Es ist Urlaubszeit und damit für euch hoffentlich Gelegenheit für ausgedehnte Lektüre, denn diesmal erfordert die Aufgabe einige Ausdauer. Sucht euch eine Geschichte aus, die mehrere Generationen einer Familie umfasst. Diese können alle unter einem Dach wohnen oder Jahrzehnt für Jahrzehnt aufeinander folgen. Hauptsache, die Entwicklung – ob Untergang oder Aufstieg der Familie – und die Beziehungen zwischen den Generationen werden beleuchtet. Ob als prominenter Zwist zwischen Jung und Alt oder subtile Andeutungen zwischen den Zeilen. Einige Kolleg*innen haben die Challenge mitgemacht, und stellen hier ihre Auswahl vor.
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Marta Haberland: Thereses Töchter. Die Augustiner-Gründerdynastie Wagner
Augustiner ist nicht nur Münchnern ein Begriff, schließlich ist das Brauereigelände fast schon ein Münchner Wahrzeichen und das vorzügliche Bier über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt. Seit 1829 lenkt die Familiendynastie Wagner die Geschicke von Augustiner. Das Buch „Thereses Töchter“ verbindet die spannende Familiengeschichte mit interessanten Einblicken in die Stadt- und Brauereihistorie. Dabei richtet es den Blick besonders auf die Wagner-Frauen, denn oft waren sie es, die durch weitsichtige Entscheidungen den Weg für die kommenden Generationen ebneten.
Sylvi/Monacensia
1829 übernahmen Anton und Therese Wagner die damals noch in der Neuhausergasse gelegene Brauerei. Früh verwitwet, hielt Therese gegen den Widerstand ihrer männlichen Berufskollegen an der Leitung des Betriebs fest, um ihn im Familienbesitz zu halten. Ihr Sohn Josef machte, unterstützt von seiner Frau Bertha, Augustiner zur überregional bekannten Marke. Eine Tochter von Josef und Bertha, Sophie von Trentini, war engagierte Frauenrechtlerin. Sie setzte sich für bessere Arbeitsbedingungen für Kellnerinnen ein und nahm dabei auch ihren Vater in die Pflicht.
Edith Haberland-Wagner schließlich, Sophies Nichte und Thereses Urenkelin, brach aus den Familienbanden aus und führte ein selbstbestimmtes Leben als Künstlerin. Im hohen Alter erbte sie überraschend die Hälfte der Brauerei und war noch einige Jahre in der Leitung des Familienunternehmens tätig. Nach ihrem Tod 1996 floss, so hatte sie es verfügt, ihr Anteil an der Brauerei in eine wohltätige Stiftung. Die Edith-Haberland-Wagner-Stiftung ist auch Herausgeberin des Buchs – und wer zur Lektüre ein gutes Augustiner trinkt, tut damit nicht nur sich selbst etwas Gutes, denn etwas mehr als 50% des Gewinns der Brauerei fließen in die Stiftung.
Eva Menasse: Vienna
Als ich das Thema der Reading Challenge des Monats Juli gesehen habe, sind mir „natürlich“ als erstes Thomas Manns Buddenbrooks eingefallen. Aber keine Angst, hier soll es um ein gut hundert Jahre jüngeres und nur halb so dickes Buch gehen, nämlich um das Erstlingswerk der 1970 in Wien geborenen Autorin Eva Menasse. Unerklärlicherweise hatte ich ihre anderen Romane alle schon vorher gelesen – und war da schon Fan von Menasse geworden – und „Vienna“ erst vor kurzem. Gefallen hat es mir aber fast noch besser als ihre neueren Werke.
Sabine/Stadtbibliothek Neuhausen
Eva Menasse erzählt die fiktionalisierte Geschichte ihrer teils jüdisch, teils christlich geprägten Familie aus der Sicht der Enkelin. Beginnend mit der Sturzgeburt des Vaters auf einem Persianer-Pelzmantel – weil die Großmutter als leidenschaftliche Kartenspielerin ihre Bridge-Partie nicht rechtzeitig beendet hatte – zum jüdischen Großvater, einem Wiener Charmeur, dem die Frauen zu Füßen liegen. Natürlich sehr zum Missfallen seiner nicht-jüdischen Ehefrau, die dennoch in der Zeit des Nationalsozialismus zu ihm hält und seine Deportation verhindert. Bis zum Vater der Autorin, der seine Kindheit in England verbringen musste, später Fußballspieler in der österreichischen Nationalmannschaft wird, seine Freizeit aber fast komplett mit Frau und Kindern im örtlichen Tennisklub verbringt.
Eine große Anzahl weiterer Familienmitglieder taucht im Lauf der Jahrzehnte auf, alle wunderbar beschrieben und liebevoll-spöttisch charakterisiert. Neben den vielen witzig-skurrilen Anekdoten hat mich auch immer Menasses Humor und ihre Sprache begeistert, bei der man quasi im Hinterkopf den Wiener Dialekt mithört. (Spezielle österreichische Begriffe werden für „Piefke“ im Anhang erläutert.)
