Die Praxis einer offenen Stadtgesellschaft fordert unsere Demokratie heraus. Welche Kultur und welche Institutionen brauchen wir, die diese Offenheit moderieren und kuratieren? Die Halt anbieten, aber keine Meinungen vorgeben? Welche Rolle spielen lokale Gruppen oder Organisationen dabei? Wie gestalten wir öffentliche Räume gemeinsam für eine Gesellschaft, die Komplexität als Gestaltungsauftrag annimmt?
Diese Fragen stellt das Symposium Public! Debatten über Öffnung und Demokratie, das in dieser Woche in der Stadtbibliothek Am Gasteig stattfindet. Und am 11. März folgt das Offene SZ-Werkstattgespräch: Reden mit Rechts. Demokratie und Populismus – das sind zwei Themen (oder zwei Seiten eines Themas?), über die aktuell viel gesprochen und diskutiert wird. Damit ihr mitreden und mitdenken könnt, wie es mit der Gesellschaft weitergehen sollte oder könnte, haben wir hier ein paar Buchtipps für euch. (Ein Klick aufs Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)
Persönliche Empfehlung
Wilhelm Heitmeyer: Autoritäre Versuchungen
In Europa haben sich seit Anfang dieses Jahrhunderts rechtspopulistische Parteien als dritte Kraft nach, neben und zuweilen auch schon vor konservativen und sozialdemokratischen Parteien etabliert. Woher kommt diese ‚autoritäre Versuchung‘, die wir Europäer schon längst überwunden glaubten? Heitmeyer, ehemaliger Leiter des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung geht dieser Frage aus soziologischer Perspektive nach.
Wir alle haben ein Bedürfnis nach Sicherheit und Anerkennung, im privaten wie auch im öffentlichen Leben. Diese Sicherheit ist bedroht durch die ‚Ambivalenz der Moderne‘. So haben wir im privaten Bereich einerseits mehr Gestaltungsmöglichkeiten als frühere Generationen, gleichzeitig birgt diese Freiheit auch die Gefahr von Entwurzelung und Kontrollverlust. Zu diesen Unsicherheiten im Privaten, die Ängste vor sozialem Abstieg und Statusverlust hervorrufen, kommt die ‚Entsicherung‘ im politischen Leben. Durch islamistische Terroranschläge, wirtschaftliche Umbrüche und Flüchtlingsbewegungen sind bei vielen Menschen Ängste und Bedrohungsgefühle entstanden. Heitmeyer spricht in diesem Zusammenhang von den letzten beiden Jahrzehnten (2000-2018) als ‚entsicherten Jahrzehnten‘.
Heitmeyers Untersuchungen zu autoritären Haltungen in der deutschen Bevölkerung seit Anfang des Jahrtausends zeigen, dass der entscheidende Treiber für autoritäre Versuchungen die individuelle Betroffenheit und eine allgemeine Enttäuschung über die herrschende Politik sind. Dazu kommt, dass es bei Teilen der Bevölkerung einen ‚Vorrat‘ an gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen gibt, der durch entsprechende Vorfälle – Heitmeyer spricht hier von ‚Signalereignissen‘ – aktiviert wird.
Die größte Versuchung dabei ist die Vereinfachung. Gesellschaftliche Entwicklungen sind geprägt von Komplexität, Unübersichtlichkeit, Beschleunigung. Politische Diskussionen und Entscheidungen in einer liberalen Demokratie sind oft mühsam, langwierig und von Kompromissen geprägt. Rechtspopulistische Gruppierungen bieten hier einfache Lösungen an: Volk vs. Elite, Einheimische vs. Fremde, kurz gesagt: ‚Wir‘ vs. ‚Die‘.
