Vom 20. bis 22. Oktober finden in der Stadtbibliothek im HP8 die Afrikanischen Filmtage München statt. Aus diesem Anlass lesen wir uns bei der Reading Challenge im Oktober einmal quer und längs durch diesen Kontinent. Trotz der Größe und Vielfalt Afrikas ist afrikanische Literatur immer noch bei weitem nicht so prominent und sichtbar wie beispielsweise die Werke nordamerikanischer Autor*innen. Zeit das zu ändern und die Länder und Regionen Afrikas jenseits klischeehafter Inszenierungen besser kennenzulernen.
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Abdulrazak Gurnah: Ferne Gestade
Abdulrazak Gurna erzählt in seinem 2002 erschienen Roman die verschlungene Lebens- und Fluchtgeschichte zweier Menschen aus Sansibar. Der eine ist Saleh Omar, der in den 1990er Jahren als Asylbewerber in London ankommt und britisches Asyl beantragt – mit einem falschen Namen in einem falschen Pass. Er sucht Zuflucht bei seiner ehemaligen Kolonialmacht, die Sansibar 1964 überstürzt in eine chaotische Freiheit entließ, und gibt vor, außer „Flüchtling“ und „Asyl“ kein Wort Englisch zu können. Er will nichts von sich preisgeben und hat nur ein kleines Mahagonikästchen mit Weihrauch bei sich. Dabei ist es nicht so, dass der Mann, der sich Mr. Shaaban nennt aber in Wahrheit Saleh Omar heißt, keine Geschichte hätte. Im Gegenteil, die Erzählung seines Lebens in Sansibar machen einen großen Teil des Romans aus. Allerdings will Saleh sein Leben nur einem bestimmten Menschen erzählen – dem Literaturprofessor Latif Mahmud aus London, der ihm als Dolmetscher zugeteilt wurde. Auch er stammt aus Sansibar. Vor dreißig Jahren ist er als Student über die damalige DDR nach England geflüchtet. Es stellt sich heraus, Latif und Saleh Omar sind nicht nur irgendwie verwandt, sondern auch durch eine erbitterte Familienfehde in der alten Heimat miteinander verstrickt. Der Hintergrund ist ein unendlich verwickelter Rechtsstreit um ein Haus in Sansibar, der beide Familien ruiniert hat.
Viola/Stadtbibliothek Neuhausen
Abdulrazak Gurnah beschreibt das Alltagsleben auf der Insel vor Tansania mit ihren Kleinhändlern, Tagelöhnern, Trödlern und undurchsichtigen Kaufleuten aus dem Golf. Er setzt die muslimische Männerwelt mit ihren Rangstufen und feinen ethnischen Unterschieden und ihren sorgsam austarierten Höflichkeits- und Respektformeln, ihren rigiden Clan-Strukturen und uralten Feindschaften in Gegensatz zu den ins Haus verbannten Frauen. Zudem zeigt sich die Bevölkerung auch in einer ethnischen Diversität: Portugiesen, arabische Eroberer aus dem Golf, Deutsche und Briten haben auf Sansibar ihre kolonialen Herrschaftsspuren hinterlassen.
Der selbst aus Sansibar stammende, emeritierte Professor für Englisch, Abdulrazak Gurnah, bekam 2021 den Literaturnobelpreis verliehen, weil er die Kolonialgeschichte strikt aus dem Blickwinkel der unterworfenen Afrikaner erzählt. Gurnah geht es in diesem, wie eigentlich in allen seinen Romanen, um die migrantische Welterfahrung der Entfremdung, um die doppelte Entwurzelung und den Identitätsverlust von Migranten, die zwischen zweierlei Fremde pendeln, unerwünscht in beiden Welten. Er erzählt dabei differenziert, bewegend und meisterhaft von Exil und Erinnerung.
Djaïli Amadou Amal: Die ungeduldigen Frauen
Drei Frauen, drei Geschichten, drei miteinander verbundene Schicksale.
Camille/ Stadtbibliothek Riem
»Munyal! Geduld!«. Das ist der einzige Rat, den drei Frauen, die im Norden Kameruns als muslimische Fulbe aufgewachsen sind, von ihrem Umfeld erhalten und der sich durch ihr Leben zieht. Die junge Ramla wird aus ihrer Liebe gerissen, um mit Safiras Ehemann verheiratet zu werden, während Hindu, ihre Schwester, gezwungen wird, ihren Cousin zu heiraten.
„Gedulden Sie sich!“ auch wenn das Leben zur Hölle wird, da es undenkbar ist, gegen den Willen Allahs zu handeln. Doch diese Frauen sind ungeduldig und beginnen, jede auf ihre eigene Weise, sich gegen die Konventionen und die Gewalt, die sie erfahren, zu wehren.
