#wirbibliotheken: Bibliothek in der Krise – Erste Autopsie

Vor rund einem Jahr startete die Vernetzungsaktion #wirbibliotheken von Münchner Stadtbibliothek und Deutschem Bibliotheksverband (dbv) auf diesem Blog. Heute nimmt Katrin Schuster (Referentin der Direktion der Münchner Stadtbibliothek) eine erste Autopsie der Bibliothek in der Krise vor.

Als am 11. Mai 2020 die Stadtbibliothek Am Gasteig, die Zentrale der Münchner Stadtbibliothek, nach zweimonatiger Schließung wieder die Türen für das Publikum öffnete, baten wir die ersten Besucherinnen und Besucher, ein paar Sätze in eine Kamera zu sagen. „Vermisst“ war eines der meistgenannten Wörter, und das zielte nicht nur auf die Menschen und die Bücher, sondern auch auf den Ort als solchen. „Früher war ich fast jeden Tag hier“, erzählte ein älterer Mann, und dieses „Früher“ beschreibt recht treffend, wie fern das Leben im Jahr 2019 liegt.

Heute wissen wir, was alles in einer Gesellschaft durcheinander gerät, wenn sich der menschliche Atem als gefährlich vorstellt und jede körperliche Anwesenheit ein schwer einschätzbares Risiko birgt. Das eigene Home soll nun also auch als Office und als School taugen; die „dritten Orte“, an denen die Öffentlichkeit mit all ihren Zufällen agiert, wurden sämtlich geschlossen – und bislang nicht in alter Form wiedereröffnet. Keine guten Zeiten für die non-formale Bildung.

Verluste unterschiedlichster Art

Der Verlust ihrer Aufenthaltsqualität trifft Öffentliche Bibliotheken freilich ins Herz und beherrscht völlig zurecht die Debatten über die Folgen der COVID19-Pandemie. Weil es dabei eben nicht vordringlich um Maker Spaces und Partizipationslabs geht, sondern ganz profan um Computer, Drucker und Internetzugänge. Während der Lockdowns sammelten sich vor den Zweigstellen der Münchner Stadtbibliothek Menschen, die das offene W-LAN, das wir nicht abgeschaltet hatten, nutzen wollten. Eine der ersten Nachfragen bei der Wiedereröffnung galt dem Kopierer, eine andere Nutzerin war sichtbar glücklich, nach zwei Monaten endlich wieder ihre Mails abzurufen. Menschen ohne privaten Zugriff auf digitale Infrastrukturen verloren während der Lockdowns mithin mehr als nur einen Ort, den Zugang zur gewussten Welt nämlich. Ein gefundenes Fressen für Verschwörungsideologen.

Auch Bibliotheken gewahrten, und davon ist überraschend selten die Rede, eine bis dato nie erlebte Beschneidung ihres Medienbestands. In der Münchner Stadtbibliothek sprechen wir beispielsweise von zwei Million Medien, die insgesamt über fünf Monate schlichtweg nicht verfügbar waren für die Stadtgesellschaft. Immerhin ein Drittel (März 2020) bzw. knapp die Hälfte (Dezember 2020) davon war jeweils außer Haus; wie wohl alle anderen Bibliotheken hatte auch die Münchner Stadtbibliothek an den jeweils letzten Tagen vor einer angekündigten oder erwartbaren Schließung enorme Ausleihzahlen zu verzeichnen. Das Buch scheint also weiterhin etwas zu sein, an das man in schwierigen Zeiten große Hoffnungen knüpft.

Veranstaltungsort Netz

Wohl wissend, dass damit vielleicht neue Zielgruppen erreicht werden, bestehende jedoch nicht mehr, haben Bibliotheken während der Schließzeit getan, was alle anderen auch gemacht haben. Sie haben ihre Angebote und Services soweit als eben möglich ins World Wide Web verlagert. Veranstaltungen wurden auf Youtube gestreamt, Schulungen als Videokonferenz angeboten, Bücher in Form von eBooks verliehen: ein längst fälliger Crashkurs in digitaler Vermittlung, der viel Gutes in Bewegung gebracht hat.

Mehr oder weniger umstandslos nahmen viele Bibliotheken etwa kostenlose Digitalabonnements ins Portfolio auf – im vollen Bewusstsein davon, dass die in Angelegenheiten digitaler Leihe längst aufgebrachte Buchbranche das nicht widerspruchslos hinnehmen wird. Noch schwerer wog offenkundig ihr Bewusstsein ihrer sozialen Aufgabe: den Zugang zu Information, Wissen und Unterhaltung bestmöglich zu gewährleisten. Auch das eine wichtige und gute Erfahrung. Und gelohnt hat es sich zudem, denn die Zahlen der digitalen Leihe stiegen, zumindest in der Münchner Stadtbibliothek, deutlich und bleiben auch weiterhin auf signifikant erhöhtem Niveau.

Vernetzung als nachhaltige Chance

Als nachhaltig im besten Sinne hat sich auf dem Weg zum digitalen dritten Ort auch die Digitalisierung der Programmarbeit erwiesen. Viele Kultur- und Bildungsakteur*innen, nicht nur in Bibliotheken, bestätigen in Umfragen und Interviews, dass sie an digitalen Formaten festhalten werden, auch wenn Veranstaltungen in Präsenz wieder möglich sein werden.

Öffentliche Bibliotheken haben dabei noch etwas Weiteres gelernt: Die Grenzen ihrer Kommune sind nicht die Grenzen ihrer Welt. Online-Veranstaltungen erlauben mehr Teilnehmende als vor Ort und können zudem ortsunabhängig besucht werden. Und so erlebten viele Bibliotheken durch Veranstaltungen in virtuellen Räumen erfreuliche Reichweitensteigerungen, sowohl numerisch als auch räumlich. Eine derart überregionale Sichtbarkeit, die Öffentliche Bibliotheken bislang nur durch vorbildliche Bauprojekte oder viral talentierte Social-Media-Kanäle erreicht haben, ist zweifellos eine neue Erfahrung für die bibliothekarische Programmarbeit.

Welche Chancen das birgt, lässt sich erst erahnen. Im März 2021 hat die Münchner Stadtbibliothek die deutschsprachigen Kinder- und Jugendbibliothekar*innen zu einer Videokonferenz über die Programmarbeit unter pandemischen Bedingungen eingeladen; der enorme Zuspruch der circa 70 Teilnehmenden macht eindrücklich kenntlich, wie groß der Bedarf an einem Austausch über kommunale, föderale und nationale Grenzen hinweg ist. Auch gemeinsame Veranstaltungen – etwa die Diskussion über „Corona-Unsinn im Netz“ der Münchner Stadtbibliothek in Kooperation mit der Stadtbibliothek Köln und der Süddeutschen Zeitung im Mai 2020 – ergaben plötzlich Sinn, nicht nur aus Kostengründen, nicht nur aus Gründen der Reichweite.

Sondern weil Öffentliche Bibliotheken ihrer kommunalen Aufgabe auch dadurch gerecht werden, dass sie neue Wege für den Austausch zwischen Städten und Kommunen eröffnen. Schließlich wächst deren Bedeutung, nicht nur hinsichtlich der Pandemiebekämpfung, sondern auch als Akteurinnen eines nachhaltigen Wandels – während das föderale System aktuell eine riskante Trägheit offenbart. Demokratie, Diversität, Digitalisierung: Die gesellschaftliche Resilienz wird sich nicht im Bundestag beweisen müssen. Sondern vor Ort. In der Bibliothek zum Beispiel.

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