Alles neu macht der Mai, also warum nicht auch beim Lesestoff mal etwas Neues ausprobieren? Bringt ein wenig Abwechslung und neuen Schwung in eure Lektüregewohnheiten und greift zu einem Genre, das ihr sonst meidet oder noch nie ausprobiert habt. Wählt ein Buch aus einem Sprach- oder Kulturraum, der euch weitgehend unbekannt ist oder lest etwas über Themen, denen ihr sonst wenig Aufmerksamkeit schenkt.
Für Ideensuchende gibt es hier schon einige Anstöße von Kolleg*innen, die sich der Herausforderung gestellt haben.
Ein Klick aufs jeweilige Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.
Liao Yiwu: Wuhan
Dieser Titel hat so alles, was ich nicht mag, und deshalb bewege ich mich beim Lesen jenseits jeglicher Komfortzone.
Corinna/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Vor allem verunsichert mich dieser „Dokumentarroman“. (Was soll das überhaupt sein?) Ich mag keine Krimis und keine Thriller, aber wie diese Genres fängt das Buch an. Ich habe die Nase voll von Corona, aber darauf lässt der Titel eben schließen. Die Nachrichten über das unmenschliche Regime in China ängstigen mich, aber damit hat das Werk wesentlich zu tun. Die Zeiten sind für meinen Geschmack zu hart, um Sachbücher über ernste Themen zu lesen, aber neben fiktiven Formen wählt der Autor unzählige authentische Quellen meist aus dem Netz. Eigentlich ist alles dabei, was ich nicht lesen möchte.
Wenn Liao Yiwus Alter Ego namens Ai Ding in Wuhan recherchiert, kommen wir der Wahrheit nach dem Ursprung von SARS-CoV-2 zwar noch weniger auf die Spur als die WHO, sind aber mitten in der gigantischen Überwachungs- und Vertuschungsmaschinerie des chinesischen Staatsapparates, der Stimmung im Land, der Missgunst, der Korruption und des Mutes Einzelner im Alltag. Der Autor unterstützt junge chinesische Widerständler, indem er dem Westen vermittelt, wie im Netz Opposition gemacht wird. Was wir über China lesen und wie Yiwu schreibt, erschreckt, verwirrt, lässt einen laut lachen, viel nachdenken, aber auch verzweifeln, nicht nur an den Zuständen, sondern auch an den Verstrickungen und an der Unmöglichkeit zu überprüfen, was wahr ist und was nur erfunden in diesem „Literaturhybrid“ (SWR2). Das Buch ist wie der Zustand der Welt: nicht komfortabel.
Hosea und Klaus Ratschiller: Den Vater zur Welt bringen
Gerade habe ich das Buch auf meinem Schreibtisch liegen, weil die beiden Autoren im September zur Lesung nach Neuhausen kommen. Normalerweise lese ich keine Bücher über „Väter“, das ist nicht mein Thema. Aber noch viel mehr als ich haben sich die beiden Autoren – Vater und Sohn – aus der Komfortzone begeben: Der eine ist ein bekannter österreichischer Kabarettist, der andere Lehrer und Philosoph, der bisher Romane veröffentlichte. Nun stellen sie sich der besonderen Herausforderung, zusammen und getrennt schreibend dem Vatersein nachzugehen. Dabei beschreiben sie auch detailreich und unterhaltsam die Entstehung dieses Buches.
Viola/Stadtbibliothek Neuhausen
In Gedanken und Dialogen gehen sie auf persönliche Weise der Vaterrolle in Geschichte, Biologie und Kultur nach. Sie charakterisieren den Mythos und die Autorität des Vaters, aber auch die väterliche Verantwortung für Wissensweitergabe, Demokratie und Toleranz. Sie erkunden ihre Vatergefühle und -erfahrungen, und fragen sich „Wann ist der Vater ein Vater?“ Und sie begreifen schließlich „Vater“ nicht als Zustand, sondern als Tätigkeit, das „Vatern“. Hosea und Klaus Ratschiller tragen dabei zwei Rollen in sich: sie sind beide zugleich Vater und Sohn, sehen den Vater also von innen und als Gegenüber von außen.
Besonders spannend ist ihr Fragespiel mit selbst gesetzten Regeln: „Jeder darf dem anderen sieben Fragen stellen. Die Antwort darf höchsten 500 Wörter umfassen. Zu jeder Frage muss eine Zusatzregel aufgestellt werden. Jeder Spieler darf eine Frage streichen.“ Damit fordern sie sich gegenseitig persönlich wie sprachlich heraus und nehmen mich als Leserin auf unterhaltsame Weise mit.
Am Ende ist mich das Buch doch etwas angegangen: ich muss feststellen, dass auch Väter Menschen sind und sich auf sehr persönliche Weise mit den zentralen Fragen des Lebens beschäftigen, über die ich mir auch gerne Gedanken mache.
Kim Hye-Jin: Die Tochter
Ich lese gerne europäische Literatur, ich lese auch amerikanische oder afrikanische. Was ich aber bisher kaum gelesen habe sind asiatische Autor*innen, und deshalb stand für mich schnell fest: Wenn ich meine Komfortzone verlassen soll, dann sollte ich mich schnell mal der asiatischen Literatur widmen.