Im Abschlusskapitel wirft der Soziologe einen pessimistischen Blick auf mögliche ‚Zukünfte‘: die anstehenden gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme sind nur langfristig und global anzupacken, schnelle Lösungen nicht in Sicht. Das stellt große Anforderungen an die Ambiguitätstoleranz (= das Aushalten unklarer, mehrdeutiger Situationen) der Bürgerinnen und Bürger. Und sie ist eine Herausforderung für Gegenbewegungen, die für eine offene Gesellschaft und eine liberale Demokratie eintreten. Waltraud / Stadtbibliothek Am Gasteig
edition suhrkamp, 394 Seiten
Demokratie und Populismus: Empfehlungen der Sachbuchbestenliste
Isolde Charim: Ich und die Anderen
Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Jede Kultur steht neben anderen, es gibt keine selbstverständliche Zugehörigkeit mehr. Doch was ist das überhaupt – eine pluralisierte Gesellschaft? Und was heißt es für den Einzelnen, in einer solchen zu leben? Die Außenperspektive – dass es nämlich immer anders sein könnte, dass man etwas anderes glauben, anders leben könnte – ist heute Teil jeder Kultur. Und diese Veränderung betrifft jeden. Sie verändert den Bezug zur Gemeinschaft, zur eigenen Identität. Die Philosophin Isolde Charim wendet ihre These auf verschiedene Themen an, von der Politik zur Integration über die Definition des Heimatbegriffs bis hin zu den Debatten um religiöse Zeichen. (Verlagstext)
Paul Zsolnay Verlag, 224 Seiten, 22 Euro
Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie
In der Zeit zwischen den Weltkriegen geriet die Demokratie in die Krise. Kommunismus und Faschismus boten Modelle einer alternativen Moderne. Anders als der Niedergang des politischen Liberalismus vermuten lässt, gehören die damaligen intellektuellen Debatten über die Grundlagen der Demokratie zum essentiellen Bestand der politischen Theorie. Jens Hackes ideengeschichtliche Studie führt vor Augen, wie seit den 1920er Jahren Ideen entwickelt wurden, die die Welt nach 1945 prägen sollten und im Lichte gegenwärtiger Krisenphänomene neue Aktualität beanspruchen: die Totalitarismustheorie, das Konzept der wehrhaften Demokratie und die Vorstellung von einem gezähmten Kapitalismus. (Verlagstext)
Suhrkamp Verlag, 452 Seiten
Martha Nussbaum: Königreich der Angst
Die aktuelle Stimmung in der westlichen Welt ist gekennzeichnet durch eine scharfe gesellschaftliche Spaltung, eine Rhetorik der Ausgrenzung und die Unfähigkeit der gesellschaftlichen Lager, miteinander zu kommunizieren. Martha Nussbaum nimmt den Kern des Problems in den Blick, der in vielen Analysen zu kurz kommt: Das Politische ist immer auch emotional. Die Globalisierung hat bei zahlreichen Bürgern und Bürgerinnen der westlichen Gesellschaften ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorgerufen, das zu Ressentiments und Schuldzuweisungen führt: Schuld an der Misere sollen wahlweise die Immigranten sein, die Muslime, andere „Rassen“, die kulturellen Eliten …
Nussbaum zeigt, dass diese Mechanismen auf allen Seiten des politischen Spektrums am Werk sind – links ebenso wie rechts – und stellt Überlegungen an, wie gespaltene und polarisierte Gesellschaften wieder zusammenfinden könnte. (Verlagstext)
wbgTheiss, 304 Seiten, aus dem Englischen von Manfred Weltecke
Steven Levitsky, Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben
Demokratien sterben mit einem Knall oder mit einem Wimmern. Der Knall, also das oft gewaltsame Ende einer Demokratie durch einen Putsch, einen Krieg oder eine Revolution, ist spektakulärer. Doch das Dahinsiechen einer Demokratie, das Sterben mit einem Wimmern, ist alltäglicher – und gefährlicher, weil die Bürger meist erst aufwachen, wenn es zu spät ist. Mit Blick auf die USA, Lateinamerika und Europa zeigen die beiden Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, woran wir erkennen, dass demokratische Institutionen und Prozesse ausgehöhlt werden. Und sie sagen, an welchen Punkten wir eingreifen können, um diese Entwicklung zu stoppen. Denn mit gezielter Gegenwehr lässt sich die Demokratie retten – auch vom Sterbebett. (Verlagstext)
DVA, 320 Seiten, aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Virginie Despentes: King Kong Theorie
