Virenfeigling

#kulturslammuc – Stadtkultur im Shutdown

Wie geht es den Münchner Bildungs- und Kulturinstitutionen? Wie schaffen es die Akteur*innen der Stadtkultur, für ihre Stadtgesellschaft da zu sein und weiterhin ihren Auftrag zu erfüllen? Und wie geht es den Münchnerinnen und Münchnern damit? Diese und weitere Fragen stellt unser BlogSlam „Stadtkultur im Shutdown“. Alle sind herzlich zum Mitmachen eingeladen – mehr dazu gibt es hier.

Heute: Sophie Wiederroth, Münchnerin

Bin ich ein überflüssiger Mensch? So heißt ein Roman von Mela Hartwig, einer vergessenen österreichischen Schriftstellerin und Schauspielerin der Zwischenkriegszeit. Lange war es eines meiner liebsten Bücher über eine verlorene, wollende, sich sehnende, ständig falsch darstellende Angestelltenexistenz. Jetzt kommt es mir wieder in den Sinn. Wegen des Titels, denn die beschriebene Lebenswelt existiert so heute nicht mehr, die Frage bleibt dennoch die gleiche.

Ich arbeite im Homeoffice. Was ich zu tun habe, ist schnell erklärt: Ab und an schreibe ich für meine Vorgesetzten vermeintlich wichtige Emails mit Inhalten, die ich früher normalerweise übergangen hätte. Eigentlich habe ich gar nichts zu tun: Reisekostenabrechnungen, Terminvereinbarungen, Bewirtungen waren einmal. Ich bilde mir ein, weder ein kleinlicher noch ein kleinteiliger Mensch zu sein. Doch jetzt kitzle ich alles Kleine aus mir heraus, damit man noch weiß, dass ich da bin. Groß werde ich sowieso nicht mehr.

Noch geht es mir gut. Gestern ist Geld auf mein Konto eingegangen. Ein weiterer Monat Essen, ohne dabei auf den Cent zu achten, ein weiterer Monat Streaming und Lieferdienste. Weil ich meine Stadt liebe und alles, was sie ausmacht, bestelle ich viel Unnötiges: Blumen ohne Geburtstage, Pralinen ohne Gelüste, ich bestelle viele Bücher, weil mir Verlage und Buchhandlungen am Herzen liegen, und reichlich Essen, weil ich gerne in Restaurants gehe.

Wenn ich mich jetzt einschränke, fürchte ich, gibt es bald auch einen Grund dazu. Ich sammle Konsumkarma, damit er mir auch noch später möglich ist. Mein Aberglaube macht nicht einmal vor einer Pandemie Halt. Ich kenne keinen Mangel. Noch nicht. Denn im Projektbüro könnte auffallen, dass meine Arbeit langsam verzichtbar wird. Es kann gar nicht anders sein. Ich bin keine Projektzuarbeiterin mehr. Ich halte nichts am Laufen, sorge für keine dringenden Bedürfnisse, bin nicht systemrelevant, wie man sagt. Bin ein Luxusprodukt. Meine Beschäftigung ist ein Luxus für die Geldgeber. Diese Zukunft ohne Planbarkeit bereitet mir Angst…

Die Vergangenheit mit all ihren schönen Bildern treibt mir Tränen in die Augen. Das Schöne ist mir kein Trost. Das Schöne könnte für immer verloren sein, denke ich in meinen nostalgischen Stunden. Und wende mich der Gegenwart zu. Endlich. Der Genuss. Der Wein aus den Flaschen, die italienischen Antipasti und ganz viel Eis. Es ist Frühling. Ich setze meine Maske auf, spähe nach draußen und kehre nach einigen Slalomläufen mit einer Riesenportion Eis zurück.

Menschen unterhalten sich von Gehweg zu Gehweg, von Straßenseite zu Balkon, sprechen in ihre Headsets hinein, manche haben Botschaften aufs Trottoir gekritzelt und trotzen so der zwingenden Digitalisierung. Spielende Kinder lachen und zeichnen Viren aufs Pflaster. Mutmachende Regenbögen und pizzatellergroße Kronenviren. Die Erwachsenen sind leiser geworden, ihr Auftreten wie gedämpft, Jogger und Radfahrer zeigen noch Ehrgeiz. Immer bin ich im Weg. Laufe Slalom, erschrecke, wenn von hinten jemand angeradelt kommt – das Eis fällt, platsch, ich kaufe mir ein neues. Hinter den Türen ist es nun lauter als draußen. Musik erschallt und viele Stimmen und öfter auch Geschrei.

Die sozialen Medien ersetzen mir nicht die Unmittelbarkeit eines Gegenübers. Immerhin lindern sie ein wenig die Einsamkeit. Ich lese von Menschen, die fühlen und fürchten wie ich. Ja, ich weiß. Wir brauchen noch mehr Technik. Aber wir brauchen auch weniger davon. Oder brauchen wir etwas anderes?

Ich sitze vor dem Fernseher. Schaue französische Nouvelle Vague-Filme und alte amerikanische Serien. Und gerade als ich beginne, auch regionale Heimatkrimis liebzugewinnen, entdecke ich Horrorfilme für mich. Ich streame, was das Zeug hält. Die grauenhaften ikonischen Bilder der Gegenwart muss ich tauschen gegen die nur vermeintlich unsicheren aus der Röhre, die nichts mit mir oder unserem augenblicklichen Leben zu tun haben. Am meisten schätze ich solche mit ängstlichen, hysterischen Teenies. Dass jetzt ein Serienmörder durch den Campus oder das Wohngebiet zieht, erscheint sehr abwegig. Selbst die Creature-Horrorfilme haben es mir angetan. Es wird keine Spinneninvasion geben und auch kein gigantisches Monster aus der Tiefe, das die Menschheit hinwegrafft. Die Opfer in den Filmen werden nie unsere Opfer sein!

Jetzt höre ich die Vögel draußen zwitschern. Ich strecke meinen Kopf aus dem Fenster und gebe mir für Minuten die Möglichkeit frei zu sein. Ich habe aufgehört zu streamen. Das übliche Fernsehprogramm läuft. Etwas muss immer laufen, Stimmen sollen zu hören sein. In den Werbeblöcken heißt es: Sei ein Held, bleib zu Hause. Vielleicht bin ich so überflüssig nicht. Wann war es je einfacher, ein Held zu sein? Wer zu Hause bleibt für andere, ist einer. Wer zu Hause bleibt, und sei es auch nur aus reiner Selbstfürsorge, ist es nicht weniger. Ich bin ein Virenfeigling und bin ein Held. Ein Held, der irgendwann wieder ein ganz normaler Mensch sein möchte.

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