Warum gehen sie nicht in sein Hotelzimmer?

Navid Kermani: „Sozusagen Paris“ (Roman)

Das habe ich mich beim Lesen dieses Romans mehrmals gefragt. Ich finde es schlichtweg nicht nachvollziehbar, dass sie ihn nach einem Spaziergang mit in ihr Haus nimmt, in dem ihr Ehemann im Arbeitszimmer sitzt und ihre Kinder schlafen. Trotzdem habe ich mich auf diesen Roman eingelassen, weil ich den Autor, einen der wenigen politisch in Erscheinung tretenden Autoren, sehr schätze.

Im Jahr 2014 hat Navid Kermani den Roman „Große Liebe“ veröffentlicht, der von seiner Schulhofliebe als 15-Jährigem handelt. „Sozusagen Paris“ ist eine Art Fortsetzung und beginnt mit einer Lesung aus „Große Liebe“ in einer deutschen Provinzstadt. Autor und Ich-Erzähler sind also identisch – oder doch nicht? Dieses Spiel zwischen Fiktion und Realität zieht sich durch den ganzen Roman.

Als der Schriftsteller nach der Lesung Bücher signiert, steht die ehemalige Angebetete, Jutta, plötzlich vor ihm. Er nimmt sie mit zu dem an die Lesung anschließenden Essen mit Kulturdezernent und Co., und stellt sich vor, wie er bei ihr ankommt:

Die Konstellation ist geradezu klassisch in der französischen Literatur, der Großstadtdichter und die Gattin irgendeines Notars in der Provinz. Für Jutta bin ich sozusagen Paris! polstere ich mir die Wirklichkeit mit weichem Plüsch aus, während der Kulturdezernent die Fahrtkosten in das Abrechnungsformular einträgt.“

Hm, dachte ich etwas verärgert beim Lesen und war ganz erleichtert, dass sie als Bürgermeisterin des Orts das Gespräch beim Essen schnell an sich reißt. Er überlegt derweil, ob sich aus dieser Wiederbegegnung eine Affäre oder auch mehr ergeben könnte.

Nach einem anschließenden Spaziergang gehen sie zu ihr (und eben nicht in sein Hotelzimmer). Dort reden sie bei Tee, Wein und einem Joint bis in die frühen Morgenstunden über die Liebe und die Ehe. Eigentlich redet eher Jutta: über ihr Leben und ihre Ehe.

Sie hat Medizin studiert und ihren Mann während des praktischen Jahrs in Lateinamerika kennengelernt. Er engagierte sich leidenschaftlich für die indigene Bevölkerung und flog mit kleinen Propellermaschinen im Urwald von Dorf zu Dorf, um sie zu behandeln. Das imponierte Jutta. Sie heirateten, kehrten nach Deutschland zurück, übernahmen eine Arztpraxis und bekamen Kinder. Jutta berichtet von den Ehekrisen, ihrem Wunsch, sich zu trennen und wie sehr sie an den Kindern hängt. Um ihre Ehe attraktiv zu halten, hat sie eine Ausbildung als Tantralehrerin gemacht und erzählt von ihren intensiven Erfahrungen.

Das würde sich banal lesen, hätte der Roman nicht auch noch andere Ebenen:

Der Schriftsteller denkt nicht nur beim Blick auf das häusliche Bücherregal an die Romane von Proust, Stendhal, Dumas, Balzac und Maupassant und deren Darstellung der Liebe und Ehe. Aus den Büchern werden ganze Passagen zitiert. Ein intellektuelles Vergnügen, in dem die Ehe – im Gegensatz zur Sehnsucht – nicht gut wegkommt. Und ja, man sollte Proust endlich einmal lesen…

Auf einer weiteren Ebene denkt der Schriftsteller darüber nach, wie er aus dieser Nacht einen Roman schreiben könnte. Er stellt sich vor, wie Jutta diesen Roman lesen wird. Und wie er seinen Lektor überzeugt, mit ihm über einzelne Formulierungen streitet. Die Beschreibung seines Lektors ist so boshaft wie amüsant:

Kein Wunder, dass er die Tage griesgrämig mit Büchern verbringt, denn was sonst könnte ein solcher Fettsack tun, als am Schreibtisch sitzen, und woran sonst ein solcher Buchhalter sich freuen, als triumphierend in seinen langen, ungepflegten Bart zu sabbeln: Fehler! Schwachsinn! Unzulässig!, sobald er wieder eine schiefe Metapher aufspießt, was übrigens dazu führen wird, dass ich im Roman, den ich schreibe, überhaupt keine Methaphern mehr verwende, weil ich den Sabber meines Lektors einfach nicht ertrage.

Gegen Ende umarmt der Schriftsteller Jutta doch noch: Er kniet vor ihr und überlegt, wie es nun weitergeht, ob und wohin er seine Hände bewegen soll. Irgendwann hebt sie den Kopf und fragt, wie spät es ist.

Ehe er geht, schläft er noch auf dem Klo ein und träumt davon mit ihr Neil Young zu hören. Warum – frage mich ein letztes Mal – sind sie nicht in sein Hotelzimmer gegangen?

Navid Kermani (bzw. sein Protagonist) gibt am Ende eine Art Antwort:

Dem Leser mag es immer noch nicht einleuchten, dass der Roman, den ich schreiben werde, zu einem guten Teil aus Zitaten besteht. Es ist das Bekenntnis, werde ich eine weitere Erklärung versuchen, wie sehr ich die Bücher brauche, die in meinem Regal stehen. Vielleicht geht es mir gar nicht so sehr um Jutta als um die Literatur, die ich liebe.

Navid Kermani: Sozusagen Paris. 288 Seiten, Hanser Verlag.

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