Stan Lee: Marktschreier, Maschinist, Maskottchen

Über Hollywood herrschen heute Figuren, die er ab 1961 schuf: Marvel-Autor Stan Lee stirbt mit 95. Ein Nachruf von Stefan Mesch

Nur die ganz Ungeliebten bleiben heute noch tot: flaue Nervensägen, Langweiler, Spaßbremsen. Jene Figuren also, die als Testballon keine Form fanden, nie so recht abhoben.

Zwar lassen viele Filmreihen, Serien und Comics Neben- und Hauptrollen immer raffinierter, jäher, mitleidsloser sterben. Doch wer gehasst oder geliebt wird, Diskussionen auslöst, auffällt, kommt immer schneller neu zurück.

Han Solo, Albus Dumbledore, Gwen Stacy spielen, seit sie starben, nur immer größere, originellere Parts – in Spin-Offs, Prequels, Neustarts. Wer einmal glänzte, faszinierte, wird endlos recycelt, umbesetzt, neu aufgestellt. Auch Jahrzehnte später.

Ständige Wiedergeburten

Das ist die Lebensleistung von Stan Lee: Dass 2018 Sätze wie „Spider-Man ist nichts für mich“, „Daredevil hat kein Potenzial“ absurd pauschal erscheinen und ich als Kritiker – obwohl mich bisher jeder Film und jeder Comic, den ich testete, enttäuschte – nie sagen würde, Lee-Figuren wie Hulk oder die Fantastic Four seien nicht mein Fall.

Denn jedes Mal, wenn alte Stoffe neu aufbereitet werden, steht plötzlich wieder alles offen: Jeder Comic-Reboot, jede nächste Serie oder Kinoreihe, jedes hastige Jugendbuch und jeder Lego-Kinderfilm will angestaubten Figuren neuen Tiefgang, andere Zugänglichkeiten schaffen: Heldinnen und Helden sind wandel- und verhandelbar wie nie. Wer gerade langweilt oder schwächelt, erscheint in zwei, drei Jahren als Remix, justierte Version, in anderem Rahmen, neuem Ton, oft für ganz andere Zielgruppen.

Stan Lee lebte seit 1980 in Los Angeles – auch, um solche Verhandlungen zu führen: Dass Vierjährige heute Darth Vader kennen. Dass „Batman“-Psychopathin Harley Quinn in Mutmach-Comics elfjährige Mädchen empowern soll. Dass Nintendo düstere Horror-Clips animiert: Erwachsenen Fans zuliebe, die Mario gern sterben sehen? Danke an Stan Lee!

Als Autor zählen bei Stan Lee vor allem die Jahre 1961 bis etwa 1966: In knapp fünf Jahren schuf er die Helden Spider-Man und Doctor Strange mit Zeichner Steve Ditko. Bei den „Fantastic Four“, „Hul“, „Thor“, den „X-Men“, „Iron Man“, „Black Panther“ und den „Avengers“ zeichnete Jack Kirby. Beide Zeichner schrieben auch eigene Comics – die sich als Stimmungsbild der 60er, 70er Jahre lohnen: Kirbys monumentaler „Fourth World“-Zyklus (DC Comics) ist unvergesslich kreativ; Ditkos vulgärphilosophischer, am „Objektivismus“ der Hyperkapitalistin Ayn Rand orientierter Held „The Question“ ein Kuriosum.

Längst Gegenstand von Ausstellungen: die Marvel-Comics und -Figuren

Der Lee-Ton

Stan Lees Comic-Klassiker dagegen bieten, heute gelesen, wenig Überraschung: wegweisende Figuren, Heftreihen, Erzähltechniken – heute so normiert und zum Klischee erstarrt, dass nur Kirbys Zeichnungen manchmal überraschen. Hat Stan Lee keinen eigenen Ton? Im Gegenteil: Der Lee-Ton ist so synonym mit dem „Marvel-Ton“ und dem „Silver-Age“-Ton, dass fast alles, das damals unerhört und prägend, prototypisch war, heute nur noch typisch, altbekannt scheint.

