Reading Challenge im Februar: Verschwundene Welten

Reading Challenge im Februar

Die ständigen Veränderungen in der Welt lassen vieles zurück: Lebensformen, Kulturen, Sprachen, Menschen und Arten verschwinden, aber auch Musikkassetten und Glühbirnen. Was erzählt uns die Literatur über das Verschwinden?
(Ein Klick aufs jeweilige Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)

List Verlag, 659 Seiten, auch als eBook, als Hörbuch sowie in englischer und in spanischer Sprache

Oskar Maria Graf: Das Leben meiner Mutter

Aufhausen am Starnberger See, nur 30 km vom Marienplatz entfernt: Noch Mitte des 19. Jahrhunderts existiert dort eine ländliche Welt, in der das Leben der Menschen eine ewig gleiche Abfolge von Arbeit und Gebet ist. Hier wird 1857 Therese Heimrath, die Mutter des Schriftstellers Oskar Maria Graf (1894-1967), geboren. Seit frühester Kindheit arbeitet sie von früh bis spät auf dem elterlichen Hof. 1881 heiratet sie den Bäcker Max Graf aus Berg und bekommt elf Kinder, von denen acht überleben. Viele Schicksalsschläge, viel Mühsal erfährt Therese in ihrem langen Leben, doch sie stellt ihr irdisches Dasein nie in Frage, es ist eben, wie es ist.
Grafs Klassiker lässt Leser*innen tief eintauchen in die verschwundene Welt vor den Toren Münchens, die sich noch zu Lebzeiten Thereses unaufhaltsam zu verändern beginnt. Die ersten Automobile rollen durchs Dorf, mehrere ihrer Kinder suchen ihr Glück nicht mehr in der Heimat, sondern in der nahen Großstadt und sogar in Amerika. Auch Oskar verlässt bereits mit 17 Jahren sein Heimatdorf, lebt zunächst in München, dann im Exil in Wien, Brünn und Prag. Als Therese am 27. September 1934 verstirbt, ist der Sohn gerade auf Studienreise in der Sowjetunion.
1938 flieht Oskar Maria Graf ins New Yorker Exil. Der Exil-Nachlass des Autors ist seit 1984 in der Monacensia im Hildebrandhaus archiviert; dazu gehört auch der Schreibtisch, an dem „Das Leben meiner Mutter“ entstand.

Sylvi/Monacensia

aus dem Englischen von Otto Bayer, Diogenes Verlag, 285 Seiten

Brian Moore: Schwarzrock

Der irische Autor nutzte einen Aufenthalt in Kanada zu umfangreichen Recherchen, griff auf historische Untersuchungen zurück und arbeitete mit Ethnologen zusammen.
Historischer Hintergrund seines eher schmalen, aber ungeheuer dicht erzählten Bandes ist die Missionierung von Irokesen und Huronen durch Jesuiten, die schon Mitte des 17. Jahrhunderts, also rund 200 Jahre vor der Eroberung des „Wilden Westens“, tief in die Wildnis Nordkanadas vordrangen. Moore erzählt vom „Cultural Clash“: Mit tiefem Verständnis und warmem Blick für beide Seiten beschreibt er das totale Unvermögen sowohl der Indianer als auch der durchaus gutwilligen jesuitischen Patres, sich in der völlig fremden Gedankenwelt der jeweils anderen zurechtzufinden … mit dramatischen Konsequenzen für alle …
(M)eine unbedingte Empfehlung ist die kanadische Verfilmung „Black Robe – Am Fluß der Irokesen“: nah am Buch, bildgewaltig, dramatisch (es gibt auch eine wunderschöne Liebesgeschichte 😉 ) und mit einem – wie der Film selbst – mehrfach preisgekrönten Soundtrack.

