Reading Challenge im Mai
Mal ehrlich: Wie oft verläuft unsere Denkgrenze entlang der Oder-Neiße-Linie, wenn es um Literatur geht? Diese Grenze wollen wir einreißen. Hier kommen eure Buchtipps über den Osten Europas:
(Ein Klick aufs jeweilige Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)
Michal Hvorecky: Tahiti Utopia
Der slowakische Autor Michal Hvorecky unternimmt in seinem neuen Roman eine fiktive wie unterhaltsame Neu-Erzählung der slowakischen Geschichte. Er entwickelt reale historische Figuren für seine Utopie weiter: Der slowakische Astronom, Dichter und General Milan R. Stefanik führt das slowakische Volk nach Ende des ersten Weltkriegs aus der ungarischen Vorherrschaft nach Tahiti um ihm ein neues, freies Leben zu verschaffen. Die Realisierung des Traums in der Südsee misslingt jedoch. Die Utopie ermöglicht Michal Hvorecky aber neben der detailreichen Darstellung der abenteuerlichen Flucht und dem beschwerlichen wie sinnlichen Leben in Hitze und Dschungel auch die Folgen von Nationalismus und Vorurteilen aufzuzeigen und Parallelen zu aktuellen Tendenzen in Orbáns Politik in Ungarn zu ziehen. Denn ohne Utopie, so Hvorecky, gibt es keine Möglichkeit zur Veränderung.
Viola/ Stadtbibliothek Neuhausen
Nini Tsiklauri – Lasst uns um Europa kämpfen
In einem sehr persönlichen Buch erzählt die Georgische Schauspielerin und Musikerin, die in Deutschland u.a. durch die Teenage-Serie „Schloss Einstein“ bekannt wurde, warum sie sich mit voller Überzeugung für Europa einsetzt und ruft uns alle dazu auf ebenfalls für Europa zu kämpfen. Die junge Autorin ist in Georgien, Ungarn und Deutschland aufgewachsen ist dem Kriegsgeschehen in Georgien 2008 nur knapp entkommen und führt uns allen vor Augen, wie wertvoll der europäische Frieden ist. Die pragmatische Herangehensweise der Autorin macht Mut und Hoffnung, dass wir alle unser Schicksal auch selbst in der Hand haben. Ein ehrliches Buch über die unterschiedlichen Sichtweisen in und auf Europa und eine sympathische Aufforderung selbst aktiv zu werden.
Jenny/ Europe Direct
Navid Kermani: Entlang den Gräben
Navid Kermani reiste 2016 und 2017 im Auftrag des Spiegels in mehrere Länder Osteuropas. Entstanden ist schließlich dieses Buch mit dem Untertitel „Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan“. Die Reise führt ihn von seiner Heimatstadt Köln nach Polen, Litauen, Weißrussland, in die Ukraine (er fährt auch in die Sperrzone von Tschernobyl und in den Donbass), von dort über Umwege nach Russland, in den Kaukasus und zuletzt in den Iran, woher seine Familie stammt.
Margit/ Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Navid Kermani sucht Orte auf, an denen sich traumatische Ereignisse abgespielt haben, die zu Brüchen in den Gesellschaften, auch zu Brüchen zwischen Ost und West geführt haben. Er geht zum Beispiel den Folgen des Holocaust in den von den Deutschen besetzten Ländern Osteuropas nach, der dort ganz andere Dimensionen hatte und ganz andere Wunden geschlagen hat, als bei uns in Deutschland. Etwas, was uns hier oft gar nicht bewusst ist. Navid Kermani beschreibt aber nicht nur Orte und deren Geschichte, sondern spricht mit sehr vielen, sehr unterschiedlichen Menschen über die aktuelle Situation in den jeweiligen Ländern. Manche Situationen und Gespräche, die er wiedergibt, haben bei mir lange nachgewirkt. Etwa seine Erlebnisse an der Grenze zwischen Aserbaidschan und Armenien. Mir hat dieses Buch jedenfalls einen sehr tiefen Einblick in die Gesellschaften der Länder verschafft, die Navid Kermani besucht hat.
Tomasz Jedrowski: Im Wasser sind wir schwerelos
Polen, 1980. Der Student Ludwik wird nach dem Abschluss seines Examens in ein landwirtschaftliches Lager geschickt, wo er auf Janusz trifft. Zusammen verbringen sie einen traumhaften Sommer, schwimmen nachts in einem verwunschenen See, lesen verbotene Bücher und … verlieben sich. Doch der magische Schwebezustand ist nur von kurzer Dauer. Zurück in Warschau müssen sie sich den harten Realitäten des Lebens im Kommunismus stellen. Während Ludwik an eine Flucht in den Westen denkt, entscheidet sich Janusz für eine Karriere innerhalb des Systems. Ludwiks Geschichte erfahren wir in Form eines Briefes, den der aus Polen geflohene Erzähler in New York an seinen ehemaligen Geliebten schreibt.