Birgit/Stadtbibliothek Neuhausen
Zufällig kam ganz neu in unseren Bibliotheksbestand der Roman „Die Tochter“ der koreanischen Schriftstellerin Kim Hye-Jin. Da mir das Cover mit einem Bild der Künstlerin Lori Mehta unglaublich gut gefallen hat, habe ich mir für den Reading-Challenge-Beitrag also diesen schmalen Band geschnappt.
Wir lernen direkt eine Frau kennen, die in einer koreanischen Stadt in einem eher alten und vernachlässigten Haus lebt. Sie ist Altenpflegerin und kümmert sich in der Pflegeeinrichtung um die demente alte Frau Tsen – was sie oft an ihre Grenzen bringt, sowohl körperlich und psychisch, aber auch was die Pflegebedingungen betrifft, denn es soll gespart werden – was natürlich zulasten der Patient*innen geht. Dann zieht ihre Tochter aus Geldknappheit zu ihr und bringt ihre Partnerin mit. So nett das Mädchen (wie die Freundin immer nur genannt wird) auch ist, die Frau kann nicht akzeptieren, dass ihr Tochter eine Beziehung mit einer Frau führt und sich keinen Mann sucht, um ihn zu heiraten und Kinder mit ihm zu bekommen. Dass ihre Tochter sich auch noch aktiv für die Rechte Homosexueller einsetzt, ist da nur ein weiterer Knackpunkt in den laufenden Diskussionen zwischen Mutter und Tochter. Als sich auch Frau Tsens Zustand verschlimmert und sie in ein anderes Heim verlegt werden soll, ist die namenlose Protagonistin schier am Limit und wächst trotzdem über sich hinaus.
Mit 170 Seiten ist „Die Tochter“ ein eher schmaler Roman, der sich schnell lesen lässt. Die Sprache erschien mir trotz der vielen Emotionen unglaublich sachlich. Auch inhaltlich habe ich damit mal etwas gelesen, was ich mir ansonsten nicht unbedingt entliehen hätte und habe damit im doppelten Sinne meine Komfortzone verlassen. Es hat sich aber gelohnt, und ich werde ganz sicher demnächst mal wieder einen Roman aus dem asiatischen Sprachraum lesen.
Wolfgang Kraushaar: „Wann endlich beginnt bei euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“
Wenn es ums Lesen geht, dann bedeuten über 870 Seiten ja nicht unbedingt das Verlassen der Komfortzone – unter Umständen kann ein solcher Umfang ja erst wirklich Komfort bedeuten. Hier ist das jedoch nicht der Fall.
Klaus/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Der Politologe Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, und damit selbst gerade noch ein 68er, wird heute als Chronist dieser Bewegung bezeichnet. Und als solcher hat er eine These, die er auch in diesem Band variiert: die 68er Bewegung war antisemitisch – und deswegen keine Bereicherung der Demokratie in der Bundesrepublik.
Es ist tatsächlich nicht so, dass sich „die 68er“ mit dem Antisemitismus, mit dem Wegsehen und dem Mitmachen ausführlich beschäftigt hätten, mit dem ihre Elterngeneration die einzigartigen und unvergleichlichen Morde des Holocaust ausgeführt hatten. In diesem Buch geht es um die Anschläge auf die Synagoge in Berlin am 9. November 1969 (platzierte Bombe explodiert nicht) und den Anschlag auf das Gemeindehaus der Israelitischen Kultusgemeinde Münchens (Februar 1970, 7 Menschen sterben), die beide von Kraushaar mit Aktivisten der 68er Bewegung in Verbindung gebracht werden.
Und das ist die zweite Zumutung für mich: als ein junger Mann aus einem halbwegs sozialdemokratischen Elternhaus, sozialisiert mit dem Bewusstsein für die Verantwortung für den Holocaust, habe ich mir lange nicht vorstellen können und wollen, dass bestimmende Personen der so wichtigen und auch meinen Weg bereitenden 68er Antisemiten waren. Sätze wie der von Dieter Kunzelmann, die deutsche Linke müsse den „Judenknax“ überwinden, oder die Lobreden von Ulrike Meinhof über das Olympiaattentat von 1972 habe ich erst Mitte der 90er tatsächlich zur Kenntnis genommen. Schließlich – und das ist jetzt Zumutung Nummer drei – kann Kraushaar zwar nicht beweisen, dass prominente 68er Täter waren – aber er zeigt, dass viele von ihnen kein Problem damit hatten.
Soll man diese Zumutung also lesen? Ja, weil man etwas über die deutsche Geschichte lernen kann – zu welcher auch ein Überzeugungstäter wie Wolfgang Kraushaar gehört.
Weitere Buchtipps zum Thema in englischer Sprache findet Ihr hier auf Overdrive .
Und eine thematisch passende Playlist könnt ihr euch in der Naxos Music Library anhören (kostenlos mit Bibliotheksausweis).