Die Kämpfe um autonome Räume und die Bedeutung von Archiven: Was bleibt? | #PopPunkPolitik

Gibt es Parallelen zwischen der Herausbildung autonomer Räume und der Bedeutung von Archiven? Wer archiviert überhaupt die Kämpfe um autonome Räume mit politischer, sozialer oder kultureller Zielsetzung? Welche Rolle kommt darin den Freien Archiven zu und was brauchen sie? Das beleuchtet Jürgen Bacia vom archiv für alternatives Schrifttum (afas) in seinem Beitrag zur Vernetzungsaktion „Autonome Räume“ #PopPunkPolitik* – eine sehr wertvolle und ergänzende Perspektive zum Artikel des AddF.

Die Kämpfe um autonome Räume und die Bedeutung von Archiven: Was bleibt? Rauch-Haus-Kollektiv, 1977, Abb. afa. #PopPunkPolitik
Die Kämpfe um autonome Räume und die Bedeutung von Archiven: Was bleibt? Rauch-Haus-Kollektiv, 1977, Abb. afas. #PopPunkPolitik

Autonome Räume und wer sie füllt

Ein autonomer Raum ist zunächst einmal eine inhaltslose Hülle, die keinem bestimmten Zweck dient. Mit Leben gefüllt wird er von Personen oder Gruppen, die bestimmte Ziele oder Interessen verfolgen. Autonome Räume können zur Befriedigung individueller Bedürfnisse genauso wie zur Realisierung politischer, sozialer oder kultureller Ziele genutzt werden. 

Das heißt, autonome Räume können:

  • Keimzellen von Bewegungen sein oder Orte theoretischer Diskussionen, aber auch Räume zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung; 
  • Schutzfunktion haben für von Verfolgung bedrohte Personen oder für vor Gewalt geflohene Frauen; 
  • aber auch Freiräume sein für kulturelle Aktivitäten. 

Autonome Räume müssen nicht unbedingt vier Wände und ein Dach besitzen, sie können sich auch in Form von unabhängigen Publikationen und Pamphleten manifestieren. 

Die Bewegungen und Milieus, um die es hier geht, sind alle mehr oder weniger auf dem Humus der 1968er Bewegung entstanden, der es um Auf- und Ausbrüche aus der spießig-konservativen Mehrheitsgesellschaft der Nachkriegszeit ging. Natürlich stand Ende der 1960er Jahre dringend ein Modernisierungsschub dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft an, doch die verschiedenen Alternativ- und Oppositionsbewegungen verfolgten mehr: Sie wollten Freiräume schaffen für andere Lebensformen und neue Ästhetiken, im Großen sogar für eine andere und gerechtere Welt. Emanzipation und Selbstverwirklichung waren wichtige Schlagworte. Ein erster Schritt dahin bestand in der Schaffung autonomer Räume.

Im universitären linken Milieu hinterfragte man „die bürgerliche Wissenschaft“, war aber gleichzeitig daran interessiert, sich an außeruniversitären Aktivitäten und Kämpfen zu beteiligen. Es gab Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen und Mietsteigerungen, Stadtteilläden wurden gegründet, und seit den frühen 1970er Jahren entstanden immer mehr selbstverwaltete Jugendzentren. Doch auch diese Freiräume reichten vielen nicht aus. 

Hausbesetzung und Jugendwohnkollektiv: Georg von Rauch-Haus – ein Beispiel

Auf Initiative des Jugendzentrums am Kreuzberger Mariannenplatz wurde im Dezember 1971 das ehemalige Schwesternwohnheim des Bethanien-Krankenhauses besetzt. Rund 50 JungarbeiterInnen, Lehrlinge und Schüler, aber auch ein paar Treber (= obdachlose Jugendliche) zogen dort ein und bildeten eines der ersten selbstorganisierten Jugendwohnkollektive. Die Politrockband Ton Steine Scherben war quasi die Hausband des in Georg von Rauch-Haus umbenannten Gebäudes. Das Haus besteht bis heute. Anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Georg von Rauch-Hauses hat das afas drei Dokumentationen des Hauses als Volltexte ins Netz gestellt.