Josef/ Stadtbibliothek Hadern
„Im Wasser sind wir schwerelos“ ist ein atmosphärischer Coming-Out/of-Age-Roman, der nicht nur wegen seines zeithistorischen Hintergrunds interessant ist, sondern auch durch die Schönheit seiner Sprache besticht. Es geht ums Erwachsenwerden, um das Übernehmen von Verantwortung für das eigene, bisher unterdrückte Leben. Und doch auch um sehr viel mehr: Ludwiks Aus- und Aufbruch steht nicht nur für seine persönliche Befreiung, sondern auch für die Befreiung einer ganzen Gesellschaft, die Ende der 80er Jahre die Fesseln des Kommunismus sprengen wird.
Gleich zwei Kolleginnen empfehlen uns diesen Titel:
Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)
Als ich den Aufruf zur Mai-Challenge las, fiel mir nach kurzem Überlegen Nino Haratischwilis Roman ein, den ich vor einigen Jahren mit viel Interesse und Vergnügen gelesen habe. Die gebürtige Georgierin Haratischwili, die seit 2003 in Hamburg lebt, erzählt darin von den Schicksalen einer (ihrer !?) Familie über sechs Generationen vor dem Hintergrund der Geschichte Georgiens im 20. Jahrhundert.
Stefanie/ Stadtbibliothek Laim
Und dann musste ich erst einmal nachsehen: Georgien … ist das denn Europa!? Die Antwort fand ich in den Länderdaten des Munzinger-Portals (kostenlos über die Homepage der Münchner Stadtbibliothek): Georgien, das Land an der Ostküste des Schwarzen Meeres und am Rand des Kaukasus, befindet sich an der geografischen Grenze zwischen Europa und Asien. Es ist heute eine Parlamentarische Republik, zur EU existiert ein Assoziierungsabkommen. Keine Themaverfehlung also …
Haratischwilis dickleibiger Roman spannt einen weiten Bogen von den großen Hoffnungen, die die Georgier mit der „Ersten Republik“ (1917 – 1921) verbanden, über die zunehmende Unterdrückung als Teil der Sowjetunion und den Alptraum des Stalinismus, bis zu den innenpolitischen Verwerfungen und zum Teil gewaltsam ausgetragenen Konflikten nach dem Zerfall der UdSSR.
Es ist die Geschichte einer zunächst großbürgerlichen Familie, die später zur Nomenklatura zählt und über die Jahrzehnte mehr und mehr Illusionen verliert. Und Haratischwili ist eine mitreißende Erzählerin mit Mut zu Anleihen beim Magischen Realismus und zu großen Gesten und dramatischen – Kritiker mögen sagen: melodramatischen – Wendungen. Ein besonderer erzählerischer Kniff: Lawrenti Beria, der als Chef der Sowjetischen Geheimdienste blutige Geschichte schrieb und auch in der Familiengeschichte einen breiten und unheilvollen Raum einnimmt, wird wie auch der Georgier Stalin, nie mit Namen genannt. Eingeweihte wissen, wer mit dem „großen kleinen Mann“ und dem „stählernen Mann“ gemeint ist – andere, wie ich, finden es heraus.
Mein Fazit: eine kurzweilige Lektüre, bei der ich viel erfahren habe über dieses Land am Rand Europas.
Niza Jaschi, die Ich-Erzählerin des Romans, hat vor Jahren ihre Heimat Georgien beinahe fluchtartig verlassen. Eines Tages bekommt sie einen Anruf von ihrer Mutter mit einem dringenden Anliegen: Sie soll „das Kind“ nach Hause bringen. Gemeint ist ihre zwölfjährige Nichte Brilka, welche nach einem Auftritt mit ihrer Tanzgruppe in Amsterdam davongelaufen ist um nach Wien zu gelangen. Dort war ihre Vorfahrin Kitty Musikerin und Brilka versucht auf ihren Spuren Einblicke in ihre Vergangenheit und Identität zu bekommen. Niza unterstützt ihre Nichte bei ihrer Suche und schreibt für sie ausführlich die Geschichte der Familie Jaschi auf – Ein Familienepos über fünf Generationen beginnend im Jahre 1900.
Marie/ Stadtbibliothek Maxvorstadt
Die Autorin Nino Haratischwili, gebürtige Georgierin, arbeitet in ihrem Roman schonungslos politische und gesellschaftliche Konflikte ihrer Heimat auf und verbindet spielend Geschichte und Fiktion. Sie behandelt den Aufstieg und Fall des Kommunismus, Unabhängigkeitsbewegungen und vor allem das Leid, welchem die Frauen der Familie Jaschi in dieser Gesellschaft ausgesetzt sind.