Reading Challenge 2018: Bücher über trans- und homosexuelle Identität

Im Januar haben wir zur Reading Challenge “Lesen verbindet!” aufgerufen. Die fünfte Aufgabe, die wir euch und uns stellen: ein Buch zu lesen, das von trans- oder homosexueller Identität handelt. Wobei wir eines nicht mit dem anderen gleichsetzen wollen! Dennoch haben wir beide Themen zusammengefasst, weil sie beide an althergebrachte Zuschreibungen von ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Sexualität rühren. Zum Einstieg gibt es wie immer Tipps von unseren BibliotheksbloggerInnen.

Ein Klick auf das Cover bzw. den verlinkten Namen führt euch in den Onlinekatalog der Münchner Stadtbibliothek zum Bestellen.


Ursula K. Le Guin: Die linke Hand der Dunkelheit

In einer fernen Zukunft reist ein einzelner Erdenbewohner an den Rand des bekannten Universums zum Planeten Gethen. Die Menschen dort vereinen beide Geschlechter in sich, nur in der fruchtbaren Phase ihres Sexualzyklus bilden sich weibliche bzw. männliche Formen aus. Für die Gethenianer ist es möglich, sowohl Mutter als auch Vater von Kindern zu werden.

Die Autorin Ursula K. Le Guin entwirft in ihrem 1969 erschienenen Roman ein faszinierendes Bild von Gesellschaften, in denen sich der Einzelne frei entwickeln kann, ohne von Geburt an in Geschlechterrollen gepresst zu werden. Das zweite große Thema des Buches ist die Verständigung und Annäherung verschiedener Kulturen. Auch die Spannung kommt nicht zu kurz: Bis zuletzt bangt die Leserin/der Leser, ob der Gesandte Genly Ai seinen schwierigen und lebensgefährlichen Auftrag erfüllen kann. Herzliche Empfehlung an alle, die für sich Gender- und interkulturelle Themen interessieren. Susanne/Stadtbibliothek Hasenbergl

Heyne Verlag, 400 Seiten, aus dem Amerikanischen von Gisela Stege


James Baldwin: Giovanni’s Room

Giovanni’s Room is not about homosexual love.
It’s about what happens to you if you’re afraid to love anybody. (James Baldwin)

Soeben ist eine Neuübersetzung des 1953 erschienenen autobiografischen Debut-Romans von James Baldwin unter dem Titel “Von dieser Welt“ (“Go Tell It on the Mountain“) erschienen. Wer Baldwin für sich entdecken will, sollte aber unbedingt auch dessen zweiten Roman „Giovanni’s Room“ (1956) lesen, der ebenfalls autobiografische Züge trägt und wunderbar zur Mai-Aufgabe der Reading Challenge passt.

Der Plot ist schnell erzählt: Paris in den 1950er Jahren – der junge Amerikaner David lernt den attraktiven Kellner Giovanni kennen, mit dem er eine leidenschaftlichen Affäre beginnt. Die unerwartete Intensität der bisher unterdrückten Gefühle stellt nicht nur sein bisheriges Leben in Frage, sondern hat in ihrer Konsequenz auch Folgen für die Menschen, die er liebt. Als Davids Freundin nach längerer Abwesenheit zurückkehrt, muss er sich den Tatsachen stellen. Die tragische Suche nach der eigenen sexuellen Identität, hier von einem schwulen schwarzen Autor interessanterweise mit einem weißen Protagonisten inszeniert, ist wirklich ergreifend. Der Roman selbst ist atmosphärisch dicht und auch sprachlich brillant. Ein zu seiner Zeit skandalöses Meisterwerk, das ich – nicht zuletzt auch wegen seiner erstaunlichen Modernität – unbedingt weiter empfehlen möchte. Josef/Stadtbibliothek Hadern

Englisch: Penguin Classics, 160 Seiten
Deutsch: Rowohlt-Ausgabe aus den 1960er Jahren, aus dem Amerikanischen von Axel Kaun und Hans-Heinrich Wellmann


Robert Deutsch: Turing

Alan Turing fasziniert mich, seit ich den Film „Enigma“ gesehen habe. Dieser Film erzählt sehr spannend, wie europäische Mathematiker während des Zweiten Weltkriegs die deutsche Verschlüsselungsmaschine Enigma mit Hilfe der von Turing entwickelten ‚Turing-Bombe‘ knacken. Turing, ein begnadeter Kryptoanalytiker und Informatiker, war homosexuell. Für einen Mann, der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in England gelebt hat, bedeutete das, dass er ein Leben in Heimlichkeit und aufgezwungener Scham führen musste.