Stefanie/ Stadtbibliothek Laim

Dörlemann Verlag, 416 Seiten

Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben

Mitten im Winter des Jahres 1933 bricht der 18jährige Patrick Leigh Fermor von London aus auf, um den europäischen Kontinent zu Fuß bis nach Istanbul zu durchwandern. Das Projekt ist ein verrückter Ausbruch aus einer verfahrenen Situation, denn die Zukunftsaussichten sind für den unangepassten Schulabbrecher alles andere als rosig. Patrick Leigh Fermor startet seine Wanderung in Holland, erlebt Deutschland kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und zieht weiter bis nach Ungarn. Die Menschen, denen er mit jugendlicher Unbefangenheit begegnet, kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten und haben unterschiedlichste politische Ansichten. Während er anfangs noch in einfachsten Unterkünften nächtigt, erhält er später Zugang zu Familien des alten europäischen Adels, die ihn von einem Schloss zum anderen „weiterreichen“. Das Europa, das er erlebt, wird es schon wenig später so nicht mehr geben.
Die Erlebnisse dieser Reise veröffentlichte Patrick Leigh Fermor erst 44 Jahre später, als er längst ein – im englischsprachigen Raum – berühmter Reiseschriftsteller war. Diesen späten Zeitpunkt der Veröffentlichung merkt man aber dem Reisebericht nicht an. Als Leser*in hat man das Gefühl, als sehe man alles unmittelbar mit den Augen des Reisenden. Für mich ist dieses Buch etwas ganz Besonderes, denn nur selten wurde für mich dieser historische Moment unmittelbar vor der großen Katastrophe so greifbar und lebendig.

Margit/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit

aus dem Französischen von Sophie Scherrer, Piper Verlag 365 Seiten, auch als Hörbuch und als eAudio

Nicolas Barreau: Paris ist immer eine gute Idee

Zum Thema „Verschwundene Welten“ kann ich die Romane von Nicolas Barreau empfehlen. So geht es in „Paris ist immer eine gute Idee“ um die Besitzerin des zauberhaften Postkartenladens „Luna Luna“ , die Karten auf Wunsch auch individuell illustriert.
Eines Abends in Paris spielt in einem nostalgischen Programmkino, das völlig ohne Popcorn und Blockbuster auskommt. Im Café der kleinen Wunder geht es um Montgolfièren, die Restauration alter Fresken und verwunschene Plätze in einem traumschönen Venedig und die Liebesbriefe von Montmartre schreibt ein junger Vater handschriftlich an seine früh verstorbene Frau, erfüllt ihr damit einen letzten Wunsch und findet dadurch selbst wieder ins Leben.
Da momentan Technik und Digitalisierung in der Wirklichkeit vieler immer mehr in den Vordergrund rücken, sind die charmanten Liebesgeschichten wie Rückzugsorte in „verschwundene“ oder „verschwindende“ Welten…

Isabel/ Stadtbibliothek Hadern

aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Bertelsmann Verlag, 192 Seiten, auch als eBook und als eAudio

Genki Kawamura: Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden

Im Romandebüt Genki Kawamuras wird die einfache Frage gestellt: Was macht ein gutes und erfülltes Leben aus?
Ein junger Postbote erfährt, dass er todkrank ist und bald sterben wird. Schon am nächsten Tag soll es soweit sein, das eröffnet ihm der Tod höchstpersönlich, der ihm in Gestalt seines Doppelgängers erscheint und den Namen Aloha bekommt. Ein Pakt wird ihm angeboten: für jeden Tag, den er länger leben darf, muss eine Sache aus der Welt verschwinden. Die Entscheidung trifft Aloha, der Tod.
Dienstag etwa: Die Welt ohne Telefone. Er darf noch eine Freundin anrufen. An den folgenden Tag erfährt man mehr über die Hauptfigur, über sein Leben und über den Kater „Weißkohl“. Oder Freitag: Wenn alle Katzen von der Welt verschwänden. Der Kater seiner Mutter, „Eissalat“, liegt im Sterben und entscheidet „Ihr müsst weiterleben, Herr. Meine Wenigkeit ist nur ein Kater.“ Schließlich Samstag: Die Welt ohne mich. Aloha wartet schon „Ich machte mich also daran, meine Angelegenheiten zu regeln“. Er schreibt einen Abschiedsbrief an seinen Vater und überbringt ihn mit seinem Kater persönlich – ein versöhnliches Ende.
Ein schönes, lustiges, trauriges und nachdenkliches Buch über Leben und Tod.