Lee, Sohn rumänischer Einwanderer, geboren 1922 als Stanley Lieber, wuchs in der Bronx auf und schrieb im zweiten Weltkrieg Lehr- und Propagandafilme. Dem „Golden Age“ der US-Heldencomics mit Superman (1938), Batman (39), Captain America (41) folgte 1954 eine Schmutz-und-Schund-Debatte: In „Seduction of the Innocent“ warnte Psychologe Fredric Wertham vor Gewalt und (besonders: homoerotischen) Untertönen in den monatlichen Heftchen. Eine freiwillige Selbstkontrolle der Branche, der „Comic Code“, führte zu kindischen, banalen Storys.

Ab 1958 wurden zwei Helden bei DC Comics neu positioniert. Die Reihen „Flash“ und „Green Lantern“ erhielten junge, neue Hauptfiguren – und mit absurden, kindgerechteren Geschichten begann ein „Silver Age“: Science-Fiction, Esoterik und Pseudowissenschaft, melodramatische Wendungen. Freiwillige Komik – und sehr viel unfreiwillige.

Viele treue Ehemänner

All das beschreibt auch Stan Lees monatliche Heftreihen ab 1961, beginnend mit dem ersten Projekt unter dem „Marvel“-Imprint: „Fantastic Four“. Der wesentliche Unterschied zum etablierten DC? Noch heute liebt DCs Superman/Batman-Welt berufstätige, oft bürgerliche Figuren; viele treue, ausgeglichene Ehemänner, die ihre Kräfte als Chance sehen, eine Gesellschaft zu stärken und sich auch im Alltag mit der bürgerlichen Ordnung identifizieren.

Stan Lee, der ab 1939 beim Marvel-Vorgänger Timely Comics (dem Verlag seines Onkels) arbeitete und in den 50er Jahren Western-, Grusel- und Monstercomics schrieb, zeigte ab 1961 Zweifler, Außenseiter, Neurotiker. Bis heute definieren sich Marvel-Helden oft durch ihre Schwächen, Triebe, manchmal Behinderungen, bekriegen sich oft gegenseitig und hadern so unreif, pubertär mit ihren Verantwortungen, dass Ex-Chefredakteur Joe Quesada noch in den Nullerjahren witzelte, ein idealer Konflikt für Spider-Man sei, sich Pornos aus dem Netz laden zu wollen, ohne dass Tante May ihn ertappt.

Lee-Figuren wie Thor, Galaktus der Planetenfresser und Silver Surfer haben gottgleiche Kräfte. Heldinnen bleiben Beiwerk: Als sich Sue Storm gegen den arroganten Gatten auflehnt, höhnt er: „Women should be kissed – not heard.“ Janet van Dyne wird von Ehemann Ant-Man geohrfeigt. Dass Professor X nicht versucht, mit der minderjährigen Jean Grey zu schlafen, liegt am Rollstuhl – nicht an seiner Rolle als Pädagoge oder am Altersunterschied.

Außenseiter und Marken

„Es gibt zwei Sorten Marvel-Archetypen“, sagt Blogger Scipio Garling: „Missverstandene Außenseiter mit beschränkten Fähigkeiten, die mit einer Welt hadern, die nichts von ihnen hält. Und unbegreifliche kosmische Wesen mit unvorstellbaren Kräften, die in wuchtigen Absoluten skandieren. Oder, wie ich’s oft für mich nenne. A: Figuren, die sich fühlen wie Pubertierende. B: Figuren, die sich fühlen, wie sich Pubertierende gern fühlen würden.“

Ein kleiner Teil der Helden-Palette (Foto: Lena Rose/Unsplash)

Damit erzählte Marvel in den 60ern etwas progressiver als DC. Doch seiner Zeit voraus war ein Spider-Man, der über Proteste an der Uni nur die Augen rollt oder ein Thor, der freudig in Vietnam den Kommunismus bekämpft, sicher nicht. „Ideen sind das einfachste der Welt“, prahlte Lee: „Jeder hat Ideen. Du musst aus einer Idee etwas machen, auf das Leute reagieren.“ Weil „Leute“ (globale Zielgruppen) dauernd neu, anders reagieren, werden bekannte Figuren immer neu positioniert:

Für Warner Brothers (DC Comics) und Disney (seit 2012 Eigentümer von Marvel) sind Superhelden wertvolle „Intellectual Properties“, IPs, deren Wiedererkennungswert Medienwechsel und Experimente erlaubt: „Die Figur und die Grundregeln ihrer Erzählwelt sind euch klar. Jetzt schau, was wir als nächstes an ihr ausprobieren!“ „Spider-Man“ am Broadway (2011). Ein „Superman“-Königsdrama über Klimawandel und zerstrittene Clans („Krypton“). „The Lego Batman Movie“ (2017) gilt als gewitzter, sehenswerter als „Justice League“ (ebf. 2017).

