Lesungen, Konzerte, Ausstellungen und vieles mehr: In unserem Veranstaltungsprogramm gibt es täglich neue Menschen und Ideen zu entdecken. Damit ihr unsere Gäste besser kennenlernen könnt, stellen wir sie im Kurzinterview vor. Heute: Vier Fragen an Schriftstellerin Karen Köhler. Sie ist mit ihrem neuen Kinderbuch „Himmelwärts“ am 8. Oktober zu einer Lesung zu Gast in der Stadtbibliothek im Motorama.
1. Stell dich bitte kurz vor
Siehe Freundschaftsbuch in Himmelwärts:
- Name: Karen Köhler @Seven_of_Nein
- Alter: Hahahahaha
- Sport: Muckibude und ich, Kamikaze
- Lieblingstier: Elefantenbaby, nein: Fuchs. Nein: Zaunkönig. Äh: Delfin. Ich meine Wal. Quatsch. Bär. Schmetterling!
- Lieblingsfarbe: Ultramarinblau, so wie das Meer in der Ägäis aussieht. Mitternacht. Regenbogen.
- Superkraft: Liebe. Worte zusammenlöten. Empathie haben. Solidarität. Feminismus. Zärtlichkeit.
- Spezialtechnik: Aikido mit der Schwerkraft, Kopfkino, Gefühlslambada, Vollmond anjaulen.
- Das machst du gerne: Geschrieben haben, Sterne gucken, Kochen, im oder am Meer sein, Tanzen. Mir vorstellen, ich hätte ein Fell. Oder Flügel. Oder beides.
- Das magst du: Weltraum, Sachen rausbekommen, Pommes, ein Rudel haben…
- Das magst du nicht: Zecken, verlieren (egal bei was), Ungerechtigkeit, Egoismus, Kapitalismus, Rassismus, Sexismus.
- Was ist das größte Abenteuer, das du erleben willst?: Neugierig bleiben.
- Hast du ein*e Pommesfreund*in? Hallo?! Logisch.
2. Kannst du uns ein Buch empfehlen?
Nur eins? Das geht nicht!
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3. Was verbindest du mit Bibliotheken?
Bibliotheken saved my life! Ich habe anlässlich des 100. Jubiläums der Hamburger Bücherhallen darüber geschrieben. Hier ein Auszug:
Ich erinnere mich noch sehr genau an mein allererstes gelesenes Wort. Ich stand mit meiner Mutter und meiner Schwester an einer unterirdischen Haltestelle bei den S-Bahngleisen. An der Stationswand standen in klarer Schrift schwarze Buchstaben auf weißen Kacheln.
Ich las: A-L. A-L-T. A-L-T-O. A-L-T-O-N-A. Altona!
Und meine Mutter freudig: Ja! War ich stolz.
Ich war eine Codeknackerin, eine Geheimtüröffnerin, eine Buchstabenkennerin, eine Wortemacherin, eine Dschungeldurchquererin, eine Eselsrückenreiterin! Altona! Altona! Altona! Du Pforte in eine unbekannte Welt. Altona, du Ursprung meines Lesens. Altona, du schwarzes Ding auf Kachelgrund, du Name, du Wort, ich habe dich geknackt.
Fortan heftete ich meine Augen auf alles mit Buchstaben: Haltestellenschilder, Plakate auf Litfaßsäulen, Verpackungen … Da stand Milch auf der Milch, Kakao auf dem Kakao. Nur lange Buchstabenschlangen machten mir Probleme: Bei Mehrwertsteuer, Konservierungsstoffe und Kohlenhydrate warf mich der Esel jedes Mal wieder ab, aber das machte nichts, weil ja Kakao sowieso das viel wichtigere Wort war.
Wir hatten nicht viel Geld und liehen Bücher aus, meine Mutter nahm mich nun mit in die Bücherei und ich durfte selbst auswählen. In kürzester Zeit mutierte ich zur Leseratte und überlies den Puppenrollschuh meiner Schwester. Ich las alle Astrid-Lindgren-Bücher zur Sicherheit noch einmal, kontrollierte, ob meine Mutter meine Schwester und mich nicht um ein Wort betrogen hatte, ob auch wirklich drinstand, was sie uns vorgelesen hatte. Ich weinte mit den Brüdern Löwenherz, bangte bald darauf mit der kleinen Hexe, saugte Blut mit Lumpi, dem kleinen Vampir, kämpfte mich durch den kleingedruckten Buchstabendschungel von Die schwarzen Brüder. Ich las alles, was ausleihbar war, ich wollte Geschichten, wollte sie unbedingt, sog sie alle auf, denn ich war lesesüchtig geworden.