Eine volle Empfehlung also für dieses Buch und alle anderen Werke der Autorin.
Jonathan Franzen: Die Korrekturen
Eine Familie: Mutter, Vater, zwei Söhne, eine Tochter, weiß, Mittelschicht, mittlerer Westen der USA. Das ist der Rahmen, den Jonathan Franzen in seinem 2001 erschienen Roman „Korrekturen“ bereitstellt. Das Setting ist also so normal, dass viele damals jubelten, Franzen habe den großen 90er Jahre Roman geschrieben. Und gleichzeitig war der Text tauglich als Projektionsfläche für viele von uns – und ja: 20 Jahre später müssen diese Beschreibungen korrigiert werden.
Klaus/Programm und Öffentlichkeitsarbeit
Zentrales Motiv der knapp 800 Seiten: Mutter Enid möchte noch einmal ein familiäres Weihnachtsfest veranstalten. Sie beginnt mit der Planung schon im März und welcher/wem es jetzt schon allein bei der Vorstellung schaudert, liegt richtig. Zwar kommt es dazu, aber bis dahin erfahren wir nicht nur, wie Enids Mann Alfred immer mehr von der Parkinson’schen Krankheit verwüstet wird, und wie die drei Kinder zwar längst bei ihren Eltern ausgezogen sind, aber noch immer ihren Weg suchen, zum Erwachsen werden, zur sexuellen Identität, zum Grund dafür, dass sie ihre Eltern eben doch lieben. Die Holprigkeit und die Umwege, die eigenen Interessen und die eigene Blödheit, all das werden wir wiedererkennen und uns fremdschämen und amüsieren, mitleiden oder ärgern. Auf jeden Fall aber lesen wir den Roman einer Familie, der auch 20 Jahre danach noch immer unwiderstehlich ist. Und am Schluss, so viel sei gespoilert, kann Enid tatsächlich einiges ändern.
Anne Gesthuysen: Mädelsabend
Berührend, witzig und charmant umschreibt Anne Gesthuysen in diesem Familienroman die beiden Lebensgeschichten zweier Frauen aus unterschiedlichen Generationen: Oma und Enkelin.
Nadine/Stadtbibliothek Berg am Laim
Enkelin Sara steht vor einer schwierigen Lebensentscheidung, die ihre Ehe auf eine harte Probe stellt und sucht verzweifelt Rat bei ihrer Großmutter Ruth, welche seit einem unglücklichem Sturz zusammen mit ihrem Ehemann Walter im Seniorenheim Burg Winnethal lebt. Ruth fühlt sich dort pudelwohl und genießt das Leben unter Gleichgesinnten, während Walter am liebsten wieder nach Hause möchte.
Gegenwart und Zukunft gehen geschickt ineinander über. Das Buch entführt den Leser in Ruths bewegte Vergangenheit voller Höhen und Tiefen, und zeigt dabei auf, dass es sich durchaus lohnt, für seine persönlichen Träume und Ziele zu kämpfen – und dass es dafür nie zu spät ist.
Die beiden Protagonistinnen sind mir sofort an Herz gewachsen und ich habe regelrecht mit ihnen gelacht, geweint und gelitten. Ein rundum gelungenes Buch, das Mut macht und uns zeigt, dass selbst die schwierigsten Zeiten irgendwann vorüber gehen und alles irgendwie gut wird.
Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)
Gerade rechtzeitig zur Reading Challenge habe ich das Buch „Das achte Leben (für Brilka)“ von Nino Haratischwili fertig gelesen. Das Werk stand schon länger auf meiner Leseliste. Kürzlich bin ich wieder darauf gestoßen, als auf Twitter Romanempfehlungen rund um den Ukraine-Krieg ausgetauscht wurden. Nun spielt die Handlung hauptsächlich in Georgien und nicht in der Ukraine, aber dennoch lernt man sehr viel über das letzte Jahrhundert und die Geschichte von Russland bzw. den Sowjetstaaten, welche untrennbar mit sowohl Georgien als auch der Ukraine verbunden ist. Ebenso sind die Schilderungen der Kriege sehr eindrücklich, und man bekommt leider eine bessere Vorstellung davon, welches Leid gerade durch den aktuellen Krieg verursacht wird.
Birgit/Stadtbibliothek im HP8
Unabhängig von seiner Aktualität ist es auch eine fesselnde und sehr abwechslungsreiche Geschichte. Es werden uns acht Leben (hauptsächlich Frauen) aus 100 Jahren der Familie Jaschi erzählt. Alle sind eng miteinander und einem Rezept für heiße Schokolade (leider wird dieses nicht verraten) verwoben, und man hat eigentlich weniger das Gefühl ein Buch zu lesen, als eine spannende Serie zu sehen (Es würde mich übrigens auch nicht wundern, wenn es bald eine Netflix-Verfilmung gäbe). Wer also auf der Suche nach einem aktuellen Familienepos ist und sich von über 1000 Seiten nicht abschrecken lässt, der wird hier definitiv fündig!
