Vision 2020: Alltagstest bestanden, Spannung steigt

„Wer eine Vision hat, der soll zum Arzt gehen“, Helmut Schmidts allseits bekannte Aussage auf die Frage, wo seine großen Visionen denn liegen mögen, ist viel und oft, vielleicht zu oft zitiert worden. Im nur vier Monate währenden Prozess der Visionsentwicklung der Münchner Stadtbibliothek fiel er ebenfalls das ein oder andere Mal. Allerdings nur dann, wenn die Skepsis der anderen zur Sprache kam, warum denn eine öffentliche Bibliothek eine Vision bräuchte.

Bevor die sechs Kernsätze der Vision, gerahmt von den beiden Grundaussagen „Die Münchner Stadtbibliothek – Das ist mein Ort“ und „Wir sind da“, formuliert waren, galt es zunächst, eine Herangehensweise zu finden. Nicht leicht, wenn möglichst viele der über 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingebunden werden sollen. Nicht leicht, wenn mit der Stadt die Herausforderungen an Kultur- und Bildungsinfrastruktur in alten und neuen Stadtteilen wachsen, wenn Bibliotheken gebaut und saniert werden müssen, wenn sich ein Kulturzentrum wie der Gasteig neu definiert und die Münchner Stadtbibliothek damit die Chance erhält, eine Bibliothek für das postdigitale Zeitalter zu planen. Nicht leicht, wenn die Digitalisierung rasant an Geschwindigkeit zunimmt und mit ihr technische Aufgaben zu bewältigen sind und neue, spannende Dimensionen von gesellschaftspolitischen Fragestellungen am Horizont auftauchen. Last but not least: Nicht leicht, wenn davon auszugehen ist, dass schon im Vorfeld höchstmotivierte Kolleginnen und Kollegen – zahlreiche – Ideen und internationale Beispiele gesammelt und Konzepte geprüft haben und mit den Hufen scharrend auf sofortige Umsetzung drängen.

Diskussion der World-Café-Teilnehmer_innen über die Vision 2020 Foto: Eva Jünger

Wer eine Vision will, braucht als erstes also eine ziemlich gute Idee. Begleitet von Corponet wurde im September 2015 eine „Lenkende Koalition“ (LK), bestehend aus den drei Direktionsmitgliedern und der Leiterin der Programm- und Öffentlichkeitsarbeit, gegründet. Die LK nahm sich der Gestaltung des kompakt zu führenden Top-Down-Prozesses an und formulierte erste inhaltliche Eckpfeiler: Die Vision soll innerhalb der Institution motivieren und in wenigen Worten den Kern der Münchner Stadtbibliothek fassbar machen. Sie soll nicht Dienstleistungen beschreiben, sondern die enge Verbundenheit des Bibliothekspublikums als auch die hohe Identifikation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für ihre Institution abbilden. Die Vision muss, obgleich „nur“ bis ins Jahr 2020 weisend, dehnbar und flexibel sein, um die strategischen Ziele der Bibliothek von der Innovation über die Personal- bis hin zur Stadtentwicklung zu tragen. Sie soll seitens der Führungskräfte gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen erstellt, gemeinsam gelebt und weiterentwickelt werden können.

Bis Ende September 2015 erarbeitete die Lenkende Koalition eine Umsetzungs- und Kommunikationsstrategie, die sie bereits im Oktober der obersten Führungsebene präsentierte. Im November versammelten sich mehr als zehn Prozent der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, um in einem World-Café wesentliche Aspekte für eine künftige Vision zusammenzutragen. Bei den Beteiligten handelte es sich vor allem um Führungskräfte, die sich im Vorfeld mit ihren Teams gemeinsam Gedanken gemacht hatten. Die Ergebnisse dieser fast 60-köpfigen Runde waren die Grundlage für die nächste Phase, die im Dezember vom „Visionsentwicklungskreis“ – kurz VEK – getragen wurde. Der VEK, bestehend aus Lenkender Koalition, Abteilungs- und Bibliotheksleitungen, bibliothekstechnischen Mitarbeiterinnen, Kommissionsprecherinnen und einer Personalrätin, priorisierte und konzentrierte die Aussagen aus der World-Café-Session in einem zweitägigen Workshop, an dessen Ende tatsächlich die ausformulierte Vision stand. Noch im Dezember wurde die Vision 2020 wieder den knapp 60 World-Café-Beteiligten vorgestellt und ihnen erläutert, wo und wie ihre Wünsche und Vorstellungen aufgenommen wurden. Erfreut – und ehrlicherweise etwas erleichtert – stellte der Visionsentwicklungskreis fest, dass der Funke in die große Runde überspringen konnte und das „Wir sind da“ der Vision auch in diesem Kreis eine kreative Aufbruchsstimmung erzeugte.

