Was wir erinnern, was wir vergessen – Überlegungen zur Erinnerung an Frauen | #femaleheritage

„Was und an wen erinnert Kultur? Und wer organisiert(e) das kollektive Erinnern?“ Das fragt Ariane Rüdiger in ihrem Gastbeitrag für #femaleheritageSie geht auf zwei Beispiele fehlender Erinnerung ein: zum einen die autonome Frauen-/Lesbenbewegung der 70er und 80er Jahre, zum anderen Christa Reinig, Dichterin und Schriftstellerin, die zuletzt in München lebte.

Wegmarke in der Güllstraße 3, München
Wegmarke in der Güllstraße 3, München

Überlegungen und zwei Beispiele zur Erinnerung an Frauen

Unsere Kultur speichert Erinnerungen in offensichtlicher Form, beispielsweise als Denkmal, Straßenname oder Bezeichnung für markante Orte wie Stadien, Plätze, Museen. 

Um kollektive Erinnerungen beispielsweise in Museen, Gedenkstätten oder Archiven aufzufinden, ist dagegen Eigeninitiative nötig.

In diesem Text soll es nur um die offensichtlichen Formen von Erinnerung gehen. Was und an wen also erinnert unsere Kultur? Das hat auch etwas damit zu tun, wer kollektive Erinnerung organisiert. Dies tun in der Regel diejenigen, die gerade die Macht und das Geld haben. Früher leitete sich diese Macht ausschließlich aus der Position in der vorgegebenen gesellschaftlichen Hierarchie her. Heute wird sie demokratisch legitimiert und ergänzt durch viele Formen bürgerlicher Mitbestimmung, die auch Menschen ohne formale Machtposition ermöglichen, Impulse für öffentliches Erinnern zu geben.  

In den bestehenden älteren Erinnerungsmalen spiegeln sich die Werte der damaligen Machthaber Denn diese Träger institutionalisierter Macht finanzierten den Bau der Denkmäler und gaben die Standorte außerhalb privater Einflusszonen frei. 

Aufgrund früherer Werthaltungen finden wir beispielsweise viele Denkmäler von erfolgreichen Kriegern oder Regenten, aber nur sehr wenige von realen Frauen, erst recht nicht von solchen, die den herrschenden gesellschaftlichen Werten irgendwie widersprachen, mögen ihre Leistungen auch noch so beachtlich sein. 

Im Mittelpunkt der Erinnerung standen und stehen zudem bis in die jüngste Zeit meist entweder heldenhafte Einzelne oder Allegorien (die dürfen auch gern mal weiblich sein wie die Bavaria), seltener aber Prozesse.

Das ändert sich in dem demokratischen Staatswesen von heute langsam und schrittweise: Die patriarchal-autoritären Überzeugungen der Kaiserzeit und des Dritten Reichs sind in der Erinnerungskultur noch sehr präsent. Erst mit dem Vorrücken jüngerer, bereits demokratisch geprägter Menschen in die entsprechenden Gremien wandeln sich die Werte, die entscheiden, was der kollektiven, dauerhaften Erinnerung für wert befunden wird. An zwei Beispielen der Erinnerung beziehungsweise fehlenden Erinnerung möchte ich das erläutern. 

1. Autonome Frauen-/Lesbenbewegung der 70er und 80er Jahre

Das erste Beispiel ist die autonome Frauen-/Lesbenbewegung der 70er und 80er Jahre. Sie machte auf die allgemeine Benachteiligung von Frauen in Familie und Gesellschaft aufmerksam und kämpfte aktiv gegen sie an. Genauso wichtig: Sie thematisierte die allseits vorhandene und vielfach als vollkommen selbstverständlich hingenommene Gewaltausübung gegenüber Schwächeren, insbesondere gegenüber Frauen, Kindern und verschiedenen Minderheiten. Aktivistinnen sind dauerhaft gefordert. Sie wurden und werden oft genug diskreditiert in ihren Bemühungen gegen:

  • Schläge als Erziehungsmethode, 
  • ein Recht des Mannes auf Sex in der Ehe, 
  • das Recht auf Abtreibung,
  • Scheidungsrecht nach dem Schuldprinzip, 
  • das Tabu, sexualisierte Gewalt und Ausbeutung in allen Bereichen zu benennen, zu sanktionieren und Heilmethoden für die Überlebenden solcher Übergriffe zu entwickeln,
  • materielle Benachteiligung von Frauen und Alleinerziehenden

Langsam ändert sich nun die gesellschaftliche Wahrnehmung solcher Verhaltensweisen, ebenso wie die gesetzlichen Regelungen, obwohl der Umfang von Missbrauch leider immer noch unterschätzt wird und viel zu wenige Fälle vor Gericht enden. 

Erinnerungsmal in München: Wegmarke für ein Projekt der autonomen Frauen-/Lesbenbewegung

Erinnert wird an die autonome Frauen-/Lesbenbewegung der 70er und 80er Jahre im öffentlichen Raum kaum. Deshalb hat das forum queere Geschichte e.V. LesBiSchwul­TransInter* in Geschichte und Kultur, ein von der Landeshauptstadt München geförderter Verein, im Rahmen des von mir entwickelten Wegmarken-Projektes 2018 erstmalig für München eine Erinnerungsstätte errichtet: eine Wegmarke für ein Projekt der autonomen Frauen-/Lesbenbewegung. Es befindet sich vor dem ehemaligen „Treibhaus“, einem der wichtigen Kristallisationspunkte feministisch-lesbischer Aktivitäten in den 70er/80er Jahren, am Zaun des Grundstücks Güllstraße 3 vor dem heutigen Frauentherapiezentrum. Letzteres gehörte auch zu den Gründungsprojekten. 

