Verbotenes Wasser

Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss (Roman)

Erzählt wird in dem grandiosen Debütroman „Der dunkle Fluss“ von Chigozie Obioma ein erschütterndes Familiendrama, das uns gleichzeitig tief in die Lebensweise und die Kultur Nigerias während der Neunziger Jahre eintauchen lässt.

Die Familiengeschichte wird aus der Sicht des neunjährigen Benjamin geschildert, der mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern in einer nigerianischen Kleinstadt lebt. Als der Vater aus beruflichen Gründen in eine weit entfernte Stadt versetzt wird, reagiert die Mutter sehr wütend und verständnislos aus der Sorge heraus, nun die Kinder alleine großziehen zu müssen.

Immer, wenn ich über unsere Geschichte nachdenke, darüber, dass wir nie wieder als die Familie zusammenlebten, die wir immer gewesen waren, wünschte ich – noch heute, zwei Jahrzehnte später –, er wäre damals nicht gegangen, er hätte dieses Versetzungsschreiben nie erhalten. Bevor der Brief kam, war alles in Ordnung gewesen: Vater fuhr jeden morgen zur Arbeit, und Mutter, die einen Stand auf dem Markt hatte … kümmerte sich um mich und meine fünf Geschwister. Alles ging seinen natürlichen Gang. Wir dachten nicht an gestern. Zeit spielte keine Rolle damals.

der-dunkle-fluss_2-coverTragischerweise kommt es dann auch so, wie von der Mutter befürchtet: Benjamin und seine drei älteren Brüder, die sich zunehmend der Autorität des Familienoberhauptes entziehen, verstoßen gegen das strikte väterliche Verbot, sich dem Fluss zu nähern, der in der Nähe des Dorfes vorbeifließt. Unter den Dorfbewohnern gilt dieses Gewässer als „Quelle düsterer Gerüchte“, an dem es zu unerklärlichen Vorfällen kommt (Leichen treiben darin, seltsame Rituale wurden beobachtet, eine Sekte hat sich hier niedergelassen). Sich darüber hinwegsetzend, fangen die Geschwister an, darin regelmäßig zu fischen. Eines Tages treffen sie dabei auf den stadtbekannten, verrückt gewordenen Obdachlosen Abulu, der Ikenna, dem ältesten Bruder, bei diesem Zusammentreffen einen gewaltsamen Tod prophezeit. Schockiert von dieser Wahrsagung, aber auch gebrochen von der grausamen Bestrafung des Vaters – da er das Verbot, sich dem Fluss zu nähern missachtet hat – beginnt sich der Junge radikal zu verändern und löst damit eine Kette von Ereignissen aus, an deren Ende die Familie vollständig zerstört ist.

Welch ein kraftvolles, wuchtiges und bestürzendes Buch, in dem mit klarer Sprache so überzeugend der schwierige Kampf zwischen Tradition und Moderne gefochten wird. Am Ende jedoch ist der Aberglaube, das Mystische in allem Tun so viel stärker in den Menschen verwurzelt, dass es alle Bestrebungen nach einem modernen Leben erstickt. So erleben wir zwar den hart arbeitenden Vater, dessen ehrgeiziges Ziel es für seine Kinder ist, durch Bildung – sie sollen mal in Kanada studieren und Ärzte und Anwälte werden – den sozialen Aufstieg zu erlangen. Wie kann da nur die wirre Prophezeiung eines Obdachlosen die Welt dieser Familie so aus den Fugen geraten lassen? Wie kann Aberglaube nur die reale Welt so zerstören?

„Ein großer Roman über die Schönheit und Abgründe Afrikas“, heißt es auf der Rückseite des Buches. Das stimmt uneingeschränkt! Eine mir so unbekannte Welt wird unfassbar berührend, eindringlich und glaubhaft beschrieben.

Chigozie Obioma: Der dunkle Fluss. Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. 313 Seiten, Aufbau Verlag

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