Fundstücke aus dem Archiv: Pinxit Heine?

Im Bildarchiv der Monacensia im Hildebrandhaus befindet sich ein Foto, das angeblich Th.Th. Heine gemacht haben soll. Es ist auf einem Karton aufgeklebt worden, so dass man die ursprüngliche Beschriftung nicht mehr lesen kann. Auf der Rückseite des Kartons hat Richard Lemp, früherer Leiter der Handschriftensammlung der Münchner Stadtbibliothek, heute Monacensia im Hildebrandhaus, handschriftlich die ursprüngliche Beschriftung übertragen. Sie lautet: „27. VIII. 07 pinx Th.Th.“, was soviel heißt wie „gemalt (=pinxit) von Th.Th.“ Und Richard Lemp ergänzt: „= Thomas Theodor Heine“.

Tischgesellschaft in Abwinkl
(c) Münchner Stadtbibliothek/Monacensia

Es gibt aber keine Zeichnung von Th.Th. Heine, die das Motiv mit den Simplicissimus-Exponenten Olaf Gulbransson und Ludwig Thoma mit ihren Ehefrauen Marion und Grete, geborene Jehly, sowie Nelly Gerstle, geb. Wolff aufnimmt. Pinxit könnte auch im übertragenen Sinne „fotografiert“ bedeuten. Bleibt also die Frage, ob Th.Th. Heine im August 1907 in Abwinkl am Tegernsee mit dabei war. Wir haben dieses Foto als zentrales Motiv des Projektes Trügerische Idylle. Schriftsteller und Künstler am Tegernsee 1900 bis 1945 im Olaf Gulbransson-Museum, Tegernsee ausgewählt. Seither ziert es das Plakat und den Umschlag des gleichnamigen Begleitbuches, das soeben in der edition monacensia im Allitera Verlag München erschienen ist.

Der große Simplicissimus-Zeichner Th.Th. Heine mied den Tegernsee, obwohl sich dort seit 1902 im kleinen Dörfchen Finsterwald regelmäßig Redakteure, Zeichner und Mitarbeiter der renommierten Satire-Zeitschrift trafen. Sie scharten sich damals gerne um den Schriftsteller und Redakteur Ludwig Thoma, der regelmäßig die Sommerfrische am Tegernsee verbrachte. Th.Th. Heine blieb diesen Treffen stets fern, außer an einem Sommertag im August 1907, so scheint es zunächst.

Zum Hintergrund: Seit März 1907 ist Ludwig Thoma mit der auf den Philippinen geborenen Tänzerin Maria Trinidad de la Rosa verheiratet, die er Marion nennt. Nach der Hochzeitsreise nach Florenz und Bologna verbringen Ludwig und Marion Thoma den Sommer in Rissersee und in Abwinkl am Ringsee, den westlichen Teil des Tegernsees. Sein Freund Olaf Gulbransson, seit 1902 neben Th.Th. Heine der prominenteste Zeichner des „Simplicissimus“, ist seit 1906 in zweiter Ehe mit der Vorarlberger Schriftstellerin Grete Jehly (1882-1934) verehelicht. Thoma und Gulbransson leben mit ihren Ehefrauen zu dieser Zeit in München. Auch die jung vermählten Gulbranssons entfliehen im Sommer immer wieder der „staubenden Hitze der Stadt“, um am Tegernsee Wasser, Wolken Wind und Wellen zu genießen, so am verlängerten Wochenende vom Freitag, 23. bis Dienstag, 27. August 1907. Höhepunkt dieses Landaufenthaltes ist am Samstag-Abend der gemeinsame Besuch eines Seefestes, das jedoch wegen der schlechten Witterung ins Innere verlegt werden muss: „Ketten von roten Lampions im Regen, Feuerwerk im nassen Gras und ein enges Gartenhaus voll jubelnder Bohème“, wie Grete Gulbransson ins Tagebuch notiert. Mit von der Landpartie ist Nelly Gerstle, eine gemeinsame Freundin aus München, des weiteren Ignatius Taschner, Bildhauer und Ideengeber von Ludwig Thomas Haus auf der Tuften, mit seiner Ehefrau, sowie Reinhold Geheeb, promovierter Romanist und von 1901 bis 1925 leitender Simplicissimus-Redakteur.

Ludwig Thoma vor seinem Landhaus (c) Münchner Stadtbibliothek/Monacensia

Zu dieser Zeit organisiert Ludwig Thoma von Abwinkl auf der anderen Seeseite aus den Bau seines Landhauses, das der gemeinsame Wohnsitz von Marion und Ludwig Thoma werden soll. Seine aus der Stadt angereisten Freunde besichtigen an diesem Wochenende mehrmals die Baustelle, während Ludwig Thoma zur Redaktionssitzung nach München fährt und seine Frau Marion mit Nelly Gerstle nach der Besichtigung Tennis spielen. Die nicht veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Grete Gulbransson vom August 1907 geben detailliert darüber Auskunft, wie die beiden Paare und Nelly Gerstle diese Sommertage am Tegernsee verbrachten.: „Freitag, 23. Aug Am Morgen fahren wir alle über den See, um Thomas Haus- bau zu sehen. Er geht allein nach München zum Redactionstag. (…) Olaf und ich bleiben in dem warmen, beruhigenden Frieden hier. (…) Marion und Nellie stürtzen zum Tennis-matsch, ich lieg`auf dem Balkon in der lieben Sonne (…) Ich mach´ auch ein Gedicht für Thomas morgigen Namenstag.“ An nächsten Tag kommt Ludwig Thoma mit seinem Bruder Peter (1864-1924) in Ringsee vorbei. „Samstag, 24. August Wir stehn sehr spät auf. Marion saust in einer grossen Schürtze herum und bereitet vor. Mittags kommen Thoma und Peter. Wir haben einen prachtvollen Tisch gerichtet. Nachmittags finden die tollen Weiber noch Zeit zum Tennis in Egern und wir 2 fahren auch in einem Boot mit Peter hinüber. Aber es ist uns ekelhaft bei dem bornierten Spiess, Olaf und ich stehen feindselig und mit gesträubtem Borst und gehen gern und eilig mit Peter wieder davon. In Abwinkel schwimmt Olaf und ich sitz derweil träumend in der gelben Badehütte. Abends ist das Fest!“