Ein Autogramm für 120 Dollar

Die literarisch besten Comicautoren (aktuell z.B. Brian K. Vaughan, Brian Michael Bendis, Greg Rucka) erklären in Interviews oft klug, wer „ihr“ Bruce Wayne ist; wo sie Lois Lanes „Essenz“ sehen und warum Figuren so und nicht anders positioniert sein sollten. Stan Lee spricht kaum über Psychologie oder den festen Charakter seiner Figuren.

Während Leserpost bei DC recht nüchtern beantwortet wurde, vom oft anonymen Redakteur der jeweiligen Heftreihe, kumpelte Lee auf den Briefseiten seiner Hefte Kinder und Teenager („Dear True Believers“) als großer Bruder „Stan the Man“ an – mit Slogans und Catchphrases wie „Make mine Marvel“, „Excelsior!“, gezeichneten Gastauftritten/Cameos in Heften (bereits ab 1962), viel Selbstdarstellung, Charisma, Ironie: nahbare Helden, nahbare Schöpfer. Bis heute nutzen u.a. Videospiel-Konzerne und Youtuber den Ton, um sich mit ihren Zielgruppen gemein zu machen.

Für Autogramme verlangte Lee oft 120 Dollar. Bis zuletzt trat er auf Fan-Conventions und -Messen auf. Statt sonderlich maßgebliche Comics zu schreiben, zählt Lee seit Ende der 70er als Marktschreier, Maskottchen, „Brand Ambassador“. Ein Botschafter, Fürsprecher und Propagandist, der in griffigen Slogans und voll (echtem) Enthusiasmus erklärt, was aufregend ist am Erzählformat „Superheldencomic“ und auf welche Marvel-Hefte, -Filme, -Serien, -Neuigkeiten er sich freut: Statt tolle Comics zu schreiben, erklärte er (toll!), warum Comics toll sind.

„His infectious enthusiasm reminded us why we we all fell in love with these characters in the first place“, tweetet DC zum Abschied; und „Black Panter“-Bösewicht Winston Duke lobt: „You gave us characters that stand the test of time and evolve with our consciousness.“ Das Schlüsselwort hier ist „evolve“, „weiterentwickeln“ – denn Lees Gespräche, Pitches, Engagement in Hollywood machte u.a. Trickserien (schon 1966: „The Marvel Super Heroes“; wichtig z.B. „X-Men“ ab 1992), Realserien (z.B. „Spider-Man“ ab 1978, als japanische Ko-Produktion) und erste Big-Budget-Kinofilme (z.B. „Howard the Duck“, 1986) möglich.

Trotz Youtube-Kanal (ab 2012) und gewitzten Tweets war Stan Lee keiner, der Geduld, Finesse, Lust hatte, plausibel zu erklären, was literarisch spannend an z.B. der Figur She-Hulk ist. Aber eben: Der erste, der mitreißend hätte zeigen können, warum niemand anderes als She-Hulk passender wäre als Star eines Back- und Kuchen-Magazins.

Cameo in Heaven

Schon 1995, in Kevin Smiths Nerd-Komödie „Mallrats“, trat Lee als Mentor in einer kleinen Sprechrolle auf. In Trickserien trat er als Erzähler oder Gaststimme auf; und ab 1998 („Blade“) und besonders 2000 („X-Men“) hatte er über 35 Kurzauftritte in Marvel-Kinofilmen (und einigen Serien, zuletzt „Marvel’s Runaways“): 2017, in „Guardians of the Galaxy 2“, wurde klar, dass Lee über alle Filme hinweg die exakt dieselbe Rolle/Figur spielt – einen Informanten der außerirdischen Watcher, unterwegs, um die Helden der Erde inkognito zu beobachten. Autorin Nora Gomringer schreibt zu Stan Lees Tod: „Cameo in Heaven“ – als würde er fortan im Jenseits den selben Part spielen. Der selbstironische Opa, immer augenzwinkernd mit von der Partie.