Daniel Wisser: Wir bleiben noch
Victor liebt Karoline. Und Karoline liebt Victor. So weit so gut, wären die beiden nicht Cousin und Cousine. Natürlich geht ein Aufschrei durch die Familie, „krank“ und „pervers“ sind da noch die harmlosen Beschimpfungen. Doch Victor und Karoline, beide Mitte 40 und kinderlos lassen sich nicht beirren und gehen nicht nur eine Beziehung ein, sondern ziehen auch nach dem Tod der Urgroßmutter (Urli genannt) in deren Haus. Die Grabenkämpfe innerhalb der Familie werden durch die Erbstreitigkeiten (denn auch die Mütter von Karoline und Victor wollen das Haus der Urli für sich) noch verstärkt und so bleiben für Victor und Karoline irgendwann nur die vielen Familienanekdoten: die Großeltern, Eltern, Tanten und Nachbar*innen tauchen immer wieder in Erinnerungsschnipseln auf, ein vergrabener Goldschatz spielt eine Rolle und alte Fotoalben wechseln den Besitzer, es geht ums Kinderkriegen, eine Scheidung wird durchgeführt, das Ibiza-Video enthüllt, jede Menge Holz gehackt und geheiratet wird auch.
Birgit/Stadtbibliothek Neuhausen
„Wir bleiben noch“ ist kein klassischer Familienroman, sondern die Erzählung einer großen Liebe, eines Rückzugs und eines Vordringens in die Welt mit vielen Erinnerungen an die gute alte Zeit, die vielleicht doch gar nicht so gut und heil war, wie es immer geschildert wird. Erzählt wird in kurzen Kapiteln und in vielen Messengernachrichten. Das Abtauchen in das Leben von Victor und Karoline ist mal heiter und mal traurig und macht immer Spaß zu lesen.
Dagmar Nick: Eingefangene Schatten. Mein jüdisches Familienbuch
In ihrem sehr persönlichen Familienbuch erzählt die inzwischen 96-jährige Lyrikerin Dagmar Nick die wechselvolle Geschichte ihrer jüdischen Vorfahren in Hamburg, Berlin und Breslau vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.
Viola/Stadtbibliothek Neuhausen
Ungezählte Stammbäume hat Dagmar Nick erforscht und aufgezeichnet, bis sie die Schatten ihrer Ahnen und den Kanon ihrer Stimmen einfangen und daraus ein Buch schreiben konnte. Es ist trotz aller Fakten und Recherchen ein sehr persönliches Buch geworden, eine Art Schattenbeschwörung in eigener Sache, ein eindrucksvolles Familienpanorama, das von 1550 bis zur Shoah reicht. Es steckt voller anrührender Geschichten, wunderbar poetisch, und dennoch in der Nick‘schen klaren Ausdrucksweise. Man erfährt darin viel über jüdisches Leben in Deutschland.
Zum Beispiel von Moses Spanier, der vermutlich 1550 in Hamburg geboren wurde und so erfolgreich als Kaufmann war, dass er von Graf Adolf XIV zu Holstein und Schaumburg einen dokumentierten Schutzbrief erhielt und sich deshalb in Stadthagen niederlassen und eine Familie gründen konnte. Sein Sohn Nathan kümmerte sich um arme hochdeutsche Flüchtlinge, die von den sephardischen Glaubensbrüdern abgelehnt wurden. Oder „Suppenlina“, Lina Morgenstern, die schon 1848 ihren ersten Verein zur Unterstützung armer Schulkinder gründete und gegen das Verbot von Kindergärten in Preußen empörte. Als sich im Kriegsjahr 1866 die Versorgungslage verschlechterte, erfand sie die Berliner Volksküchen, aber auch eine Akademie zur wissenschaftlichen Fortbildung für Damen, die deutsche Hausfrauenzeitung und 1896 wurde sie Vizepräsidentin in der Frauenliga für Internationale Abrüstung. Im Familiengedächtnis überlebte Lina jedoch nicht als engagierte Frauenrechtlerin, sondern als schlampige Hausfrau. „Wenn es bei uns im Kinderzimmer sehr unordentlich war, sagte meine Mutter, hier sehe es aus wie bei Lina Morgenstern“.
Eine beklemmende Stimmung beherrscht diese Familiensaga, die mit Flüchtlingen beginnt und mit Verfolgten endet. Die Familie Dagmar Nicks umfasst gut siebenhundert Personen in viereinhalb Jahrhunderten. Ihre Höhepunkte findet sie im achtzehnten Jahrhundert, die Zeit der sogenannten Hofjuden, und sie endet im zwanzigsten Jahrhundert mit Verfolgung und Tod im Nationalsozialismus.
Weitere Buchtipps zum Thema in englischer Sprache findet Ihr hier auf Overdrive.
Und eine thematisch passende Playlist könnt ihr euch in der Naxos Music Library anhören (kostenlos mit Bibliotheksausweis).
Die Geschichte klingt schön. Ich finde es toll, dass auch Geschichten von Seniorenheim in einem Seniorenheim erzählt werden. Leider gibt es das nicht mehr so oft.