Sten Nadolny – die Entdeckung eines Autors: Vorlass kommt in die Monacensia

Der Vorlass von Sten Nadolny ist in der Monacensia angekommen. Was das Besondere daran ist, das erzählt Euch Frank Schmitter, bis Dezember 2020 Leiter des Literaturarchivs. Archivarbeit kann so lebendig und spannend sein: „Man wird Zeuge des schöpferischen Akts mit all seinen Hoffnungen, Krisen und Kämpfen.“

Sten Nadolny als junger Mann mit seinen Eltern, dem Schriftsteller-Ehepaar Burkhard und Isabella Nadolny.
Sten Nadolny als junger Mann mit seinen Eltern, dem Schriftsteller-Ehepaar Burkhard und Isabella Nadolny.

Sten Nadolny – literarischer Werdegang

Mit „Die Entdeckung der Langsamkeit“, einem Roman über den Polarforscher John Franklin, schrieb Sten Nadolny 1983 einen Weltbestseller. Sten Nadolny, geb. 1942, bezeichnete es als sein „Lebensbuch“ – ein überragender Erfolg gleichermaßen bei der Kritik wie beim Publikum, der einem Autor in aller Regel nur einmal beschieden ist. Seine folgenden Romane „Selim oder die Gabe der Rede“, „Ein Gott der Frechheit“ und „Das Glück des Zauberers“ bestätigten Nadolnys große Begabung und seine Bereitschaft, mit jedem neuen Buch neues erzählerisches Terrain zu betreten. Er erhielt u.a. den Ingeborg-Bachmann-, den Hans-Fallada- und den Ernst-Hoferichter-Preis.

Als einziges Kind des Schriftsteller-Ehepaars Burkhard und Isabella Nadolny („Ein Baum wächst übers Dach“) wuchs Sten Nadolny in Chieming am Chiemsee auf. Nachdem bereits im vergangenen Jahr die Nachlässe der Eltern die Bestände des Literaturarchivs bereicherten, kam nun Ende Oktober 2020 der Vorlass des berühmten Sohns aus Berlin, wo Sten Nadolny seit vielen Jahren lebt.  

Der Vorlass Sten Nadolnys kommt an.
Der Vorlass Sten Nadolnys kommt an.

Das Besondere am Vorlass von Sten Nadolny

Dieser Vorlass ist aus mehreren Gründen äußerst bemerkenswert. Zunächst einmal bedeutet es für die Monacensia natürlich einen Glücksfall, einen Autor diesen Ranges in unseren Archiv-Reihen zu wissen – aufgewachsen und verwurzelt in Bayern, mit großem literarischen Renommee besiegelt und durch die Übersetzungen seiner Werke weltweit bekannt. Einzigartig ist die praktisch perfekte Vorsortierung des Vorlasses

Sten Nadolny, „von Haus aus“ promovierter Historiker und passionierter Nutzer von Bibliotheken und Archiven, hat der Monacensia nicht einfach eine Unzahl von Umzugskartons vor die Türen wuchten lassen – jeder einzelne Karton, jede Jurismappe, jeder Hänge-, jeder Leitzordner ist erfasst, beschriftet und in „Findelisten“ zusammengestellt. Das kann freilich nicht eins zu eins bei der Katalogisierung in unseren Online-Katalog übertragen werden, aber die Ausgangsbasis ist optimal. Wenn wir in der Monacensia einen Orden für die bestmögliche Strukturierung und Beschreibung eines Vorlasses vergeben würden – Sten Nadolny hätte ihn verdient.

Sten Nadolny. Scan einer Seite aus der Findeliste.
Sten Nadolny. Scan einer Seite aus der Findeliste.

Das wirklich Herausragende aber liegt in den Materialien selbst. Der Vorlass ist von nachgerade enzyklopädischer Geschlossenheit. Die weitverzweigte Familiengeschichte der Nadolnys wird bis ins 14. Jahrhundert in einem „Pracht-Stammbaum“ dargestellt. Die innerfamiliäre Korrespondenz zwischen Sten, seinen Eltern und Großeltern umfasst über sechshundert Briefe, Fotoalben und Familienbilder. Ein gewisses Kuriosum ist der erste Schreibtisch, eine kleine Kommode, auf die der kleine Sten einen energischen Anspruch erhebt, wenn auch in unsicherer Rechtschreibung formuliert: 

„Bitte nichtz hinlegen. Ferstanden!“ 

So sichern sich zukünftige Schriftsteller eben frühzeitig ihr Terrain!

Natürlich findet sich jeder Roman umfassend dokumentiert in seinen Entstehungsstufen, inklusive der Recherchen. Auf ihre Entdeckung warten unveröffentlichte kleinere Manuskripte und verschiedene Drehbücher. Sten Nadolny hat sie in seiner Zeit als Aufnahmeleiter bei Film und Fernsehen geschrieben. Verlagskorrespondenzen, Planungen von Lesereisen, Kalender, die Unterlagen als Poetik-Dozent an der Universität Göttingen und die Korrespondenzen mit Presse, Rundfunk und Fernsehen gewähren einen realistischen Einblick in den Alltag eines Berufsschriftstellers.

Die „Seele“ des Vorlasses liegt aber zweifelsohne in den Abschriften der über 2.500 Tonbanddateien, Sten Nadolnys literarischem Tagebuch. Ihren Inhalt beschreibt er selbst mit:

Selbstbetrachtungen, Selbstermahnungen, Überlegungen zu laufenden Arbeiten, … Erlebnisse, Erledigungen, Gedanken über Personen (Freunde und Nichtfreunde), Wutausbrüche, Verzweiflungen.

Voilà, da ist in Reinkultur, was einen Vor- bzw. Nachlass so einzigartig macht: Man kann gleichsam einen Blick werfen in das Innenleben einer Schriftstellerin, eines Schriftstellers, in jene Rohmasse, aus der ihre Literatur entstanden ist. Man wird Zeuge des schöpferischen Akts mit all seinen Hoffnungen, Krisen und Kämpfen. 

Bevor der Sten-Nadolny-Leser und Erforscher seines komplexen Werks aber einen Blick in die Materialien werfen kann, müssen sie erschlossen, katalogisiert und in archivgerechte Umschläge und Kartons gepackt werden. Es soll aber, das versprechen wir, keine zweite „Entdeckung der Langsamkeit“ werden …

Autor: Frank Schmitter, bis Dezember 2020 Leiter Literaturarchiv

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