Reading Challenge im Februar: Es war einmal …

Von Schneewittchen oder der nordischen Mythengestalt Thor haben wir vermutlich alle schon einmal gehört. Deshalb haben wir uns für den Februar in entlegenere Teile des Märchenwaldes begeben und fast vergessene Mythologien oder moderne Sageninterpretationen außerhalb des Grimm‘schen Kanons und des Marvel-Universums gelesen. Von Märchen, Mythen und Sagen, die den Geschmack unserer Kolleg*innen getroffen haben:

S. Fischer Verlag, 249 Seiten

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen – ein deutscher Stummfilm

Der Stoff ist unschlagbar: ein Bad in Blut, eine schöne Frau, Gold und ein Mord, der grausam gerächt wird. So klingt das Lied der Nibelungen, die Sage von Siegfried, dem Strahlenden, seinem düsteren Gegenspieler Hagen und der schönen Kriemhild. Aber ist das die wahre Geschichte dieser europäischen Helden, die in Island oder Norwegen beginnt, am Rhein entlang spielt, die Donau runter erzählt wird und schließlich im Schwarzen Meer mündet? Niemand weiß, wie es wirklich war, meint Hoppe und erfindet die Wahrheit: hell und schnell, poetisch und politisch, wie nicht mal Tarantino es kann.
Mit Witz, Ironie, aber auch mit spürbarer Leidenschaft widmet sich Felicitas Hoppe dem Nibelungenlied und präsentiert es in einem neuen, zeitgemäßen Romangewand. Der Autorin gelingt mit diesem Buch ein witziges und kluges Experiment. Eine Liebeserklärung ans literarische Zitat. Kreativ und bunt. Definitiv lesenswert!

Nadine/Stadtbibliothek Berg am Laim


aus dem Englischen von Birgit Niehaus, mit Illustrationen von
Julia Bereciartu, Carlsen Verlag, 96 Seiten

Vita Murrow: Power to the Princess – Märchen für mutige Mädchen

Märchen mal ganz anders erzählt! In diesem Buch warten die Prinzessinnen nicht sehnlichst auf ihren großen Retter – den Prinzen – sondern nehmen ihr Glück selbst in die Hand. 15 bekannte Märchen erwarten euch hier: Von Rapunzel, die ein Architekturbüro eröffnet, über die kleine Meerjungfrau, die gegen Meeresverschmutzung kämpft, bis zu Schneewittchen, das sich dem Schönheitswahn widersetzt. Meiner Meinung nach nicht nur ein Buch für mutige Mädchen, sondern für alle, denen Märchengeschichten zu eintönig und klischeehaft sind.

Isabella/Programm und Öffentlichkeitsarbeit

aus dem amerikanischen Englisch von Frauke Brodd, Eisele Verlag, 516 Seiten, auch in polnischer und griechischer Sprache sowie als eBook und als eAudio und als Hörbuch in englischer Sprache

Madeline Miller: Ich bin Circe

Die Göttin Circe ist ganz anders als ihre Geschwister. Ihre Stimme klingt wie die einer Sterblichen. Sie ist sehr temperamentvoll und neugierig, wie das Leben außerhalb der Götterwelt aussieht. Als sie von den Göttern schließlich auf die einsame Insel Aiaia verbannt wird, studiert sie die Magie der Pflanzen, zähmt wilde Löwen und Wölfe und wird eine mächtige Zauberin. Während ihres unsterblichen Lebens begegnet sie einer Reihe bekannter Figuren aus der griechischen Mythologie, wie zum Beispiel dem Erfinder Daidalos, dem Minotaurus im Labyrinth, dem Ungeheuer Scylla, dem griechischen Helden Odysseus, dessen Sohn Telemachos und vielen weiteren. Insgesamt eine interessante Geschichte über eine (zumindest mir bisher) unbekannte Göttin, die lernt, sich von der Götterwelt unabhängig zu machen und selbstständig ihr Leben zu gestalten.

