Kit de Waal: Mein Name ist Leon (Roman)
London, 1981: Die Hochzeit von Charles und Diana steht bevor, und alle sind vor Aufregung ganz aus dem Häuschen. Nur Leons Mutter bekommt mal wieder nichts auf die Reihe. Tief versunken in einer schweren Kindbettdepression vernachlässigt die alleinerziehende Mutter ihre beiden Jungs. Aber Leon liebt seine Mama und seinen kleinen Bruder. Mit seinen fast neun Jahren passt er auf seine Mama auf, wenn sie mal wieder traurig ist und kümmert sich liebevoll um Jake.
Er hat ein paar Wochen gebraucht, es hinzukriegen, aber jetzt könnte er jedem genau erklären, was man tun muss, wenn man auf ein Baby aufpasst.
Leon ist unglaublich fürsorglich, seine Sicht auf die Welt ist kindlich-naiv – als wäre alles, was passiert, Teil eines Comicstrips; seine Handlungen sind jedoch furchtbar selbstzerstörerisch. Er übernimmt viel zu viel Verantwortung, entwickelt aus lauter Frustration und Überforderung kriminelle Ambitionen und schwänzt, obwohl er ein recht guter Schüler ist, ständig die Schule.
Carol hat sich früher immer bei ihm entschuldigt, wenn sie ihn angeschrien hat, aber in letzter Zeit vergisst sie das. Deshalb wird er sich morgen 20 Pence aus ihrem Geldbeutel nehmen. Für zwanzig Pence bekommt er ein Twix auf dem Heimweg von der Schule, und er wird das Einwickelpapier einfach auf den Boden werfen, weil ihm nämlich alles egal ist.
Schließlich sind die Zustände so unhaltbar, dass das Jugendamt eingreifen muss. Die Mutter der beiden Jungs taucht unter, und Leon und sein Bruder werden getrennt. Jake wird recht schnell von einer neuen Familie adoptiert, Leon hingegen, der einen anderen Vater als Jake hat, ist schon groß, dunkelhäutig und gilt daher als nicht vermittelbar. Auf die Frage warum sein Bruder adoptiert wird, er aber nicht, bekommt er den unverhohlenen Rassismus der Achtzigerjahre zu spüren:
Weil er ein Baby ist, ein weißes Baby. Und du bist das nicht. Ganz offensichtlich.
Die Pflegemutter Maureen, zu der Leon kommt, bietet ihm Stabilität und die Möglichkeit, wieder Kind sein zu dürfen. Auch wenn Leon bemängelt, dass sie nicht so hübsch sei wie seine Mama und ihn nicht so viel fernsehen lasse, weiß er ihre Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit zu schätzen:
Das hat Maureen gesagt. Und sie ist die Einzige, die noch nie gelogen hat.
Als Leon mit dem BMX die Gegend erkundigt und sich mit den Pächtern der nahegelegenen Schrebergartensiedlung anfreundet, könnte man schon meinen, er habe sich in sein neues Leben gefügt. Doch Leon hat das Herz eines Kämpfers und fasst einen ebenso ambitionierten wie fatalen Plan: Er will die Familie wieder zusammenbringen. Koste es was es wolle.
Ihr bringt ihn dazu, mich zu vergessen. Ihr habt ihn weggenommen, damit er mich vergessen kann. Ihr denkt, dass ihr wisst, was er will, aber das stimmt nicht. Das weiß nur ich.
Der Roman wühlt auf, ich habe die ganze Zeit mit Leon mitgefiebert, seinen Trotz nachempfinden können, mich mit ihm gefreut und geärgert. Es gibt selten Bücher, in denen die Kindperspektive so authentisch eingenommen wird. Das Buch ist trotz der ernsten Thematik keine „schwere Lektüre“, teilweise liest sich der Roman eher wie ein Abenteuerroman.
Die Autorin ist irisch-karibischer Abstammung und bindet in ihrem Debütroman viele persönliche Erfahrungswerte mit ein, die in dem Verlagsinterview mit Rowohlt nachzulesen sind, außerdem ist sie Spezialistin für Adoptionsfragen und hat selbst zwei adoptierte Kinder.
Kit de Waal: Mein Name ist Leon. Aus dem Englischen von Katharina Naumann. 320 Seiten, Rowohlt Verlag