In die Welt hinein schauen

Neue Dokumentarfilmtipps

Gute Dokumentarfilme öffnen den Blick für die Welt und für die Menschen, die in ihr zuhause sind. Sieben Empfehlungen, die das Hinsehen lohnen. (Ein Klick auf den Titel führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)

Patrick Allgaier und Gwendolin Weisser: Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt

„Uns zieht es hinaus. Mit Rucksack, Zelt und nur dem, was wir wirklich brauchen. Und das alles über Land. Nie den Kontakt zur Erde verlieren. Immer Strecke spüren. Über die Meere mit dem Schiff, denn jeden Meter wollen wir mit all unseren Sinnen wahrnehmen, mit Zeit reisen. Wir lernen Grenzen kennen. Wollen lernen, was Verzicht heißt und was Genuss bedeutet.“

Im Frühjahr 2013 brechen Gwendolin und Patrick aus Freiburg zu einer Reise um die Welt auf. Das besondere daran: Sie reisen ohne in ein Flugzeug zu steigen und möchten nicht mehr als 5 Euro pro Tag ausgeben. Nach dreieinhalb Jahren, 38 Ländern und 96 707 Kilometer kommen sie, inzwischen zu dritt, wieder in ihrer Heimat an.

Es ist die Geschichte einer faszinierenden, bewegenden und mutigen Reise.

2017 war „weit“ einer der erfolgreichsten Dokumentarfilme im deutschsprachigen Raum. Martina / Stadtbibliothek Pasing

 

Karim Aïnouz: Zentralflughafen THF

Flughäfen sind Durchgangsorte, an denen niemand lange bleibt, und auch für die Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Ukraine sollte der Flughafen Tempelhof eigentlich nur eine Zwischenstation sein nach ihrer Ankunft in Deutschland im Sommer 2015. Alles ist provisorisch, in den Hangars dienen Wohnzellen aus Stoff für ein Minimum an Privatsphäre; das soziale Leben findet auf den Wegen dazwischen, vor den Toren, auf dem ehemaligen Flugfeld statt. Ein Jahr lang begleitete der Berliner Filmemacher Karim Aïnouz mehrere der vorwiegend jungen Männer und zeichnet dabei mit genauem Blick, aber ohne Kommentar aus dem Off auf, wie sich Strukturen etablieren: Freundschaften entstehen, geflüchtete Friseure und Ärzte bieten ihre Dienste an, Mitarbeiterinnen deutscher Organisationen übersetzen, organisieren, unterstützen. Ein junger Mann will nur weg, ein alter Mann freut sich: „Das ist die beste Zeit meines Lebens!“ Katrin / Öffentlichkeitsarbeit

 

Raymond Depardon: 12 Tage

Für diesen Film braucht man Ruhe: Nahezu fünf Minuten dauert die erste Kamerafahrt durch weitgehend leere Gänge in der Lyoner Psychatrie, bis man an der Tür anlangt, hinter der ein Großteil dieses Dokumentarfilms stattfindet. Der Titel ist schnell erklärt: Zwölf Tage ist die Frist, innerhalb derer in Frankreich ein Psychiatriepatient nach der Zwangseinweisung eine Anhörung vor Gericht bekommen muss. Rund 90.000 Menschen durchlaufen jährlich diese Prozedur – zehn von ihnen hat Depardon dabei gefilmt, wie sie um Entlassung bitten oder manchmal auch betteln und sie doch nie bekommen. Der Blick der Kamera bleibt nüchtern, fasst mal die Richterin oder den Richter ins Auge, mal den Patienten bzw. die Patientin. Als Zuschauerin findet man schwer eine Haltung – mal schilt man die Richterin des Desinteresses, mal kriegt man es angesichts der Aus-der-Welt-Gefallenheit des Patienten mit der Angst zu tun. Um Wahrheit geht es hier längst nicht mehr – aber worum dann? Das ist eine der großen Fragen dieses Films. Katrin / Öffentlichkeitsarbeit

 

Sudabeh Mortezai: Im Bazar der Geschlechter

Dieser Film zeigt eindrucksvoll die Bigotterie im Iran. Findet man nur den richtigen Imam, kann man eine Zeitehe eingehen und somit ist, völlig in Einklang mit dem schiitischen Glauben, Prostitution erlaubt. So eine Zeitehe (oder auch Lustehe) kann übrigens von einer Stunde bis zu 99 Jahren gehen. Es kommen verschiedene Personengruppen zu Wort, auch Geistliche – und deren Antworten sind oft auch erstaunlich. Auf jeden Fall ein Blick in eine andere Welt … wobei einem vieles irgendwie doch erschreckend bekannt vorkommt. Birgit / Stadtbibliothek Am Gasteig