Isabella/Programm und Öffentlichkeitsarbeit

Reclam Verlag, 619 Seiten

Elias Lönnrot: Kalevala

Schneewittchen oder auch Siegfried kennen ziemlich viele Menschen.
Aber wer sind der alte weise Väinämöinen, der kunstfertige Schmied, Ambossmeister Ilmarinen oder Lemminkäinen? Was hat es mit dem Sampo auf sich? (Spoiler: Ilmarinen hat das Fruchtbarkeit und Wohlstand versprechende Wunderding geschmiedet – es ging dabei um die Werbung einer Frau, genau genommen die Tochter von Louhi, der Herrscherin des Norlandes).
Erfahren kann man dies und noch viel mehr im Kalevala, dem finnischen Nationalepos.
Elias Lönnrot war jahrelang immer wieder auf aufwändigen Reisen zu den Dörfern Kareliens und Lapplands unterwegs, um die dort mündlich weitergegebenen Lieder und Verse aufzuschreiben. Wer so viel reist, bekommt viel zu hören:
1849 veröffentlichte er die letzte von insgesamt drei Fassungen, das „Neue Kalevala“. Sie besteht aus 22.795 Versen in 50 Gesängen.
Viele Künstler*innen verschiedenster Richtungen und Zeiten haben sich immer wieder von den Sagengestalten inspirieren lassen: von Aleksis Kivis bis zu J.R.R. Tolkien in der Literatur; bildende Künstler Finnlands; in der Musik vielleicht am bekanntesten Jean Sibelius mit seiner Sinfonie „Kullervo“ und der „Lemminkäinen-Suite“. Aber auch mehrere Alben der Metal-Band Amorphis hängen mit dem Kalevala zusammen. Es gibt sogar einen Donald-Duck-Comic, in dem Dagobert Duck auf die Suche nach dem Sampo geht.

Tipp: unbedingt auch mal in den Originaltext reinschauen – auch wenn man ihn (wie ich) nicht versteht, machen die Zeilen durch das Versmaß und die alliterative und vokalharmonische Sprache einfach Spaß. In der Bibliothek sind unterschiedliche Ausgaben vorhanden, auch eine in Originalsprache.

Heike/Stadtbibliothek im HP8

diverse Ausgaben, auch digital, diverse Materialien

Christa Wolf: Kassandra

Als ich Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ recht bald nach ihrem Erscheinen 1983 in die Hand nahm (jaa, so alt bin ich …), tat ich das zunächst mehr aus literaturwissenschaftlichem und gesellschaftlichem Interesse an diesem damals viel diskutierten Titel. Und ja, natürlich ist das Buch auch eine literarische Auseinandersetzung und Abrechnung der enttäuschten Intellektuellen mit „ihrem“ Staat, der DDR. Aber es ist viel mehr: eine kluge Studie über Macht und institutionalisierten Machtmissbrauch und darüber, was die Angst vor Bedrohung und Krieg mit den Menschen macht, und zwar auch mit denen, die die Fäden vermeintlich in der Hand halten und nur zu leicht zu Tätern werden. Aus Nachbarn und Mitmenschen werden Feinde, man muss sich für eine Seite entscheiden, was oft bedeutet, Täter oder Opfer zu werden. Und dann ist da noch die besondere Situation der Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft (und damit ist nicht nur das archaische Griechenland gemeint).

Aber ganz unabhängig davon zog mich Christa Wolfs neue, überraschende Sicht auf die trojanische Königstochter und Seherin Kassandra schon damals und jetzt wieder nach wenigen Seiten auch erzählerisch in seinen Bann. Die Erzählung ist kein blutleerer Thesenroman, sondern die psychologisch überzeugend und fesselnd erzählte Geschichte einer Frau, die ihre Suche nach Wahrheit und Aufrichtigkeit mit Verlassenheit und letztlich mit dem Leben bezahlt.

