dienen Bibliotheken als Labore und Experimentierfelder: Wie Rechte und Pflichten gemeinsamer Nutzung von Raum gleichsam täglich neu verhandelt werden (müssen), lässt sich gegenwärtig vielleicht nirgends besser begreifen als in einer Öffentlichen Bibliothek. Denn zunehmend rücken deren Räume als öffentliche, d.h. als von allen geteilte und zu teilende Räume in den Fokus ihrer in jedem Sinne diversen Nutzerinnen und Nutzer; das birgt nicht wenig Konfliktpotenzial. Auch diese Erfahrungen bringen Bibliotheken in die Entwürfe von nachhaltigen Städten und Kommunen ein.

Kommunen & Quartiere

Vergleicht man die Klimabilanzen unterschiedlicher Kultur- und Bildungseinrichtungen, fallen Bibliotheken vor allem durch relativ geringe Werte im Bereich Mobilität auf. Für Theater, Museen und Orchester stellt diese nämlich oft das dringlichste Handlungsfeld dar – fahren und fliegen deren Mitarbeitende sowie Instrumente, Kulissen, Werke doch regelmäßig durch die ganze Welt. Bibliotheken dagegen sind immer vor Ort, sie lassen sich von vielen Menschen fußläufig erreichen, andernfalls genügt das Fahrrad oder in Großstädten ein ausgebautes ÖPNV-Netz. Auch deshalb dienen sie als Basis und Beispiel für die „15-Minuten-Stadt“, auch „Stadt der kurzen Wege“ genannt, die auf die überlebensnotwendige Reduktion des fossil befeuerten Verkehrs zielt.

Die Stadtbibliothek im HP8 (Bild: Isabella Kratzer/MSB)

Dass Quartiere und Kommunen zu den eigentlichen Treibern des nachhaltigen Wandels avanciert sind, liegt auch daran, dass Betroffenheit und Selbstwirksamkeit weiterhin zwei der wichtigsten Motivationen darstellen, um Veränderungen anzustoßen. Da Bibliotheken stets vor Ort sind, sind sie üblicherweise lokal hervorragend vernetzt, mit Politik, Zivilgesellschaft und zudem mit marginalisierten Communitys und sozialen Minderheiten. Welch richtiggehend friedensstiftende Funktion Bibliotheken in Kommunen und Quartieren haben, schildert eindrücklich der US-amerikanische Soziologe Eric Klinenberg in seinem Buch „Palaces for the People“. Vor allem Großstädte haben diesen Wert verstanden und investieren – so viel aktuell eben möglich – in ihre Bibliotheken.

Und weiter?

Wie die meisten anderen Kultur- und Bildungsinstitution, national wie international, stehen Bibliotheken erst am Anfang eines langen Wegs. Erste Klimabilanzen wurden erstellt, die Fachverbände nehmen sich des Themas an, das informelle Netzwerk Grüne Bibliothek leistet schon viele Jahre hervorragende Arbeit. Auch politische Initiativen, von EU, Bund und Ländern, treiben erste gute Blüten. Doch der Zahlenschock steht noch aus: wenn immer mehr Klimabilanzen zutage fördern, welch massive Investitionen nötig sind, um auch die sozialen Infrastrukturen für die Zukunft einzurichten. Dafür einzutreten, dass alle demokratischen Kultur- und Bildungsinstitutionen an einem nachhaltigen Wandel beteiligt werden und sich selbst beteiligen, wird also eine der nächsten großen Aufgaben.

Dr. Arne Ackermann ist Direktor der Münchner Stadtbibliothek.
Katrin Schuster ist Sprecherin der Kommission Nachhaltigkeit der Münchner Stadtbibliothek
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Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift „Politik und Kultur“, Ausgabe 7-8/23 (PDF-Download).

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