Reading Challenge im Juni
Transit bedeutet Übergang: von einem Ort zum anderen, einer Daseinsform, einer Mode zur anderen. Manche bei uns in der Bibliothek denken jetzt an Umzüge. Viel zu viele Menschen denken an Fluchtwege, andere an Geschlechteridentitäten. Welche Bücher euch dazu eingefallen sind, seht ihr hier.
(Ein Klick aufs jeweilige Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)
Françoise Frenkel: Nichts, um sein Haupt zu betten
Zum Thema Transit fiel mir auf Anhieb der packende Fluchtbericht „Nichts, um sein Haupt zu betten“ der polnisch-jüdischen Buchhändlerin Françoise Frenkel ein. Sie führte die französische Buchhandlung „La Maison du livre“ in Berlin, flüchtete vor den Nazis nach Frankreich, fand dort in Nizza Unterschlupf bei einem wunderbaren Ehepaar, mit deren selbstloser Hilfe ihr 1943 die Flucht in die Schweiz gelang. Dort, am Ufer des Vierwaldstädter Sees, schrieb sie ihre berührende Geschichte auf, die 1945 in einem kleinen Genfer Verlag erschien. Dann verlieren sich die Spuren von Françoise Frenkel.
Isabel/ Stadtbibliothek Hadern
Durch einen zufälligen Flohmarktfund wieder entdeckt, wird das Buch siebzig Jahre später bei Gallimard mit einem Vorwort von Patrick Modiano neu aufgelegt und erscheint 2016 im Hanser Verlag auch erstmals in deutscher Übersetzung.
In Anbetracht des leider wieder aufflammenden Antisemitismus möchte ich dieses Zeugnis einer Zeit, die hoffentlich niemals wiederkehrt, die wir aber auch niemals vergessen sollten, allen ans Herz legen.
Amor Towles: Ein Gentleman in Moskau
Die Situation des Protagonisten kann man wirklich nicht als Übergang bezeichnen, doch beobachtet er über einen sehr langen Zeitraum das Kommen und Gehen, den zeitweiligen Aufenthalt, den Transit vieler internationaler Gäste des Hotel Metropol in Moskau. Graf Alexander Rostov ist 1922 zu lebenslangem Hausarrest im Luxushotel verurteilt worden. Dort wird er Zeuge der ständigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die sich auf alle Bewohner*innen und Bediensteten niederschlagen. Dass ein Aristokrat wie er in der misslichen und wenig komfortablen Lage sein Lebensglück finden würde, ist eine Art seines persönlichen Transits, Leser*innen können noch weitere entdecken.
Corinna/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Towles‘ New York Times Bestseller ist ein kluger und witziger Roman, dem man zunächst vielleicht die Tiefe absprechen mag. Sehr bald wird aber klar, mit welch differenziertem und großzügigem Blick der Autor seine Figuren zeichnet, welche ungewöhnlichen Mittel er verwendet, um Russlands Geschichte zu beleuchten und wie unaufdringlich es ihm gelingt, seine Leser*innen sehr glücklich zu machen.
Juli Zeh: Über Menschen
Dora hat genug von Berlin und vor allem von Robert, ihrem Freund oder doch schon Exfreund? Und so schlägt sie zu, als sie in einem kleinen Dorf in Brandenburg ein altes Haus zum Kauf findet. Auch wenn ihr Vater sie noch warnt vor dem brauen Sumpf, in den sie sich begibt, ist sie doch zunächst schockiert, als sich ihr direkter Nachbar mit „Ich bin hier der Dorf-Nazi“ vorstellt. Wir sind dabei, wenn Dora ihr Haus bezieht, im Homeoffice arbeitet, neue Bekanntschaften macht, mit dem Bus zum Einkaufen tuckert, wenn Dora wie wild gegen die Wildnis auf ihrem Grundstück ankämpft und ein kleines Mädchen namens Franzi quasi über Nacht in ihr Leben tritt. Es sind die kleinen Dinge, die wir miterleben und doch zeigt sich darin das große Ganze.
Birgit/ Stadtbibliothek Neuhausen
Warum ich Juli Zehs neues Buch „Über Menschen“ so sehr mochte?
Vielleicht weil mich der feine Witz immer wieder positiv überrascht hat. Weil Dora versucht Stellung zu nehmen und schnell merkt, dass sie daran scheitert. Weil es auch für den/die Leser*in nicht immer leicht ist, diese Figuren zu begreifen oder gar in Schubladen zu packen. Weil Dora im Übergang zwischen der Großstadt und dem Land, zwischen ihrem Schwarz-Weiß-Denken, ihrem alten und ihrem neuen Leben steckt.
„Über Menschen“ ist leicht zu lesen, auch wenn es kein leichtes Buch ist, es lässt den/die Leser*in mit sehr vielen ambivalenten Gedanken zurück. Aber die Geschichte hat mich lange beschäftigt und ich kann gut nachvollziehen, warum sie viele Leser*innen so polarisiert.