Rauch-Haus-Kollektiv: Friede den Hütten, Krieg den Palästen. 6 Jahre Selbstorganisation. Berlin 1977. Abb. afa, #PopPunkPolitik – Bedeutung von Archiven und autonome Räume
Rauch-Haus-Kollektiv: Friede den Hütten, Krieg den Palästen. 6 Jahre Selbstorganisation. Berlin 1977. Abb. afas, #PopPunkPolitik – Bedeutung von Archiven und autonome Räume

Milieu für mehr Autonomie, Selbstbestimmung und Emanzipation

Seit den 1970er Jahren sprossen die autonomen Räume nur so aus dem Boden: 

  • Alternativis und Spontis 
  • Lesben und Schwule 
  • Umwelt- und Frauengruppen 
  • Hausbesetzer- und Raus-aufs-Land-Kollektive 
  • Soli- und Selbsthilfegruppen 
  • selbstverwaltete Betriebe und Freie Kulturinitiativen 
  • und natürlich das bunte Spektrum politischer Gruppen. 

Alle zusammen bildeten das Milieu, in dem Autonomie, Selbstbestimmung und Emanzipation verwirklicht werden sollten.

Wer alternativ leben und arbeiten wollte, tat das auch kund. Also entstanden zahllose kleine Zeitungen und Broschüren, die im Selbstverlag veröffentlicht wurden. Auch dafür einige Beispiele:

  • 1978 veröffentlichte das Arbeiterjugendzentrum Bielefeld eine Dokumentation unter dem Titel „5 Jahre Selbstverwaltung“;
Arbeiterjugendzentrum Bielefeld: 5 Jahre Selbstverwaltung. Bielefeld 1978. Abb. afa für Bedeutung von Archiven und autonomen Räumen #PopPunkPolitik
Arbeiterjugendzentrum Bielefeld: 5 Jahre Selbstverwaltung. Bielefeld 1978. Abb. afas für Bedeutung von Archiven und autonomen Räumen #PopPunkPolitik
  • 1979 berichtete das Bürgerzentrum Alte Feuerwache in Köln von seinem anhaltenden Kampf mit der Bürokratie;
Bürgerzentrum Alte Feuerwache: Der anhaltende Kampf des BAF mit der Bürokratie. Köln 1979. Abb. afa für Bedeutung von Archiven #PopPunkPoliti
Bürgerzentrum Alte Feuerwache: Der anhaltende Kampf des BAF mit der Bürokratie. Köln 1979. Abb. afas für Bedeutung von Archiven #PopPunkPolitik
  • 1987 erschien in Mülheim die Broschüre „10 Jahre autonomes Frauenzentrum“;
10 Jahre Autonomes Frauenzentrum. Mülheim 1987. Abb. afa für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik
10 Jahre Autonomes Frauenzentrum. Mülheim 1987. Abb. afas für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik

In der Frauenszene tauchten Blätter mit so schönen Namen wie „mamas pfirsiche“ oder „Bloody Mary“, „Ariadne“ oder „Schlangenbrut“ auf; 