Am Sonntag stossen das Ehepaar Taschner, Reinhold Geheeb und Peter Thoma zu diesem munteren Künstlerkreis dazu: „Sonntag, 25. Juni (mit Blei durchgestrichen und mit Blei in „Aug.“ abgeändert) In aller Früh werfen uns Taschners Stein an´s Fenster. Sie kommen zum Frühstück und dann rudern wir alle zum Duftenlucke. Während die andern im Bau herum steigen, liegen Olaf und ich in der Sonne auf einem Bretterhaufen und er liebt mich herrlich. Wir essen ohne Taschners beim Bachmeier und dann gehen Olaf und ich zufuss nach Ringsee zurück. (…) Zuhaus erwartet uns Peter, wir sollen nach Tegernsee heut Abend noch, der Geheeb und noch einer sind da.“ Am Montag, den 26. August verlassen Grete und Olaf Gulbransson, die sich bei diesem Aufenthalt um einen Bauplatz für ein gemeinsames Haus umschauen, ihr Domizil am Ringsee in Richtung München. Doch es ist eine Rückfahrt mit Hindernissen, da das dringend benötigte Geld für das Fahrgeld, um das Grete und Olaf Gulbransson telegraphiert haben, noch nicht eingetroffen ist: „Montag, 26. Aug. (…) Wir frühstücken noch mit Marion und Nellok (= Kosename für Nelly) in der blanken, frischen Morgensonne vor dem Haus, dann schleppt Olaf unsere Taschen nach Abwinkel hinunter. In Tegernsee steht schon Ludwig und erwartet uns. Wir gehen zusammen zum Schneider und bestellen eine Joppe für Olaf. Dann radelt Ludwig zu Taschner und Olaf und ich sind frei. (…) Wir gehen von Tegernsee zufuss bis zur Überfahrt nach Egern. Dort essen wir beim Bachmeier mit Thoma und einem alten, kleinen Professor. Nachdem wir noch mit ihnen allen Kaffee getrunken haben, befreien wir uns energisch und ziehen mit vielem Dank davon!“ Am Dienstag, 27. August 1907 heißt es dann, Abschied von den Freunden und vom See zu nehmen: „Und weil das Geld gekommen ist, können wir um 2 Uhr abreisen, nachdem wir noch am See Kaffee getrunken haben. Wir schauen zum Fenster hinaus und wollen sicher nach Tegernsee ziehen.“

Ludwig Thoma mit Fotoapparat
(c) Münchner Stadtbibliothek/Monacensia

Das Foto, das die gemeinsamen Tage der jung Vermählten am Tegernsee festhält, ist wohl am Samstag, den 24. August 1907 in Abwinkl entstanden. Die Beschriftung trägt jedoch das Datum 27. August 1907. Das ist möglicherweise der Tag, an dem das Foto entwickelt wurde. Da der Zeichner Th.Th. Heine in den sehr detaillierten, zum Teil unveröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Grete Gulbransson mit keinem Wort erwähnt wird, war er auch bei dieser Landpartie am Tegernsee nicht zugegen. Als Fotograf dieses im privaten Rahmen entstandenen Schnappschusses kommt eher Peter Thoma, Bruder von Ludwig Thoma, in Frage. Er war bei der Landpartie dabei und wird von Grete Gulbransson erwähnt. Peter Thoma war eng mit Emil Ganghofer, Bruder von Ludwig Ganghofer, befreundet, der als Fotograf tätig war. Dass Ludwig Thoma auch mit einem Fotoapparat umgehen konnte, dokumentiert ein Foto, das ihn mit Fotoapparat in der Hand zeigt. Möglicherweise hat er ihn für die Gruppenaufnahme zur Verfügung gestellt. Auch weitere Fragen bleiben offen: Wer ist Nelly Gerstle? In welchem Bezug zur Abwinkler Tischgesellschaft steht sie? Warum blickt sie den Fotografen so offen an? Hat möglicherweise ihr Begleiter das Foto gemacht? Und wer könnte das gewesen sein? Eines jedoch steht jetzt schon fest: Thomas Theodor Heine mied auch an besagtem Wochenende den Tegernsee.

Mit großem Dank an Prof. Dr. Thomas Raff, München, für Hinweise und an Detlef Seydel, Berlin, für die Bereitstellung der unveröffentlichten, transkribierten Textstellen der Tagebücher von Grete Gulbransson:

Von Dr. Elisabeth Tworek, Leiterin der Monacensia im Hildebrandhaus

Thomas Theodor Heine im Autorenlexikon des Literaturportals Bayern
Simplicissimus im Zeitschriftenlexikon des Literaturportals Bayern

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