Die nicht ganz einfache Suche nach rassismuskritischer Kinderliteratur

Diskriminierung im Kinderbuch wird immer wieder heiß diskutiert. Auch die Münchner Stadtbibliothek setzt sich mit dem Thema auseinander. Auf unserem Blog bieten wir verschiedene Beiträge an, die in das Thema einführen sollen.

Anlässlich der Internationalen Wochen gegen Rassismus 2021 haben wir nach rassismuskritischen Medien gesucht, die wir unserem Publikum empfehlen können. Welchen Herausforderungen wir damals bei der Suche nach passenden Kinderbüchern begegneten und was sich seitdem getan hat, davon berichten wir hier:

Auf der Suche nach anderen Geschichten

Ganz einfach, dachten wir, als wir 2021 Titel im Katalog recherchierten, die sich entweder thematisch mit Rassismus auseinandersetzen oder nicht-weiße Lebenswelten abbilden. Dabei fanden wir jedoch ziemlich schnell heraus: Kinder- und Jugendmedien, die Personen of Color ins Zentrum der Erzählung setzen und nicht in Afrika oder Asien spielen, gab es nur wenige – zumindest auf Deutsch. Im Podcast Lesezeichen Junior aus dem Monat März 2021, der ebenfalls hier im Blog zu finden ist, stellten einige unserer Bibliothekar*innen Buchtitel vor, die einmal ganz andere Geschichten erzählen. Dabei stand uns Dr. Élodie Malanda, Literaturwissenschaftlerin und Humboldtstipendiatin, mit Rat und Tat zur Seite. In dem Interview, das sich an die Medientipps anschließt, beschreibt sie, wie es um rassismuskritische Kinderliteratur in Deutschland steht, welche Konsequenz das Fehlen von positiven Rollenvorbildern für Kinder of Color hat und was die Schwierigkeit bei vielen gut gemeinten Titeln ist.

Bei unserer Recherche fanden wir einige solcher gut gemeinten Titel, die zum Beispiel von der Freundschaft zwischen Kindern aus verschiedenen Kulturen erzählen. Wir dachten zuerst, dass diese Bücher alle wunderbar in unsere Auswahl rassismuskritischer Kinderliteratur passen würden. Doch beim genaueren Hinsehen stellte sich heraus, dass auch diese Geschichten, wie von Dr. Élodie Malanda beschrieben, rassistische Klischees reproduzieren und problematische Botschaften versenden können. Wir stellen hier zwei Beispiele vor.

Gut gemeint, aber nicht gut gemacht

“Der Tag, als Saida zu uns kam“ (Susana Gómez Redondo / Sonja Wimmer – Peter Hammer Verlag) schildert in wunderschönen Illustrationen die Freundschaft zwischen dem marokkanischen Mädchen Saida und ihrer deutschen Freundin, die aus der Ich-Perspektive das Geschehen beschreibt. Besonders ist, dass die beiden Mädchen sich gegenseitig ihre Sprachen beibringen und gegen Ende deutsche und arabische Worte die Seiten zieren – ein Beitrag für interkulturelle Verständigung. Aber ist dieses Bilderbuch, das sich für Toleranz und kulturübergreifende Freundschaft einsetzt, auch frei von Rassismen?

Der Titel der Geschichte suggeriert, dass es um Saida geht, aber eigentlich kommt sie auf den ersten Seiten praktisch nicht vor. Erst als sich das weiße Mädchen auf die Suche nach Saidas Worten macht, tritt sie durch deren Augen in Erscheinung. Saida ist traurig und passiv. Nur durch die Unterstützung ihrer weißen Freundin wird das Mädchen zu einer handelnden Person. Das Motiv des white saviourism, also der weißen Held*innenfigur, die die als „fremd“ gelesene Figur rettet, ist hier ganz deutlich. Es bietet wenig Identifikationsfläche für Kinder of Color, die sich als handelnde Subjekte sehen wollen. Auch problematisch sind die Zeichnungen, die Saidas Heimat in einer Wüstenlandschaft samt Palmen und Kamelen und jenseits jeglicher Zivilisation verorten. Die Geschichte „Der Tag, als Saida zu uns kam“ ist eine gut gemeinte Kindergeschichte, die zwar Toleranz und Freundschaft in den Fokus setzt, jedoch die stereotype Darstellung von Kindern of Color und deren Lebensrealitäten nicht durchbricht.