Gleich zu Beginn ihres autobiografischen Essays stellt Virginie Despentes klar, für wen sie schreibt: für die Unzufriedenen, die Ausgegrenzten, für die, die in keine Schublade passen. Ein wütendes Pamphlet gegen Männlichkeitswahn, das Opferdasein und die Beschränkung des Menschen auf Geschlechter- und Rollenklischees. Außerdem ein Plädoyer für das Recht auf Selbstbestimmung, das „Aus-der-Rolle-Fallen“ und für ein – wenn nötig auch radikales – Eintreten für sich selbst. (Verlagstext)
Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, aus dem Französischen von Claudia Steinitz und Barbara Heber-Schärer
Der »Kampf der Kulturen«, die Debatte um »den« Islam, um Geflüchtete, Rassismus, Feminismus oder »politisch korrekte« Sprache, um die Rechte der Tiere – immer geht es darum, im Namen eines »Wir« zu sprechen, sich abzugrenzen oder zu inkludieren, sich zu mobilisieren und zu organisieren. Die Intensität dieser Wir-Bildungen nimmt wieder enorm zu. Garcia tritt einen Schritt zurück und entwirft ein allgemeines Modell, das anhand von Mechanismen der Konturierung, Überlappung und Priorisierung zeigt, wie solche Wir-Identitäten gebildet werden. Und er erzählt die Geschichte ihrer Dynamik, ihrer Kontraktionen und Extensionen: eine Geschichte von Herrschaft und Widerstand. (Verlagstext)
Suhrkamp Verlag, 332 Seiten, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann
Madeleine Albright: Faschismus. Eine Warnung
Weltweit kommt es zu einem Wiedererstarken anti-demokratischer, repressiver und zerstörerischer Kräfte. Die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright zeigt, welche großen Ähnlichkeiten diese mit dem Faschismus des 20. Jahrhunderts haben. Die faschistischen Tendenzen treten wieder in Erscheinung und greifen in Europa, Teilen Asiens und den Vereinigten Staaten um sich.
Albrights Familie stammt aus Prag und floh zweimal: zuerst vor den Nationalsozialisten, später vor dem kommunistischen Regime. Auf Grundlage dieser Erlebnisse und der Erfahrungen, die sie im Laufe ihrer diplomatischen Karriere sammelte, zeichnet sie die Gründe für die Rückkehr des Faschismus nach. Sie identifiziert die Faktoren, die zu seinem Aufstieg beitragen und warnt eindringlich vor den Folgen.
Doch Madeleine Albright bietet auch klare Lösungsansätze an, etwa die Veränderung der Arbeitsbedingungen und das Verständnis für die Bedürfnisse der Menschen nach Kontinuität und moralischer Beständigkeit. Sie zeigt, dass allein die Demokratie politische und gesellschaftliche Konflikte mit Rationalität und offenen Diskussionen lösen kann. (Verlagstext)
Dumont, 321 Seiten, aus dem Englischen von Bernhard Jendricke und Thomas Wollermann
Philip Manow: Die Politische Ökonomie des Populismus
Populismus ist ein vielgestaltiges Phänomen. Mal ist er rechts, mal links; mal artikuliert er Protest gegen offene Märkte, mal wendet er sich gegen Migration. Auch in der geografischen Verteilung zeigt er sich variantenreich: In Südeuropa dominiert der Links-, in Nordeuropa der Rechtspopulismus. Philip Manow entwickelt eine vergleichende Erklärung für dieses zunächst widersprüchlich erscheinende Bild. Den Ausgangspunkt bilden die jeweiligen wirtschaftlichen Wachstumsmodelle, die Verfasstheit von Arbeitsmarkt und Sozialstaat, kurz die jeweiligen Politischen Ökonomien. Es zeigt sich: Wer vom Populismus reden will, aber vom Kapitalismus nicht, landet immer nur bei Identitätspolitik – und wird dann unweigerlich selbst Partei im Streit. (Verlagstext)
edition Suhrkamp, 160 Seiten
Ethel Matala de Mazza: Der populäre Pakt
Die Geschichte der Moderne wird gerne als eine Bewegung erzählt, die von der sogenannten »Hochkultur« ausging, von Philosophie oder Dichtung, von Traktaten und Romanen. Ethel Matala de Mazza zeigt hingegen, dass die »populären Formen« einen ebenso großen Anteil am Durchbruch der Moderne hatten. Indem sie sich Genres wie Operette oder Feuilleton und ihren sozialen Einsätzen und ästhetischen Verfahren widmet, gelingt es ihr, das Politische im Populären zu finden und zu analysieren, wie diese Formen darauf antworten. Entstanden ist eine neue Geschichte der Transformation der Öffentlichkeit durch populäre Formen, in denen soziale Poetik und ästhetische Soziologie verschränkt werden – und die unmittelbar mit dem Schicksal dessen verknüpft sind, was nun »Gesellschaft« heißt. (Verlagstext)
S. Fischer Verlag, 480 Seiten
Featured Image:Matteo Paganelli / Unsplash