Es sind die vermutlich letzten Stunden im Leben der Kassandra, die zusammen mit anderen als „Beute“ in den Palast des siegreichen (und jämmerlichen) Agamemnon geschleppt wird. Während sie auf den sicheren Tod wartet, schweifen ihre Gedanken, lässt sie die entscheidenden Stationen ihres Lebens an sich vorüberziehen. Wie kommt es dazu, dass aus der Lieblingstochter des freundlichen, aber schwachen Königs Priamos eine Frau wird, die die Dinge immer klarer sieht und Zeugnis ablegen muss, auch wenn sie einen hohen Preis zahlt? Eine Frau, die schon bald erkennt, dass der Niedergang ihrer Heimatstadt nicht schicksalhaft ist, aber deren Warnungen bei den Mächtigen (Männern) auf taube Ohren stoßen.

Und es scheint, dass die Warnungen von Christa Wolfs Kassandra auch 3 000 Jahre nach dem Untergang des homerischen Troja nicht an Aktualität verloren haben …

Für alle, denen die Personen und Geschehnisse rund um den trojanischen Krieg nicht mehr so ganz präsent sind: Ok, kann man auch in der Wikipedia nachlesen, aber mehr Spaß macht der Klassiker „Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab oder, Das große Sagenbuch des klassischen Altertums“ von Michael Köhlmeier. Seine flotte, lässige Nacherzählung der alten Mythen können Sie lesen oder als Hörbuch, gesprochen vom Autor selbst, hören.

Stefanie/Stadtbibliothek Laim

Bonus-Tipp für Fährtensucher*innen:

Dial Press Trade, 320 Seiten

Nicholas Christopher: The Bestiary

Kennen Sie Alraunen? Talos? Hydra? Oder Peryton?
Diese mythische Wesen kommen alle am Rande im vorgestellten Buch vor – doch wirklich nur am Rande. Bevor ich dazu Näheres erzähle, beginne ich nämlich mit einem Geständnis: Ich lese keine Märchenbücher, keine Sagen oder Mythen. Und auch keine Fantasyromane. Und ich denke, so geht es einigen von Ihnen. Was also tun, wenn man sich trotzdem der Reading Challenge zu diesem Thema stellen möchte? Für mich gibt es Romane, die Mythen und Sagen streifen, ohne in die klassische Schublade dazu zu passen. Dazu zählt für mich auch „Das verlorene Bestiarium“ von Nicholas Christopher, das ich vor etlichen Jahren gelesen habe und das mir jetzt zum Thema wieder eingefallen ist. Darin geht es um Xeno (xenium, lat. für das Geschenk oder vielleicht ist der Junge doch – wie der Vater meint – benannt nach der Reklame für Xenos Augentropfen?), der im New York der 60er Jahre ohne Mutter und auch ohne Vater (denn der fährt fast das ganze Jahr zur See) aufwächst. Zum Glück gibt es da eine Großmutter, die ihm schon früh von Fabelwesen erzählt und damit Xenos Interesse weckt. Ein Lehrer bringt Xeno später auf das legendäre „Karawanenbuch“, ein sogenanntes Bestiarium, das seit dem Mittelalter als verschollen gilt und in dem alle Tiere verzeichnet sind, die auf der Arche Noah keinen Platz mehr fanden. Natürlich ist Xeno zu diesem Zeitpunkt schon leidenschaftlicher Mythensammler und macht sich deshalb auch auf die Suche nach diesem „Karawanenbuch“. Diese Suche führt ihn quer durch die Welt und Weltgeschichte. Es ist eine Coming-of-Age-Erzählung, eine Familiengeschichte und auch eine leise Liebesgeschichte, bei dem phantastische Wesen immer wieder um die Ecke spähen.
Der Titel ist nicht mehr in der Bibliothek verfügbar, aber in deutscher Sprache antiquarisch und in englischer Sprache im Buchhandel erhältlich.

Birgit/ Stadtbibliothek Neuhausen

Weitere Buchtipps zum Thema in englischer Sprache findet ihr hier auf Overdrive.


aufgeschlagenes Buch

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