  • In Dutzenden von Städten entstanden alternative Stattblätter und Stattzeitungen. Sie hießen „Ruhrvolksblatt“ oder „Elephantenklo“, „Klüngelkerl“ oder „Klenkes“, „Pflasterstrand“ oder „Knipperdolling“;
  • Menschen mit Behinderung schlossen sich zusammen und gaben Zeitungen wie „Randschau“ oder „Krüppelzeitung“ heraus;
  • In der links-autonomen Szene kursierten Blätter wie „radikal“, „Info Berliner undogmatischer Gruppen“ oder „Wir wollen alles“, und selbst die Hausbesetzer-Szene fand Zeit zur Herausgabe eigener Zeitschriften
BesetzerInnen-Zeitung. Berlin 1990. Abb. afa für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik
BesetzerInnen-Zeitung. Berlin 1990. Abb. afas für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik
  • Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR entstanden gleich nach dem Fall der Mauer an allen Ecken und Enden autonome Räume. Am bekanntesten wohl der „telegraph“, der in der DDR illegal erscheinen musste und ab 1990 zu einer legalen und vielgelesenen Publikation wurde
telegraph. Berlin 1990. Abb. afa für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #popPunkPolitik
telegraph. Berlin 1990. Abb. afas für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #popPunkPolitik
  • Neben all dieser politischen und sozialen Arbeit kam aber auch die Kultur nicht zu kurz. In besetzten Häusern spielten Punk-Bands, in soziokulturellen Zentren traten Freie Theatergruppen und Liedermacher(innen) auf. Auch Ausstellungen und Lesungen fanden dort statt
Viertausend. Düsseldorf 1986. Foto: afa. Bedeutung von Archiven. #PopPunkPolitik
Viertausend. Düsseldorf 1986. Foto: afas. Bedeutung von Archiven. #PopPunkPolitik
  • Gelegentlich gelang es sogar Freien Literaturprojekten, eigene Zeitungen herauszugeben
Jacobs Welten. Kerpen 1988. Abb. afa für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik
Jacobs Welten. Kerpen 1988. Abb. afas für Bedeutung von Archiven und autonome Räume #PopPunkPolitik

Was bleibt? Über die Bedeutung von Archiven

Bei allen bisher geschilderten und abgebildeten Materialien handelt es sich um Graue Literatur. Eine ganz andere und für Archive noch wichtigere Dokumentengruppe bildet das eigentliche Archivgut. Dazu zählen zum Beispiel 

  • interne Rundbriefe von Projekten; 
  • Protokolle von Mitgliederversammlungen oder Vorstandssitzungen; 
  • Korrespondenzen, Handakten, Textentwürfe;
  • Fotos, Plakate, Flugblätter, Handschriften.

Gerade diese Unterlagen stellen eine wichtige Ergänzung zu den gedruckten Materialien dar, weil sie einen Blick hinter die Kulissen und in die Werkstatt der Gruppen und beteiligten Personen ermöglichen. 

„Ich bin ein großer Baum“ von Klaus dem Geiger – ein Beispiel 

Als Beispiel für Archivgut dient an dieser Stelle ein handschriftlicher Liedtext von Klaus dem Geiger mit dem Titel „Ich bin ein großer Baum“. Daran kann man sehr schön den Entstehungs- bzw. Veränderungsprozess eines Textes studieren. Inhaltlich ging es um den Kampf gegen die Abholzung alter Bäume am Kölner Kaiser Wilhelm Ring im Jahr 1985. Obwohl eine Initiative 25.000 Unterschriften gegen die Abholzung der Bäume gesammelt hatte, wurden die Bäume gefällt, um Platz für ein Parkhaus zu schaffen.

Klaus der Geiger: Ich bin ein großer Baum. Autograph 1985. Abb. afa. #PopPunkPolitik
Klaus der Geiger: Ich bin ein großer Baum. Autograph 1985. Abb. afas. #PopPunkPolitik

Warum sind Freie Archive wie das afas wichtig?

Im Lesesaal des archivs für alternatives schrifttum (afas) hängt ein Transparent mit dem Spruch 

Werft Eure Geschichte nicht weg. 

Einen nicht unerheblichen Teil seiner Zeit verbringt das afas damit, den Spuren – und damit den Dokumenten – all der soeben geschilderten Gruppen und Initiativen nachzugehen. Denn Bewegungen haben, wie ihr Name schon sagt, die Eigenschaft, sich zu bewegen, also sich fortzuentwickeln – und nicht selten, sich aufzulösen. Fast alle der oben abgebildeten Zeitschriften haben längst ihr Erscheinen eingestellt, die genannten Broschüren sind vergriffen. Dadurch besteht die Gefahr, dass auch das Wissen, das sich dort angesammelt hat, aus dem kollektiven Gedächtnis nicht nur der Freien Szene, sondern der Gesellschaft insgesamt verschwindet.