Marion/Stadtbibliothek Westend

Hoffmann & Campe Verlag, 269 Seiten, auch als eAudio

Douglas Adams, Mark Carwardine: die letzten ihrer Art

Auf einer kleinen Insel vor Madagaskar ein fast ausgestorbenes, nachtaktives Tier suchen, das seit Jahren niemand gesehen hat?
Das sogenannte Aye-Aye und, wie er es selbst nennt, „eine Art journalistisches Versehen“ sind der Grund, dass der britische Kult-Autor Douglas Adams 1985 nicht in den Weiten der Galaxis, sondern ganz real mit dem Zoologen Mark Carwardine auf Expedition unterwegs ist.
Das verbindet wohl, denn drei Jahre später machen sich die beiden erneut zusammen auf zu Reisen in verschiedene Teile der Welt (u.a. Komodo, Neuseeland, China), um dort „die Letzten ihrer Art“, schon damals fast verschwundene Tierarten, zu (be-)suchen. Sie sind ein gutes Team, der Zoologe mit dem Fachwissen und der Autor, der das, was sie auf den Touren erleben, in so lebendige Worte fasst, dass man beim Lesen fast selbst die feuchte Luft und den Lärm fremder Städte spürt oder sich neben den beiden im Geäst sitzen glaubt, angespannt auf ein Aye-Aye wartend.
Mit dem typischen Douglas Adams-Humor ist der Reisebericht amüsant zu lesen, aber Adams‘ Können, Dinge auf den Punkt zu bringen – denn es geht in dem Buch dann doch nicht nur um Tiere, sondern auch viel um den Menschen und dessen individuelle Ausprägungen – , lässt einem auch manches Lachen im Halse stecken bleiben („Das Tolle daran, die einzige zwischen richtig und falsch unterscheidende Art zu sein, ist, dass wir uns immer genau die Regeln ausdenken können, die uns gerade in den Kram passen.“)
Vor nunmehr 30 Jahren erschienen hat das Buch wohl an Aktualität nie verloren. Und noch ein Grund, es zu empfehlen: Ich war glücklich, ein Douglas Adams-Buch lesen zu dürfen, bei dem ich schon auf den ersten Seiten wirklich einfach verstand, worum es geht! (Ehrlich – wer hat das bei Dirk Gently‘s Holistischer Detektei?!) 😉

Heike/ Musikbibliothek

W.G. Sebald: Die Ausgewanderten

Wie kein zweiter beherrscht W.G. Sebald den Sound verschwundener Welten. Zumindest mich trifft er mit der Melodie seiner Texte mitten ins Herz. Lange Zeit habe ich gezögert, mich dem Autor zu nähern. Zu groß die Scheu vor seinen ellenlangen Sätzen und davor, seine Bücher nicht zu verstehen. Doch vor drei Jahren habe ich mich an „Die Ausgewanderten“ getraut.
In seinen „vier langen Erzählungen“ erforscht W.G. Sebald die Lebensgeschichten seines ehemaligen Vermieters, seines Volksschullehrers, seines Großonkels und eines befreundeten Malers.
So unterschiedlich die Lebenswege auch sind, allen Vieren gemeinsam ist ihr Schicksal, Juden zu sein, die ihre Heimat verloren haben und sich dennoch nicht von ihr trennen können.
Eine der Erzählungen handelt von Paul Bereyter. Als der Autor vom Freitod seines ehemaligen Volksschullehrers erfährt, beginnt eine Zeitreise in die Vergangenheit. Bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit in S., „Versuche der Vergegenwärtigung“ der Person Bereyters und schließlich die Begegnung mit einer seiner Weggefährtinnen setzen sich wie ein Mosaik zusammen, sodass „Stück für Stück das Leben Paul Bereyters aus seinem Hintergrund heraustritt.“
Es sind verschwundene Universen, die in Sebalds Texten wieder aufblitzen. Denn verschwunden sind nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge, die mit ihrer Lebenszeit verbunden sind: der „Maikäferglaskasten mit einem mit Sütterlinbuchstaben beschrifteten Maikäferpaar“ des Lehrers, der Dürkop seines Vaters oder der Schulzimmerplan, den Bereyters Schüler detailgetreu zeichnen mussten. Das, was vom Leben übrigblieb, dokumentieren auch Fotos, die in die Erzählungen eingebunden sind.