Zwangsheirat, Vergewaltigung in der Ehe, Konsens und Polygamie: Dieser Roman ist zum Teil autobiographisch. Djaïli Amadaou Amal ist selbst Kamerunerin, Fulbe und Muslimin. Als sie 17 Jahre alt war, wurde sie mit einem 50-jährigen Polygamisten zwangsverheiratet. Sie hat es geschafft, aus diesem Albtraum zu fliehen. 2012 hat sie den Verein Femmes du Sahel (Frauen des Sahels) gegründet, der jungen Frauen hilft, durch ein Studium Unabhängigkeit zu erlangen. Ihr Roman bricht Tabus, indem er die Lage der Frauen in der Sahelzone anprangert und die Stimme gegen das universelle Problem der Gewalt gegen Frauen erhebt. Für ihr Schreibtalent und ihren Mut wurde Djaïli Amadou Amal mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis für die beste afrikanische Autorin 2019.
Imbolo Mbue: Wie schön wir waren
Öl im Wasser – das ist der Alltag im fiktiven afrikanischen Dorf Kosowa, seitdem der amerikanische Ölkonzern Pexton dort Wurzeln geschlagen hat. Das Ackerland ist unfruchtbar, die Kinder vergiftet, Versprechungen von Reparationen werden gebrochen und die korrupte Regierung schaut weg, solange ihre eigenen Interessen erfüllt werden. Mit der potenziellen Auslöschung des Dorfs konfrontiert, entschließen sich die Bewohner, allen voran die junge Thula, zur Gegenwehr anzusetzen.
Eli/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Die Geschichte wird über mehrere Jahre aus verschiedenen Perspektiven erzählt, sodass ein umfassendes, unglaublich detailliertes Bild der Dorfgemeinschaft und des Kampfes für das, was richtig ist, gezeichnet wird. Der Fokus liegt hier vor allem auf Thula, ein junges Mädchen, die sich im Laufe der Geschichte zur Revolutionärin mit unerschütterlichem Antrieb und wahnsinniger Ausdauer entwickelt.
Westliche Gier, Kolonialismus, Korruption, Aktivismus, Umweltbewusstsein und der Verlust kindlicher Unschuld sind alles Themen, die tief im Gewebe der Geschichte stecken. Für mich hat der Zusammenhalt des Dorfes herausgeragt, ihre Geschichte, Traditionen und Kultur, sowie das Zusammenspiel individueller und kollektiver Stimmen der Bewohner. Als Leser wird man mit vielen Fragen und wenigen Antworten konfrontiert und ich blieb mit so vielen Gedanken zurück, dass mich das Buch auch noch Wochen nach der letzten Seite nicht losgelassen hat.
Koleka Putuma: Kollektive Amnesie – Gedichte
Wer sich für afrikanische Autor*innen interessiert, kommt nicht an der Reihe „AfrikAWunderhorn“ des Heidelberger Verlegers Mandfred Metzner vorbei.
Isabel/Stadtbibliothek Hadern
So ist dort 2020 der Gedichtband „Kollektive Amnesie“ der südafrikanischen Spoken-word-Künstlerin Koleka Putuma in deutscher Übersetzung erschienen. 1993 geboren, ist sie eine der vielversprechendsten jungen Stimmen Afrikas und gewann mit ihrem Lyrikdebüt bereits mehrere Preise. Kraftvoll, radikal und cool befassen sich ihre Gedichte unter anderem mit der Lebensrealität als schwarze Frau aufzuwachsen. Koleka Putuma tritt für Diversität ein, übt scharfe Kritik an der Gewalt gegen Frauen und Homosexuelle und analysiert schonungslos die Gesellschaft Südafrikas, die das Trauma der Apartheid noch nicht ganz überwunden hat. „Kollektive Amnesie“ ist keine „Feel-good-Lektüre“, nicht einfach zu lesen, es lohnt sich aber, sich darauf einzulassen. Auch der englische Originaltext ist in der Ausgabe enthalten.
Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne
Von Chimamanda Ngozi Adichie kannte ich bereits ihren Roman „Americanah“. Auf der Suche nach einer eBook-Lektüre stiess ich auf ihren zweiten, 2006 erschienen Roman „Half of a Yellow Sun“. Er schildert das Leben der ungleichen Zwillingsschwestern Olanna und Kainene vor und während des Biafra-Krieges in Nigeria. Ich muss gestehen, dass ich fast nichts über den Biafra-Krieg von 1967-1970 gewusste hatte. Klar, ich war damals noch ein Kind. Ich verband nur Bilder von verhungernden Kindern damit. Der Roman hat mich total in seinen Bann gezogen. Nicht nur wegen dem historischen Hintergrund, über den ich viel gelernt habe. Es geht aber auch um die grundsätzlichen Dynamiken, wie es zu Kriegen kommt und wie ein Krieg Menschen und Gesellschaften verändert. Die Geschichte wird aus vielen unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Zum Beispiel aus der Perspektive des 13-jährigen Ugwu, der Houseboy bei dem Mathematik-Professor Odenigbo wird, in den sich Olanna verliebt. Oder aus der Perspektive des Engländers Richard, der ein Buch über die Igbo-Ukwu-Kultur schreiben möchte und sich in Kainene verliebt. Die beiden Paare und ihre persönlichen Verstrickungen stehen im Mittelpunkt des Romans. Er hat deshalb nicht nur eine politische Dimension, sondern auch eine psychologische, bei der es viel um Liebe, Verrat, Versöhnung und Verzeihen geht.
Margit/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Tsitsi Dangarembga: Aufbrechen
Es ist eine Geschichte veröffentlicht am Ende der 80er Jahre, die bis heute vermutlich viele Autorinnen erzählen könnten, die in einem der post-kolonial geprägten Länder Afrikas leben. Es sind drei Umstände, von denen der Roman berichtet: das Mädchen Tambu kann erst zur weiterführenden Schule gehen, nachdem ihr Bruder gestorben ist. Und weil sie mit ihren 13 Jahren die Gesellschaft schon verstanden hat, in der sie lebt, lautet der erste Satz des Romans: „Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb.“ Sich die höhere Bildung anzueignen, ist nicht nur ein Kampf gegen das Patriarchat sondern auch gegen den Kolonialismus, den die Hauptfigur erlebt. Zwei Jahre lang kämpft das Dorfmädchen, wie sie sich selber nennt, jeden Tag darum, am Ende (was natürlich nicht das Ende ist, sondern nur der Schluss des Romans) aufs College gehen zu können. „Posaunen hätten erklingen müssen. Ich hatte das Gefühl, dies werde geschehen, sobald ich durch das Schultor fuhr, das Tor, das mich zur jungen Dame erklärte.“ Der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist Thema von zwei weiteren Tambudzai-Romanen, die auch beide auf deutsch erschienen sind.
Klaus/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
2018 wurde der Roman in die BBC-Liste der „100 Bücher, die die Welt geprägt haben“ aufgenommen, 2021 erhielt Tsitsi Dangarembga den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Mittlerweile gilt sie auch als eine der wichtigsten Regisseurinnen des afrikanischen Kinos. Und weil sie sich noch immer für bessere Lebensbedingungen in Simbabwe einsetzt, wurde sie gerade vor kurzem für die Teilnahme an einer Demonstration zu sechs Monaten Gefängnis (auf Bewährung) und einer Geldstrafe verurteilt – sie hatte ein Schild hoch gehalten, auf dem sie die Freilassung eines Journalisten und ein besseres Simbabwe gefordert hatte …
Es gehört sich freilich nicht, hier ein Buch zu empfehlen, das man noch nicht gelesen hat. Aber ich kann das erklären: Tsitsi Dangarembga ist mir erst seit Oktober 2021 ein Begriff, als ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. Keine Ahnung, warum ich zuvor noch nie von ihr gehört hatte. Ich las also ihr viel gelobtes und prämiertes Debut „Aufbrechen“ und das ist wirklich richtig schön: zart, aber entschieden; kühl, aber mitfühlend. Und es beginnt mit dem Satz „Ich war nicht traurig, als mein Bruder starb“.
Katrin/Referentin der Direktion
Ich wollte selbstredend sofort den zweiten Teil der Tambudzai-Trilogie lesen (Tambudzai heißt die Protagonistin) , aber „The Book of Not“ gab es damals noch nicht auf Deutsch. Mittlerweile sind auch der zweite und dritte Teil, „Verleugnen“ und „Überleben“ übersetzt worden.
Als ich „The Book of Not“ in meinem England-Urlaub dann auf dem Tisch im Waterstones liegen sah, stand ich quasi schon an der Kasse. Auf dem Weg dahin entdeckte ich allerdings eine Neuerscheinung von Tsitsi Dangarambga: ein Essayband, wie großartig! Denn das wollte ich eh schon lange von ihr lesen (sie ist auch Filmemacherin). Der Band „Black and Female“ beginnt mit den Worten „I am an existential refugee.“ Und da lese ich jetzt weiter…
Noch mehr Tipps zur Reading Challenge im Oktober
Weitere Buchtipps zum Thema in englischer Sprache findet ihr hier auf Overdrive. Und eine thematisch passende Playlist könnt ihr euch in der Naxos Music Library anhören (kostenlos mit Bibliotheksausweis).
Schon gesehen? Die Reading Challenge im September.
Hier geht’s zur Themenübersicht der Reading Challenge 2022.