Es braucht also Archive, die dafür sorgen, dass die Materialien all der Gruppen und Initiativen, die in den letzten 50 Jahren autonome Räume und Gegenentwürfe zur Mehrheitsgesellschaft geschaffen und ausprobiert haben, dauerhaft gesichert und zugänglich gemacht werden. 

Auf die traditionellen Archive ist diesbezüglich kein Verlass, weil sie 

  • häufig schon durch ihre Kernaufgaben vollständig ausgelastet sind; 
  • keinen Zugang zu oder kein Interesse an den autonomen Räumen haben; 
  • von den alternativen und autonomen Milieus nicht akzeptiert werden: Gruppen, die sich in ihrem Kampf um autonome Räume jahrelang mit Stadtverwaltungen oder Kulturbürokratien herumgeschlagen haben, denken oft gar nicht daran, die Materialien ihrer gesellschaftskritischen Aktivitäten einem traditionellen Archiv zu überlassen.

Glücklicherweise hat sich im Laufe der letzten vierzig Jahre eine Freie Archivlandschaft herausgebildet, die dafür sorgt, dass 

die Geschichte der linken und alternativen Bewegungen nicht zu einer Geschichte der verschollenen Dokumente wird. 

(so die Formulierung des afas)

Am besten funktioniert das bei den Frauen- und Lesbenarchive. Sie haben sich schon 1994 zum ida-Dachverband der Frauen- und Lesbenarchive zusammengeschlossen. Seit 2003 gibt es den Workshop der Archive von unten, in dem sich informell Leute aus allen Archivsparten zu jährlichen Fachsimpeleien treffen. Die Protokolle aller Workshops sind auf „Bewegungsarchive“ nachlesbar.

Das afas erarbeitet und betreut seit vielen Jahren ein Verzeichnis Freier Archive, das auf seiner Homepage aufrufbar ist.

Das 1985 gegründete afas nimmt eine Sonderrolle in der Freien Archivszene ein, weil es 

  1. Hunderte von Sammlungen von Gruppen und Einzelpersonen übernommen hat, 
  2. zum letzten Anker für ganze Archive geworden ist, die aufgeben mussten.

Mit einem Gesamtbestand im Umfang von rund 2.500 Regalmetern ist das afas zum bei weitem größten Freien Archiv in Deutschland angewachsen. Details unter http://afas-archiv.de/bestande/

Den meisten Freien Archiven geht es wie den Gruppen in den autonomen Räumen: Sie kämpfen ständig um öffentliche Unterstützung (die berühmte „Staatsknete), halten sich jahrzehntelang mit Projektmitteln über Wasser, überbrücken Trockenzeiten mit unbezahlter Arbeit. Eine Parole in der Freien (Archiv-)Szene lautet: 

Unsere Geschichte gehört uns!

Damit das so bleibt, müssen die autonomen Räume der Freien Archive deutlich besser abgesichert werden.

Autor: Dr. Jürgen Bacia

Dr. Jürgen Bacia. Foto: Privat.
Dr. Jürgen Bacia. Foto: Privat.

Dr. Jürgen Bacia ist Politologe und konnte sich nach seiner Arbeit im APO-Archiv der Freien Universität Berlin ein Leben ohne Archive nicht mehr vorstellen. 1985 war er Mitbegründer des archivs für alternatives schrifttum (afas) in Duisburg und gehört bis heute zum Leitungsteam des Archivs. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen. Außerdem ist er seit langem an der Vernetzung der Freien Archive beteiligt.

https://www.archive.nrw.de/sites/default/files/media/files/Archivar_2_2017.pdf

Adresse afas:

archiv für alternatives schrifttum (afas)
Münzstr. 37-43
47051 Duisburg

Tel.: 0203 / 93 55 43 00
www.afas-archiv.de

Lesetipps zur Bedeutung von Archiven:

Zwei Perspektiven aus Archiv-Sicht gibt es nun auf das Thema „Autonome Räume“ – was sagt ihr dazu? Diskutiert mit!


#PopPunkPolitik Vol. 2
#PopPunkPolitik Vol. 2

Die Vernetzungsaktion ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!


Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München

Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei

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