An der Bücherei mochte ich alles: Die vielen Buchrücken, den Geruch, die Regalreihen, die Ordnung, die Karteikarten mit den Ausleihstempeln… Jedes Mal, wenn wir mit einem Stapel ausgeliehener Bücher nach Hause kamen, war ich glücklich. Ich erinnere mich, wie ich eine Leselampe ans Bett bekam. Und wie meine Mutter ungläubig fragte: Du hast die schon wieder alle durch? Ich erinnere die Angst, vor den Ferien nicht genügend Bücher ausgeliehen zu haben. Ich erinnere die Traurigkeit, wenn die Seiten in meiner rechten Hand schmolzen und sich eine gute Geschichte dem Ende zuneigte. Und wie ich dann immer langsamer las.
Wie ich erst Kinder-, dann die Jugendbücher hinter mir lies und in den Reihen für Erwachsenenliteratur zu stöbern begann. Mit 13 verirrte ich mich zu Stephen King, ich dachte, es ginge um einen Clown. Mit 14 entdeckte ich Hermann Hesse und fühlte mich einsam. Mit 15 las ich Kafka und dachte, ich wäre erwachsen. Ich las Zeitungen. Lernte andere Sprachen. Ärgerte mich über Wartezeiten, wenn ein Buch von jemand anderem immer wieder verlängert wurde. Freute mich, wenn ich schnell genug gewesen war.
Ich las kreuz und quer, auf Murakami folge Zeh folgte Dostojewski folgte Plath folge Morrison. Ich hatte das wichtigste Werkzeug zu benutzen gelernt, das mir zur Verfügung stand und das mir immer weiter half, empathisch zu sein, die Welt zu verstehen und mich ins Verhältnis zu ihr zu setzen.
Es gab eine Zeit, in der war ich arbeitslos und musste von 854 Euro Arbeitslosengeld I im Monat mein Leben bestreiten. 700 Euro gingen für die Warmmiete und die Telefonrechnung drauf. Von den restlichen 154 Euro versuchte ich zu leben. Ich verzichtete auf alles, was Luxus war: Kaffee, Alkohol, Lebensmittel aus dem Bioladen. Ich ging nicht mehr ins Kino, nicht mehr ins Museum und Theater, saß nicht mehr im Café, ging nicht essen, kaufte keine Bücher mehr. Worauf ich nicht verzichtete, war die Jahreskarte der Bücherhallen Hamburg, die mich durch diese Zeit getragen hat. Ich besaß und besitze noch immer keinen Fernseher und das funktioniert eigentlich ganz gut, ein Leben ohne Bücher, ein Leben ohne Geschichten, ein Leben ohne Bildung dagegen kann ich mir nicht denken.
Wer privilegiert ist und uneingeschränkten Zugang zu Bildung hat, kann sich vielleicht kaum vorstellen, wie wichtig es gerade in prekären Lebensumständen ist, dass es öffentliche Bibliotheken gibt. Und öffentliche Parks, in denen man lesen kann.
Als Erwachsene lesen wir, wie wir gehen: Wir denken nicht mehr drüber nach. Wir tun es einfach. Wir kämpfen nicht mehr bei jedem Schritt um das Gleichgewicht, schaukeln nicht mehr mit jedem Buchstaben auf einem Eselsrücken, geraten nicht mehr in Verzückung, wenn wir den Namen einer S-Bahnstation entziffern. Lesen ist für uns eine Selbstverständlichkeit geworden. Ein Schlüssel, der uns die Tür zur Bildung aufgeschlossen hat, ein Schlüssel, der uns ermöglicht, uns selbst zu verstehen, der uns ermöglicht, das Andere, das Fremde zu verstehen, ein Schlüssel, der uns hilft auf unserem Weg, auf der Suche nach Wahrheit die Rätsel des Menschseins zu ergründen, Wissen zu sammeln, Geschichte zu verarbeiten, Perspektiven zu wechseln, Geschichten zu erleben, die nicht unsere Geschichten sind, die aber Stellvertretergeschichten sind, Spiegel, damit wir uns erkennen können.
Und wie gut, dass es Spiegelhallen gibt. Dass es Orte gibt, die wir aufsuchen können, Orte, die sorgsam Geschichte und Geschichten bewahren, die unser Narrativ in Regale reihen. Orte, die uns mit Sorgfalt aufzeigen, wie bunt und vielfältig die Welt ist, wie unterschiedlich Perspektiven sein können. Öffentliche Orte wie die Bücherhallen Hamburg [oder die Münchner Stadtbibliothek, Anm. d. Red.], an denen wir Codeknacker*innen werden können, an denen uns ein Schlüssel überreicht wird, den wir unser ganzes Leben lang behalten dürfen. Orte, an denen wir uns spiegeln können, ohne auf Glasflächen blicken zu müssen, Orte an denen wir unser wichtigstes Werkzeug benutzen und pflegen lernen können: Das Lesen.
4. Und wie geht es mit der Welt weiter?
Mit Verbundenheit statt Teilendem. Mit Inklusion statt Exklusion. Mit Liebe statt Hass und Hetze. Wenn wir daran nicht mehr glauben können, sind wir verloren. Im Kleinen wie im Großen.
Infos zur Veranstaltung: Karen Köhler: „Himmelwärts“
Am 08.10.2024 um 18.30 Uhr in der Stadtbibliothek im Motorama