Wer ist sie? Und wie viele?

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte (Roman)

Eine wahre Geschichte? Ein autobiographischer Roman? Oder doch alles Fiktion? Als Leserin kann man sich da nicht sicher sein, denn in diesem Roman wird man ständig in die Irre geführt.

Die Hauptperson im Buch heißt Delphine – genau wie die Autorin. Sie ist ebenfalls Schriftstellerin und hat, wie die Autorin, einen Roman über ihre Familie (Vigan: „Das Lächeln meiner Mutter“) und einen über Mobbing am Arbeitsplatz (Vigan: „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“) geschrieben. Auch ihr Lebenspartner heißt Francois und ist, wie Francois Busnel, mit dem Delphine de Vigan liiert ist, Literaturkritiker. Möglich ist auch, dass die Schriftstellerin tatsächlich eine Schreibblockade hatte. Und es könnte auch sein, dass sie eine Frau wie L. kannte … Oder ist doch alles fiktiv?

Ein raffiniertes Spiel mit dem eigenen Voyeurismus ist dieses Buch auf jeden Fall. Aber ist es überhaupt wichtig, ob dieser Roman reale oder fiktive Geschehnisse schildert? Liest sich ein Roman deshalb anders? Im Roman vertritt L., die Freundin, vehement die Ansicht, dass die Leserinnen und Leser nur noch reale Geschichten lesen möchten. Dass sie nach etwas suchen, was sie zutiefst erschüttert, eben weil es wahr ist. Dass die Erfindung von Hauptpersonen und Plot sie nicht länger fesseln.

Sie haben genug von Märchen und Figuren. Mit romanhafen Wechselfällen und plötzlichen Umschwüngen sind sie zur Genüge gefüttert worden. Die Leute haben die gut geölten Geschichten mit ihren geschickten Aufhängern und Auflösungen satt… Sie erwarten Wahres, Authentisches, sie wollen, dass man ihnen vom Leben erzählt.

Und sie drängt Delphine dazu, eine wahre Geschichte zu schreiben.

L. (sprich: „elle“, französisch für „sie“) ist genau so, wie Delphine immer sein wollte: klug, elegant und eloquent. Sie kann auf Menschen zugehen und durch ihr Einfühlungsvermögen sofort eine vertrauliche Nähe herstellen. Delphine trifft sich gerne und immer häufiger mit ihr. Sie entdecken gemeinsame Interessen, sprechen über Bücher und Filme, die sie mögen, über ihre Familie und Freunde.

cover_viganDelphine erzählt rückblickend von dieser Freundschaft. Sie nimmt von Anfang an eine Bedrohung durch die Freundin wahr und macht verschiedene Andeutungen. Ich wusste aber bis zur Buchmitte nicht, was so zerstörerisch an dieser Frauenfreundschaft sein soll. Doch dann konnte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen…

Delphine bekommt anonyme Drohbriefe, die immer aggressiver werden. Sie sind mit Schreibmaschine geschrieben, tauchen an verschiedenen Stellen im Buch auf und scheinen von jemandem zu stammen, der sie seit ihrer Kindheit kennt.

Nach und nach mischt sich L. immer mehr in das Leben von Delphine ein. Als diese ein schon früher verfasstes Romanmanuskript wiederfindet und es überarbeiten und herausgeben möchte, schöpft man beim Lesen Hoffnung: Sie wird wieder schreiben. Doch L. redet ihr diese Idee so vehement aus, dass das Manuskript wieder in die Schublade verschwindet.

Als die Kinder ausgezogen sind und Delphines Lebenspartner Francois für längere Zeit ins Ausland reisen muss, zieht L. bei ihr ein. Delphine ist inzwischen in einem Zustand, in dem alleine das Hochfahren des Computers zu Übelkeit und Erbrechen führt. Nicht einmal Mails kann sie beantworten. L. übernimmt das für sie, verhandelt mit Verlegern, macht die Steuererklärung, antwortet Freunden, schreibt in Delphines Namen ein Vorwort für ein Buch. Delphine ist froh, dass ihr die Freundin diese Arbeiten abnimmt. L. wird Delphine immer ähnlicher, kleidet sich wie sie, bewegt sich wie sie und so hat sie auch keinerlei Schwierigkeiten sich vor vier Schulklassen als die Autorin auszugeben.

Später, als es Delphine etwas besser geht, entschließt sie sich, über L.s Leben einen Roman zu schreiben. Sie weiß von ihr viele intime Details, die sie auf Audiodateien ihres Handys spricht.

Dann der Zusammenbruch: Delphine wird am frühen Morgen halbnackt und unterkühlt in einem Straßengraben gefunden. Man weiß man nicht, ob man ihr selbst glauben soll, dass sie vor L. geflüchtet ist oder den Medizinern im Krankenhaus, die ihr eine schwere depressive Periode mit Verwirrtheit und Halluzinationen attestieren. Gesichert ist, dass sie Spuren von Schlafmittel und Rattengift im Blut hatte.

Danach bleiben alle Versuche Delphines, L. zu finden erfolglos. Sie ist spurlos verschwunden. Niemand erinnert sich an sie, es gibt keine Beweise ihrer Existenz. Selbst das, was sie Delphine aus ihrem Leben erzählt hat, waren nur Romanfragmente, zusammengestellt aus den Büchern im Wohnzimmerregal.

Dann, eine weiterer Wendpunkt, bekommt Delphine einen Anruf ihrer Lektorin, die sich für ein eingereichtes Manuskript bedankt:

…sie sei völlig durcheinander, es sei ein intelligenter Text, sie habe ihn in einem Zug gelesen, habe ihn nicht aus der Hand legen können, er sei verstörend und fesselnd, ganz sicher das Beste, was ich bisher geschrieben hätte.

Hat L. diesen Text verfasst? Wenn ja: Warum reichte sie ihn dann unter Delphines Namen ein?

Gegen Ende erklärt Delphine bei einer Lesung, dass man nichts anderes als Fiktion schreiben kann:

Selbst wenn etwas geschehen ist, was dem gleicht, selbst wenn es nachprüfbare Fakten sind, bleibt es immer noch eine Geschichte, die man sich erzählt. Wir spielen uns gegenseitig etwas vor. Und im Grunde ist vielleicht das das Entscheidende. Diese winzigen Dinge, die nicht an der Wirklichkeit kleben, sondern sie verändern. Diese Stellen an den Rändern und Ecken, wo sich das Pauspapier ablöst. Denn was man auch tut, es wellt und krümmt sich und es täuscht.

Delphine de Vigan hat für diesen Roman den Prix Renaudot und den Prix Goncourt des Lycéens erhalten. Außerdem wird er gerade von Roman Polanski mit Emanuelle Sagnier verfilmt.

Hier ist die Autorin selbst zu sehen (und ganz kurz auch Francois Busnel):

Zur intelligenten Unterhaltung allen empfohlen!

Delphine de Vigan: Nach einer wahren Geschichte. 350 Seiten, Dumont Verlag.

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