Eren Önsöz: Haymatloz

Haymatloz ist eine Dokumentation über das Schicksal deutscher Exilanten, die zur Zeit des Nationalsozialismus in die Türkei flohen. Atatürk führte 1933 eine tiefgreifende Reform der Universitäten durch und wollte sie mit Hilfe westlicher Wissenschaftler nach westlichem Vorbild neu aufbauen. Der Film lässt die Nachfahren einiger dieser Intellektuellen zu Wort kommen und reist mit ihnen an die entscheidenden Orte in Istanbul und anderswo. Spannend fand ich, wie sehr verknüpft die Kinder mit dem Schicksal ihrer Vorfahren sind und wie buchstäblich lebendig die Vergangenheit für sie ist. Einer der porträtierten Menschen hat auch eine enge Verbindung zu München: Der expressionistische Bildhauer Rudolf Belling, in NS-Deutschland als „entartet“ diffamiert, war von 1936 bis 1952 Professor für Bildhauerei an der Istanbuler Kunstakademie. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland lebte er in Krailling; von ihm stammt die „Schuttblume“ auf dem Münchner Olympiaberg, ein Friedenssymbol und Denkmal des Zweiten Weltkriegs. Kai / Stadtbibliothek Am Gasteig

 

Michael Glawogger und Monika Willi: Untitled

Man kann mich zu egal welcher Tages- und Nachtzeit nach einem guten Dokumentarfilmer fragen, ich werde immer dieselbe Antwort geben: Michael Glawogger! Glawoggers Filme sind engagiert im besten Sinne – sie gehen und sehen da hin, wo die wenigsten sich hinwagen und ohnehin lieber wegschauen. In „Workingman’s Death“erzählte er in fünf Episoden von körperlicher Schwerstarbeit: vom privaten Kohleschürfen im Donbass-Gebiet, vom Schwefelabbau in Indonesien, vom Schlachten in Port Harcourt/Nigeria, vom Schrottschweißen in Pakistan und von Stahlarbeitern in China; in „Whore’s Glory“ porträtierte er drei Schauplätze institutionalisierter Prostitution in Bangkok, Bangladesch und Mexiko. Glawoggers Filme sind kaum auszuhalten, aber wahnsinnig schön anzusehen – das ist die Spannung, die so reizvoll und zugleich so unerträglich ist.

Ende 2013 brach Michael Glawogger mit zwei Kollegen zu einer Weltreise auf, die rund ein Jahr dauern sollte. Wovon der dabei entstehende Film handeln würde, war offen – was ich ganz großartig fand, denn viel zu oft merkt man Dokumentarfilmen an, dass deren Autoren vorher schon wussten, was sie erzählen wollten und also nur noch die passenden Bilder dafür suchten. Im April 2014 erkrankte Glawogger in Liberia an Malaria und starb wenig später. Aus dem Material, das bis dahin entstanden war, schnitt die formidable Cutterin den Film „Untitled“, der also fürchterlicherweise das Letzte ist, was man von diesem Ausnahmeautor zu sehen bekommt. Katrin / Öffentlichkeitsarbeit

 

Hans Block und Moritz Riesewieck: The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt

„Ich habe hunderte Enthauptungen gesehen, am unschönsten sind die Enthauptungen mit Küchenmessern, die Videos dauern bis zu zwei Minuten, bis die Köpfe ab sind.“ In Manila, dem größten Zensurbetrieb der Big Four des Sillicon Valley, beschäftigen die Unternehmen Menschen, sogenannte Content -Moderator_innen, die die digitalen Inhalte des Internets zensieren – delete, ignore, delete, delete. In 10-Stunden-Schichten halten sie Plattformen von Facebook, YouTube & Co von „schlechten Inhalten sauber“. „Die Aufgabe eines Content-Moderators ist es, den Dreck wegzumachen, das ist unser einziges Ziel, dafür sind wir da. […] Das ist alles.“ Content-Moderator_innen, die nach bestimmten Kriterien und Vorgaben, den am besten geschützten Geheimnisse des Silicon Valleys, täglich tausende vom Bilder und Videos anschauen, kümmern sich um das, was wir nicht wollen/sehen sollen/uns verstört.

Der Film zeigt sehr eindringlich, was es heißt, nicht das Müllsammeln auf den Deponien als Existenzgrundlage zu haben, sondern die Verantwortung über den Müll des Internets zu haben, mit all seinen Konsequenzen für Körper und Psyche. Gleichzeitig wirf der Filme einen sehr kritischen Blick auf die Thematik der Materialvernichtung. Das Löschen von Inhalten kann verheerende Folgen für die Demokratie haben, denn: Das Zensurregelwerk wurde vom Silicon Valley erschaffen, Unternehmen – nicht demokratisch gewählte Regierungen – entscheiden, was rechtmäßig ist und was nicht.

Donald Trump nackt, mit kleinem Penis – ein Werk einer amerikanischen Künstlerin, muss laut Auslegung der Statuten gelöscht werden, es würdigt Trump in seiner Persönlichkeit herab. Es ist bekannt, dass die Unternehmen von politischen Instanzen beeinflusst werden, dass Absprachen über die Relevanz von Inhalten im Hinterzimmer erfolgen und Unternehmen gedrängt werden, Gesetze zu befolgen. Digitale Zensur hat Folgen für die Dokumentation von Kriegsberichten, erschwert es, Kriegsgeschehen zu verstehen und Beweise für die Zukunft zu Verfügung zu stellen.

Die philippinischen Content Moderator_innen arbeiten für Unternehmen, die ihre eigenen Verhaltensregeln für ein soziales und reales Miteinader definieren, „die Aufopferung für das System hört nie auf, sie wird immer Teil meines Lebens sein.“ Ein Film, der uns aufrütteln sollte. Karina / update.jung&erwachsen

 

Featured Image: Still aus „Untitled“ von Michael Glawogger (c) Realfiction

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