Eva/ München

C.H. Beck Verlag, 402 Seiten, auch als eBook

Catalin Dorian Florescu: Jacob beschließt zu lieben

Ein Dorf im rumänischen Banat, bewohnt von den Nachkommen deutschsprachiger Auswanderer aus Lothringen, ist der Ort dieses Romans. Erzählt wird die Geschichte der Familie Obertin, angefangen von Caspar, der im 17. Jahrhundert gegen die Schweden kämpfte, über Frédéric, der sich entschloss, der Armut zu entfliehen und sein Glück im Osten zu suchen, bis zum Erzähler dieser Geschichte, Jacob. Dessen turbulentes Leben, von seiner Geburt im Jahr 1926 bis zu seiner Deportation im Jahr 1951, ist einerseits geprägt durch den Unwillen seines starken, herrschsüchtigen Vaters, seinen schwächlichen Sohn zu lieben, und andererseits von den politischen Geschehnissen während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Banater Schwaben sind heute nur noch eine verschwindend kleine Minderheit in Rumänien.
Der Roman des sprachgewaltigen Catalin Florescu, der mich 2016 bei einer performanceartigen Lesung in der Stadtbibliothek Neuhausen beeindruckte, lässt uns miterleben, wie deren Welt entstand, aber auch warum sie wieder verschwunden ist.

Margit/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit

aus dem Englischen von Otto Bayer, Diogenes Verlag, 335 Seiten, Verfilmung auf BluRay und DVD

Ian McEwan: Ein Kind zur Zeit

Ein Kind verschwindet spurlos. Einfach so, an der Supermarktkasse. Eben war sie noch da, die dreijährige Tochter Kate von Stephen und Julie. Ian McEwan erzählt atemlos vom Verlust des Kindes. Die Rasanz der Ereignisse wird ausgeglichen durch die Verlangsamung der Zeit.
Stephen beginnt nach Kate zu suchen, Tage, Monate, Jahre und verliert dabei seine Frau, mit der er nicht trauern kann, seine Freunde, seine Eltern. Sein bisher gelebtes Leben als Kinderbuchautor und Familienvater verschwindet mit seiner Tochter. Und er verliert die Zeit, er wechselt zwischen der Erinnerung an Erlebnisse aus seiner eigenen Kindheit, an seine Tochter und deren möglichen Weiterentwicklung im Laufe der Jahre.
Die Erfahrung von Liebe, Verlust und der Macht des Unvorhersehbaren führt in die subtile Ergründung von Zeit, Zeitlosigkeit, Veränderung und Alter.
Stephen sitzt in einem Ausschuss der Regierung, in dem ein neues Konzept zur Kindererziehung erarbeitet werden soll und er beschäftigt sich dabei mit einem „Leitfaden zur Kindererziehung“, der haarsträubend die Kindheit als eine Krankheit oder Behinderung und das Erwachsenwerden als langsame und schwierige Genesung beschreibt. Auch sein Freund Charles, der eine Kindheit hatte, die vom Verlust der Mutter und der strengen Autorität des Vaters traumatisiert wurde, wünscht sich dennoch die Sicherheit des Kindseins, die Machtlosigkeit, den Gehorsam zurück, aber auch die Freiheit, die damit einhergeht. Die Kindheit bedeutet für ihn Zeitlosigkeit, in die er sich zurückzieht und verschwindet.
All diese scheinbaren Widersprüche und Brüche in der Geschichte sind jedoch keine, denn McEwan verbindet alles mit dem, was von Stephens Leben übrig ist und was er sich Schritt für Schritt wieder aufbaut. McEwan zeigt, wie Stephens Leben sich – obwohl es scheinbar absolut stagniert und nie wieder anders werden kann – doch fortbewegt und verändert.

Viola/ Stadtbibliothek Neuhausen

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