Gleich vorweg: Der „Literatur International“-Abend mit Noémi Kiss am 5.11. in der Stadtbibliothek Laim war großartig, und ich bin in keinster Weise bereit zu einer neutralen Nachlese. Im Gegenteil: Noémi Kiss‘ Lesung aus ihrem neuen Roman „Dürre Engel“ war ein fast schon intimes Werkstattgespräch über ihr Schreiben, ihre literarischen Vorbilder, über das Übersetzen und seine Unmöglichkeiten und gleichzeitig über die Wendezeit, den Alltag in der ungarischen Gesellschaft, über Reisefreiheit und das Schengen-Abkommen, wie es besser selten gelingt.
Klug, leicht und mit sympathischer Hartnäckigkeit moderiert von der Münchnerin Enikö Dácz, die dank ihrer Textsicherheit eloquent durch den ersten Teil des Abends leitete und damit half, über verschiedenste Schichten des Romans die Brücke ins heutige Ungarn zu schlagen. So stellt sie Noémi Kiss zunächst als Autorin des Reisetagebuchs „Schäbiges Schmuckkästchen. Reisen in den Osten Europas“ vor. Über einen Zeitraum von weit mehr als zehn Jahren zeichnet Kiss darin ihre Eindrücke nach von Städten und Landschaften an den Rändern des ehemaligen Habsburger Reichs, in Galizien, der Bukowina, in Rumänien oder etwa in Serbien, die sie sich in der Nachwendezeit, gerade nicht in Richtung Westen, sondern nach Osten, erschließt. Schnell wird beim Reden deutlich, dass es Kiss ein wichtiges Anliegen ist, eine für das Unausgesprochene, auch in der Erinnerung, authentische literarische Sprache zu kreieren.
In Noémi Kiss‘ Roman „Dürre Engel“, dessen Handlung sich in einer ungarischen Kleinstadt in den 1980er Jahren entwickelt, kommt dieses Interesse auf ganz andere Weise zum Tragen. Im Mittelpunkt steht die 40-jährige Lehrerin Livia, die sich durch die Tristesse der Wendezeit schlägt, hemmungslos gefangen in den Rollenerwartungen ihrer Familie und einer Ehe mit dem gescheiterten Profiathleten Öcsi (dt. Brüderchen), die als Liebesgeschichte begann und in einem fatalen Desaster aus Kinderlosigkeit, Gewalt und eben Sprachlosigkeit endet.
Enikö Dácz nutzt die Vielschichtigkeit der Geschichte, die aus ihrer Sicht den Roman über längere Abschnitte u.a. als Liebesroman, als Sportroman, als Gesellschaftsroman, als feministischen Roman erscheinen lassen, um mit Kiss über ihre Annäherung an die Figuren zu sprechen. Welche autobiografischen Erfahrungen fließen ein und spielen sie überhaupt ein Rolle? Warum scheitert Öcsi? Welche tatsächlichen Ereignisse in Ungarn bilden den Hintergrund? Welche Tabus werden gebrochen und existieren sie in Ungarn auch heute noch? Wie lässt sich das Erleben von Gewalt in Worte fassen, vor allem, wenn nur Stummheit bleibt?
Vorbilder und Gespräche
Noémi Kiss zeigt sich als insistierende Beobachterin, deren Figuren und Plots durch sorgfältige Recherchen, aber auch durch selbst gemachte Erfahrung an Profil gewinnen. Gleichzeitig greift sie in der Beschreibung auf eigene Literaturerlebnisse zurück, die nicht zuletzt geprägt werden von der intensiven Beschäftigung mit Paul Célan, dessen Gedichte sie übrigens auf ihren Reisen begleiten und dessen Werk Gegenstand ihrer Dissertation war. Literarische Vorbilder fließen zudem direkt in „Dürre Engel“ ein, wenn Kiss die Liebesbeziehung von Livia und Öcsi in Verbindung mit Gedichten von Attila József und Zsuzsa Takács beschreibt. Kiss‘ literarische Virtuosität wird noch auf eine weitere Weise sichtbar: Sie schafft es, den Dialogen und Beschreibungen, trotz sprachlicher Schonungslosigkeit, mit einem pointierten Humor zu begegnen, der den Figuren und Situationen auf besondere Weise plastische Qualität verleiht.
Literarische Einflüsse spielen noch einmal eine Rolle, als Enikö Dácz auf die Situation von Schriftstellerinnen in der ungarischen Literaturszene zu sprechen kommt. Noémi Kiss, 1974 geboren, ist es wichtig zu betonen, dass sie stolz darauf ist, zur ersten Generation von Autorinnen zu gehören, die trotz vorhandener Widerstände für sich selbstverständlich in Anspruch nehmen, literarische Stimmen zu sein und sich als solche zu gesellschaftlich relevanten Themen zu äußern. Als für sie prägende Autorinnen auf diesem Weg nennt Noémi Kiss Magda Szábo und Erzsébet Galgóczi. Noémi Kiss‘ Werke sind übrigens u.a. ins Englische, Bulgarische, Schwedische und Serbische übersetzt.
Der zweite, gesellige Teil des Abends greift alle Themen des Werkstattgesprächs auf und setzt es jetzt vielsprachig jenseits der Bestuhlung am kleinen Imbissbuffet mit ungarischem Wein und Pogatscherl, zwischen den Bücherregalen, am Büchertisch, und sogar im nächtlichen Lesegarten fort. Noémi Kiss signiert Bücher, unterhält sich über den Alltag in Ungarn und ihren Besuch im Stuttgarter Literaturhaus am nächsten Tag. Die Buchhändlerin erzählt, warum sie sich so für Noémi Kiss‘ Literatur interessiert und dass jedes ihrer Bücher komplett anders geschrieben ist, außerdem, was das Weihnachtsgeschäft gerade macht. Der Sprecher der deutschen Textpassage, Helmut Becker, fachsimpelt mit Noémi Kiss über Lesereisen, Hörbuchrechte und kleine Verlage. Die Uni-Leute, teilweise aus Regensburg angereist, tauschen sich übers Übersetzen und über laufende Projekte in Ungarn und Rumänien aus. Die Bibliothekarinnen unterhalten sich mit allen und dem anwesenden Bibliotheksstammpublikum sowieso. Es werden Adressen getauscht und Kontakte geknüpft.
Neue Ansichten von Ungarn
Die Quintessenz des Abends ist und bleibt für mich jedoch: Über die Literatur und die dadurch angeregten Gespräche hat Noémi Kiss Ungarn in meiner Wahrnehmung eine gleichermaßen intellektuelle wie humorvolle Facette gegeben, die vor lauter aggressivem Krakelen und offiziell demonstrierter Breitbeinigkeit bei uns selten sicht- und hörbar wird.
Literatur von Noémi Kiss gibt es selbstverständlich in der Münchner Stadtbibliothek. Sie ist an jeden Standort inklusive der Bücherbusse bestellbar. Ihre Romane, im Europa Verlag erschienen, sind weihnachtsbaumtauglich. Wer schnell ist und in Laim wohnt, kann sich noch letzte Exemplare vom Büchertisch bei Bücher Hacker sichern. Ansonsten empfehle ich persönlich: Unterstützt den lokalen Buchhandel und kommt zur nächsten Veranstaltung der„Literatur International“-Reihe im Januar, dann mit dem Schriftsteller Michal Hvorecký aus der Slowakei.
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Noémi Kiss im Katalog der Münchner Stadtbibliothek
Noémi Kiss über ihr Treffen mit Ilona Staller, Politikerin und Sexsymbol („Cicciolina“)
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