E.T.A. Hoffmann: Der goldene Topf
Das Kunstmärchen „Der goldene Topf“ (1814) von E.T.A. Hoffmann gilt als eines der bedeutendsten Werke der deutschen Romantik. Dieses phantastische „Märchen aus einer neuen Zeit“, so der Untertitel, erzählt in zwölf Vigilien (Vigil = Nachtwache bzw. Nachtgebet) die Geschichte des verträumten und tollpatschigen Studenten Anselmus. Dieser verliebt sich in das bezaubernde Schlänglein Serpentina und gelangt durch sie in eine fantastische Welt, verzichtet auf eine bürgerliche Karriere und verschwindet schließlich mit Serpentina im sagenhaften Reich Atlantis. Der fließende Übergang von Alltags- und Fantasiewelt ist eines der Hauptmerkmale von Hoffmanns Werken und macht ihn zum Wegbereiter der Fantasyliteratur. Der „Goldene Topf“ zählt neben dem „Sandmann“ zu meinen Lieblingsnovellen. Es lohnt sich auf alle Fälle, E.T.A. Hoffmann – den poetischen Wanderer zwischen den Welten – wieder zu entdecken.
Josef/ Stadtbibliothek Hadern
Dave Eggers: Der Circle
Das Thema finde ich für Transit passend, zwar eher im weitesten Sinne, aber dennoch geht es in dem Roman um die Frage, wie wir zukünftig hinsichtlich der Digitalisierung leben wollen.
Isabella/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit
FAANG – Facebook, Amazon, Apple, Netflix und Google: Das sind die aktuell mächtigsten Technologiekonzerne weltweit. An den wenigsten kommt man heutzutage noch vorbei. Doch wie sehr möchte man sich der Digitalisierung hingeben? Wie verändert sich unser zukünftiges Leben hinsichtlich Digitaler Kommunikation, Privatsphäre und Transparenz?
Darum geht es in der Dystopie „Der Circle“ von Dave Eggers: Mae Holland ist 24 Jahre alt und hat einen Job ergattert in der tollsten Firma der Welt: Circle – ein Technologiekonzern aus Kalifornien, der seine Kund*innen mit einer einzigen Internetidentität ausstattet, über die alles abgewickelt werden kann. Mit dem Wegfall der Anonymität im Netz sollen die Kund*innen vollständig transparent werden – das Ziel: Kein Hass mehr im Internet, keine Kriminalität mehr auf der Welt. Doch wie viel möchten wir dem Internet über unser Privatleben wirklich preisgeben?
Jeffrey Eugenides: Middlesex
Ein Wahnsinnsbuch, unmöglich es hier in der Reading Challenge adäquat zu beschreiben! Middlesex ist ein Entwicklungsroman, ein Familienepos, eine Auswanderergeschichte, ein biologisches und zeitgeschichtliches Lehrstück und eine minutiöse Dokumentation der Leiden von Cal(liope), der zweigeschlechtlichen Protagonist*in, die auszuhalten hat, was Generationen zuvor ihre/seine Gene hat mutieren lassen. Wenn Cal in der Gegenwart seine Lebensgeschichte schreibt, lässt Autor Eugenides offen, was auf sex (biologische Faktoren) und was auf gender (gesellschaftliche Einflüsse) zurückzuführen ist. Dabei liest es sich nicht immer schmerzfrei, was psychisch und physisch zu tragen ist, wenn man als Hermaphrodit nicht der Norm entspricht. Mehr Transit als in diesem Buch geht nicht – denn auch als Leser*in wird man verändert. Für diesen Titel hat Jeffrey Eugenides den Pulitzer Prize erhalten, er ist laut Wikipedia auf der BBC-Liste der besten 20 Romane zwischen 2000 bis 2014 – nur falls meine Empfehlung hier nicht ausreicht.
Corinna/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Kristin Hannah: The Four Winds
Kristin Hannahs „The Four Winds“ ist frisch erschienen und wird hoffentlich so bald wie möglich auch auf Deutsch verfügbar sein. Der Roman spielt in den USA der 1930er Jahre im sogenannten „Dust Bowl“: Wo vor der Weltwirtschaftskrise noch die Landwirtschaft florierte, findet die schüchterne Protagonistin Elsa unerwartet das Glück auf der Farm ihrer italienisch-stämmigen Schwiegereltern, die sich in Texas eine Existenz aufgebaut haben. Als durch den bodenzehrenden Ackerbau und die große Dürre die Ökologie des Gebiets zusammenbricht, flüchtet sie mit ihren Kindern nach Kalifornien – wo sie und alle anderen Geflüchteten aus dem Katastrophengebiet aufs Übelste angefeindet werden. Von Großgrundbesitzern ausgebeutet lernt sie schließlich einen engagierten Sozialisten kennen und muss sich entscheiden, welcher Weg für ihre Familie der bessere ist, und was sie bereit ist, zu opfern.
Melanie / Stadtbibliothek Laim
Beforeigners – Sechsteilige Fernsehserie aus Norwegen
Seltsame Dinge geschehen im Hafen von Oslo: aus dem Meer steigen Menschen auf, die einer anderen Zeit entstammen, in Sprache, Habitus und Kleidung fremd wirken. Sie stammen aus der Steinzeit, der Wikingerzeit und dem 19. Jahrhundert und bringen die norwegische Gesellschaft ganz schön durcheinander. Gezeigt wird das alles am Beispiel eines Kriminalfalls, der von einem norwegisch/zeitmigrantischen Kommissar*innen-Duo gelöst werden soll. Eine schräge, ungewöhnliche und ironische Geschichte und in meinem ganz persönlichen Serien-Ranking ganz oben! Noch zu sehen in der ARD-Mediathek, eine zweite Staffel ist geplant.
Waltraud/ Stadtbibliothek Am Gasteig
Beforeigners fand ich ja total genial.. wohin wollen sich denn da rechte Kräfte wenden, wenn die Leute aus der Vergengenheit kommen… das geht ja nicht… hoffe, es gibt mehr Teile davon…
Die Heldin ist super und im Team mit dem Polizisten super gemacht.