Abstimmung über die Vision 2020. Foto: Eva Jünger

Ohne Mission keine Vision. In jeder neuen Visionsrunde konkretisierte sich die Vision. Darüber hinaus entstanden ein Gemeinschaftsgefühl und eine positive Gruppendynamik, wie sie vorher trotz außergewöhnlich hoher Identifikation der Einzelnen mit ihrer Institution in der Begeisterung nicht zu spüren war. Die Dienstversammlung im Januar 2016 wurde gänzlich der Vision 2020 gewidmet. Zusammen stellten alle bislang Beteiligten der versammelten 500 Frau und Mann starken Belegschaft den Prozess, die inhaltlichen Hintergründe und die fertige Vision 2020 im Carl-Orff-Saal des Gasteigs vor. Nach diesem ersten Höhepunkt sahen sich die Anwesenden mit der keineswegs rhetorisch gemeinten Frage konfrontiert: Wie finden Sie das, was Sie gerade gehört haben? Über eine TED-Abstimmung konnte jede und jeder unmittelbar seine spontane Meinung äußern: „Mir gefällt die Vision!“ sagten 55,9 % der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. „Geht so!“ meinten 37,7 %, und „Mir gefällt die Vision überhaupt nicht!“ fanden 6,4 % der Anwesenden. Nach einer Pause mit Gebäck und Kaffee folgte der experimentelle Teil des Tages: An sechs Stationen innerhalb der Bibliothek und in der Glashalle des Gasteigs setzten sich jeweils neu kombinierte Gruppen à 13 Personen individuell mit allen Sätzen der Vision auseinander. Moderatorinnen und Moderatoren aus dem Führungskreis unterstützten dabei mit folgenden Fragen: Was gefällt mir an diesem Teil der Vision? Welche Herausforderungen gibt es? Und was bin ich bereit, dafür zu tun, dass dieser Teil der Vision wahr wird? Die Ergebnisse an den 36 Stationen sind schneller zusammengefasst als einer Auswertung unterzogen: 1358 Hinweise, Ideen und Kommentare sind sortiert und gesammelt und bilden eine gute Basis, um eine erste kritische Auseinandersetzung mit Soll und Ist in Gang zu setzen und ein Bewusstsein für relevante Handlungsfelder zu schaffen.

Alltagstest bestanden, Spannung steigt. In der Realität hat sich gezeigt, dass die Vision 2020 ein Lücke schließt. Sie bietet Reflektions- und Reibungsflächen und damit gerade in der Neuausrichtung der Programm- und Öffentlichkeitsarbeit gute Ansatzpunkte für Kreativität und Analyse. Gemeinsam mit den Führungsgrundsätzen der Münchner Stadtbibliothek erweist sich die Vision 2020 binnen kürzester Zeit als Folie und als Instrument in der Personalentwicklung sowie als Filter und Andockfunktion für Bestandsentwicklung und Standortplanung. Trotzdem beginnt die eigentliche Arbeit erst jetzt. Es gilt, die Aussagen der Vision 2020 in der Institution als Rahmen für individuelle Spielräume und abteilungsübergreifende Planungen zu verankern. Nach außen gilt es, die Münchner Stadtbibliothek als Leuchtturm für Kultur, Wissen, Demokratie und Solidarität in alle Köpfe zu bringen. Und das ist eine Aufgabe, die wir gerne annehmen.

Von Anke Buettner, Leitung Stabsstelle Programm- und Öffentlichkeitsarbeit

 

 

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