Natürlich auch bei der Münchner Stadtbibliothek im Bestand: Spiderman und Kolleg_innen

2017 starb Joan – ein britisches Ex-Model, mit dem Stan Lee 69 Jahre lang verheiratet war. In Folge trennte sich Lee von seinem Beraterteam und warf den vier Männern vor, ihn um sein Vermögen betrügen zu wollen. Sie konterten, Lee würde seine Altenpflegerinnen sexuell belästigen und von seiner Tochter angebrüllt und geschlagen. [Mehrere lesenswerte Hausbesuche, Interviews u.a. der New York Times: unten verlinkt.]

„Hätte ich eine Superkraft – ich würde kein Kostüm anziehen. Sondern überlegen, wie ich daraus den meisten Profit schlage“, lacht Lee. Seine selbstständigen Verlags- und Comicprojekte seit den 90er Jahren sowie z.B. die Trickserie „Stripperella“ (2002) floppten. Comic-Autor_innen, die selbst nicht zeichnen, liefern meist ein präzises Script ab, das Panel für Panel vorgibt, wo alle Figuren stehen und was sie sagen. Stan Lee war in den 60er Jahren so produktiv, weil er die „Marvel Method“ erfand: Er sponn eine grobe Geschichte, ließ Zeichnerinnen und Zeichner einfach machen und füllte die fertigen Bilder spontan mit Sprechblasen. Erst seit 2005, nach einer Klage, erhielt Lee Tantiemen für Marvel-Filme und -Adaptionen. Lees „Co-Creators“ wie Jack Kirby (gest. 1994) und Steve Ditko (2018) gingen oft leer aus.

Liebe schlägt Hass

Autor Michael Chabon, dessen Roman „The Amazing Adventures of Kavalier & Clay“ (2000) die New Yorker Verlags- und Comicwelt der 1930er Jahre bis zum Ende des „Golden Age“ brillant erklärt, schreibt, dass Lee seine Sicht aufs Leben bis heute prägt: „Liebe schlägt Hass. Rational schlägt irrational.“ Jüngere Marvel-Fans erinnern sich vor allem an einen Mann, großspurig, hungrig, um seine Personal Brand bemüht wie Zirkus-Showman P.T. Barnum oder Walt Disney. Ein Erzähler, der Figuren ohne Eitelkeit und literarische Allüren dauernd neu erfand, umstellte, vermarktete. Der durch Nähe zum Publikum Kund_innen binden wollte. Und dessen „Shared Universe“ viel Raum ließ für die „Selbstzweifel und Neurosen gewöhnlicher Leute“.

Autorin Joan Didion schrieb ein grandioses persönliches Buch über den Tod ihres Manns, „Das Jahr magischen Denkens“ – und merkte, wie viele junge Leserinnen und Leser davon fasziniert waren. Nicht, weil sie Tod und Abschied interessiert. Sondern, weil (besonders offenbar: junge Scheidungskinder) wissen wollten, wie eine fast 40 Jahre lange glückliche Ehe funktioniert. Stan Lees oft hölzerne, geschwätzige Comics lassen mich kalt.

Ich hörte und sah ihm gerne zu, weil ich hoffe, noch 30, 40, 50, 60 Jahre lang so enthusiastisch, neugierig, schwungvoll, leidenschaftlich sein zu dürfen wie diese Person.

Oder: diese Persona.


Tipps zum Weiterlesen von Stefan Mesch

Hausbesuch bei Stan Lee (New York Times, April 2018)

Interview mit Stan Lee und seiner Tochter J.C. (The Daily Beast, Oktober 2018)

Ein gehässiger und überheblicher Nachruf von Abraham Riesman

Stan Lee zur Frage, warum er viel mehr Geld und Ruhm erhielt als Kollege Jack Kirby (The Escapist, 2014)

Und wir empfehlen noch: Stefans Blog


Stan Lee im Online-Katalog der Münchner Stadtbibliothek

Und noch ein Tipp: Am 23. November startet in der Münchner Stadtbibliothek Am Gasteig eine neue Reihe: die ComicBar, kuratiert von Barbara Yelin. Mehr Infos darüber gibt es auf unserer Website …


Featured Foto: Hermes Rivera on Unsplash

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