Wegmarke, München. Erinnerung an Frauen #femaleheritage
Wegmarke, München. Erinnerung an Frauen #femaleheritage

Dankenswerterweise wurde die Realisierung der Wegmarke finanziell und ideell von verschiedenen Einrichtungen und Gremien der Landeshauptstadt München unterstützt. Ausführliche Informationen dazu finden sich auf der Website des forum

Nicht erinnert wird aber weiterhin an viele einzelne Frauenpersönlichkeiten, die Beachtliches geleistet haben. 

2. Christa Reinig – Dichterin und Schriftstellerin 

Mein zweites Beispiel verweist daher auf eine von ihnen, nämlich die Dichterin und Schriftstellerin Christa Reinig. Ihr Leben zeigt prototypisch, wodurch man sich bislang für öffentliche Erinnerung in München disqualifizierte: 

Reinig, geboren am 6.8.1926, wuchs als uneheliches Kind einer Putzfrau in Berlin auf. Sie arbeitete während des Zweiten Weltkriegs in Fabriken und als Blumenbinderin. 1950 bis 1953 studierte sie an der Arbeiter- und Bauernfakultät, dann bis 1957 an der Humboldt-Universität Berlin Kunstgeschichte und Christliche Archäologie und wurde anschließend wissenschaftliche Assistentin am Märkischen Museum. Nebenbei schrieb sie bereits längere Zeit. Ihre Werke wurden auch im Westen gelesen und gelobt. 1964 kam sie anlässlich der Verleihung des Bremer Literaturpreises in die Bundesrepublik und blieb, und zwar in München, wo sie bis zu ihrem Tod 2008 lebte. 

Reinig war durch eine Wirbelsäulenerkrankung und einen falsch behandelten Treppensturz schwer behindert: Sie konnte sich nicht aufrichten und brauchte deshalb eine speziell geschliffene Brille, um die Welt um sich wahrnehmen zu können. Öffentliche Auftritte waren daher nach ihrem Unfall für sie schwierig. Ihre Jugend und diese Erfahrung verarbeitete sie in dem Roman „Die himmlische und die irdische Geometrie“ aus dem Jahr 1975. 

Reinig lebte lesbisch. Eine in Gedichtform abgefasste, 1979 erschienene lesbische Liebesgeschichte „Müßiggang ist aller Liebe Anfang“, machte das offenbar. In den 70ern schloss sich Reinig zeitweise der autonomen Frauenbewegung an. Beides führte dazu, dass sie erheblich weniger publiziert und bei Preisverleihungen seltener wahrgenommen wurde, während man sie zuvor sogar mit Ingeborg Bachmann verglichen und ihr renommierte Preise verliehen hatte. Beispielsweise hatte sie 1969 den Tukanpreis der Landeshauptstadt München, 1973 die Ehrengabe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1975 den Kritikerpreis und 1976 das Bundesverdienstkreuz erhalten. 

Reinig pflegte einen eigenwilligen Sprachstil, hatte Humor (in der deutschen Hochliteratur eine seltene Erscheinung) und brillierte in der kurzen Form. Gedichte und kurze, prägnante, oft auch skurrile Prosastücke waren ihre große Stärke.

Nichts erinnert in München an Reinig, obwohl sie:

  • München und die bayerische Kultur erklärtermaßen liebte und diese Zuneigung sogar in Gedichtform („Schwabinger Marterln. Nebst zwei preußischen Marterln“, erschienen 1968) zum Ausdruck brachte, 
  • den größten Teil ihres Lebens in München verbrachte, zuletzt in einer Wohnung im Münchner Stadtteil Hasenbergl. 

Selbst aus den Filialen der Stadtbibliothek sind die meisten ihrer zahlreichen Werke verschwunden. Nur die Monacensia, die vom breiten Lesepublikum eher selten aufgesucht wird, verwahrt sie noch. Geschieht nicht bald etwas, wird die Erinnerung an diese prägnante Schriftstellerinnenpersönlichkeit weiter verblassen. 

Daher hat die Autorin zusammen mit der Stadthistorikerin Dr. Claudia Mayr im Frühjahr 2020 bei der Stadt München einen Antrag zur Benennung einer Straße oder eines Platzes nach Christa Reinig eingereicht. Bekräftigt wird das Vorhaben durch die Unterschriften zahlreicher wichtiger literarischer Buchhandlungen Münchens sowie weiterer Interessierter. 

Wer mehr über diese große Dichterin Münchens wissen möchte, findet Informationen unter anderem im Biografieportal Fembio, in Wikipedia und im Munzinger-Literaturarchiv.

Autorin: Ariane Rüdiger

Wir danken sehr herzlich für diese Überlegungen zur Erinnerung an Frauen mit den beiden Beispielen! Im Podcast „Frauen in der Erinnerungskultur mit Anke Buettner“ wird der Wunsch geäußert, dass etwas zu Christa Reinig kommt. Merci!

Ariane Rüdiger
Ariane Rüdiger

Ariane Rüdiger, geb. 1958, ist freie Journalistin, Autorin und LGBTIQ*-Aktivistin. Neben ihrer Arbeit als Fachjournalistin für Informationstechnik und Erneuerbare Energien hat sie mehrere Romane und ein Sachbuch im Querverlag, Berlin, sowie zwei Arbeiten zur lesbischen Stadtgeschichte Münchens in der Reihe „Splitter“ des forum queere Geschichte e.V. – LesBiSchwulTrans* in Geschichte und Kultur – veröffentlicht. Weiter hat sie das Wegmarken-Projekt und den Straßenumbenennungsantrag zugunsten Christa Reinigs initiiert. Ariane Rüdiger lebt in München.


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