Ein Buch, das es ähnlich gut meint, jedoch auf wesentlich weniger subtile Art problematische Botschaften sendet, ist „Aminah gehört zu uns“ (Petra Mönter / Susanne Meier – kizz in Herder). Hier wird die Geschichte des syrischen Mädchens Aminah erzählt, das neu in die Klasse kommt und von Schüler*innen einer höheren Klasse aufgrund ihres als „fremd“ gelesenen Aussehens gemobbt wird. Auch sie kann sich nicht selber helfen und wird von ihrer Klasse „gerettet“. Sehr schwierig ist die permanente Betonung von Aminahs „Fremdheit“, ein Motiv, das sich durch die ganze Geschichte zieht und die Kinder in weiß und nicht-weiß einteilt. Die Dialoge halten die Beleidigungen der älteren Schüler in direkter Rede fest und reproduzieren dadurch Rassismus. Wie soll sich ein Kind of Color fühlen, wenn es dieses Buch in den Händen hält und dadurch wieder mit dem Rassismus konfrontiert wird, den es auch im Alltag erlebt?

Wie tief verwurzelt struktureller Rassismus in unserer Gesellschaft ist, zeigt sich besonders in einer Szene, die vor einem Reisebüro spielt. Im Schaufenster hängen Bilder von Afrika: Leere Landschaften ohne Zivilisation, nur Bäume und Tiere weit und breit. Darunter steht ein Koffer, auf dem ein Kolonialhelm thront. Es ist schon verwunderlich, dass ein Bilderbuch, das sich selber auf die Fahnen schreibt, einen Beitrag gegen Rassismus zu leisten, mit der unreflektierten Verwendung eines Symbols arbeitet, das für die Beherrschung und Unterdrückung ganzer Kontinente steht und dadurch den strukturellen Rassismus in der Gesellschaft als Narrativ an Kinder weitergibt und aufrechterhält.

Es gäbe noch einige weitere Beispiele in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, die mehr Rassismus reproduzieren, als diesen abzubauen. Offensichtlich sind insbesondere gut gemeinte Bilderbücher oft höchst problematisch. Ob sie reale Settings abbilden oder mit Tierallegorien arbeiten, viele versuchen Toleranz zu vermitteln, in dem sie einzelne Figuren auf ihre vermeintliche „Fremdheit“ reduzieren und eine weiße Figur zu deren Rettung auserwählen. Diese Bücher geben weißen Kindern ein Gefühl von Individualität und Selbstverwirklichung, reduzieren Kinder of Color jedoch auf die Rolle der passiven Beobachter*innen, die lediglich der Charakterentwicklung der weißen Held*innen dienen. Sie bieten Kindern of Color keinerlei Identifikationsfläche an.

Was sich in den letzten Jahren getan hat

Seit 2021 hat sich einiges bewegt. Die Verlage haben erkannt, dass es Handlungsbedarf gibt und einige Titel mit Held*innen of Color aus anderen Sprachen übersetzt oder auf Deutsch verlegt. In diesen Büchern werden Lebenswelten von Kindern- und Familien of Color präsentiert ohne, dass es eine weiße Figur zur Einordnung braucht. Mehr und mehr werden in der Verlagswelt auch sogenannte Sensitivity Reader eingesetzt. Sie lesen Bücher vor der Veröffentlichung im Hinblick auf Rassismus und geben den Verlagen kritische Rückmeldungen.

Die Münchner Stadtbibliothek hat in den vergangenen drei Jahren den eigenen Bilderbuchbestand auf der Suche nach diskriminierungskritischen Titeln durchforstet und empfiehlt empfehlenswerte Medien u.a. mit Kindern of Color in der Hauptrolle im Katalog. Die von uns ausgewählten Titel finden Sie im Katalog unter Medienliste Diversität. Unsere Tipps haben auch wir vorab Sensitivity Reader kritisch lesen lassen. Damit wollen wir einen Beitrag dazu leisten, diskriminierungskritische Medien sichtbar zu machen.

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