Turings Leben verlief alles andere als unbeschwert: als Kind wurde er von seinen Eltern zu Pflegeeltern und in Internate abgeschoben, als homosexueller Mann von der Gesellschaft geächtet und kriminalisiert, als Geheimdienstmitarbeiter galt er als Sicherheitsrisiko. Nach seiner Verurteilung wegen Homosexualität hatte er die ‚Wahl‘ zwischen einer Gefängnisstrafe und einer Hormontherapie, die tatsächlich einer chemischen Kastration gleich kam. Turing entschied sich für die Hormontherapie, sein Körper veränderte sich, er litt zunehmend unter Depressionen und sah schließlich als letzten Ausweg, sich selbst das Leben zu nehmen.

Robert Deutsch zeichnet in seiner Graphic Novel „Turing“ das Leben des Kryptoanalytikers in überwiegend flächigen, manchmal fast naiv-idyllisch wirkenden und sehr stimmigen Bildern nach. Durchgängiges Motiv ist dabei das Märchen von Schneewittchen und den sieben Zwergen, das auf den Mathematiker eine besondere Faszination ausübte. Waltraud/Stadtbibliothek Am Gasteig

Avant-Verlag, 192 Seiten


Meredith Russo: Als ich Amanda wurde

Amanda hieß früher Andrew und wurde in der Schule gemobbt. Bei ihrem Vater möchte sie nun einen neuen Anfang wagen. Eine neue Schule, neue Klassenkameraden.
Keiner weiß von ihrem alten Leben.
Sie erlebt wahre Freundschaft und die erste Liebe, doch auf einmal scheint sich alles zu wiederholen..

Die Geschichte hat mich von Anfang an gepackt. Dadurch, dass Meredith Russo viele Ihrer eigenen Erfahrungen und Gedanken als Transgender eingebracht hat, ist Amandas Geschichte sehr realistisch und ergreifend geschrieben. Man versteht, wie schwierig es manchmal ist, sich selbst zu akzeptieren. Auch mit der Engstirnigkeit und Gewalttätigkeit die manche Menschen gegenüber Dingen zeigen, die sie nicht verstehen, muss man erst einmal lernen umzugehen. Sarah/Stadtbibliothek Pasing

dtv Verlag, 304 Seiten, aus dem Amerikanischen von Barbara Lehnerer


Nina LaCour und David Levithan: Eine Woche für die Ewigkeit

Mark und Kate, die sich bisher nur vom Sehen her kennen, treffen sich zufällig in einer Bar in San Francisco. Sie verstehen sich auf Anhieb gut, da sie dasselbe Problem haben. Kate ist seit Ewigkeiten in das gleiche Mädchen verliebt, läuft aber vor schwierigen Situationen davon, und Mark hat sich gerade total blamiert, um seinen besten Freund zu beeindrucken. Die beiden halten von nun an zusammen und stürzen sich in den Trubel der Pride Week.

Trotz der Kürze des Buches, hat es alles, was ein gutes Buch braucht. Spannung, Liebe, Emotionen, Freundschaft…
Ich lese fast alle Bücher zu diesem Thema und finde, dass es eines der Besten ist. Sarah/Stadtbibliothek Pasing

Carlsen Verlag, 288 Seiten, aus dem Amerikanischen von Christel Kröning und Martina Tichy

 


Annie E. Proulx: Brokeback Mountain

Wyoming in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Jake und Ennis sind zwei junge Burschen, Underdogs ohne Schulabschluss, mit denen es das Leben von Anfang an nicht gut gemeint hat. Sie verdingen sich als Schafhirten – und während der langen Monate in den einsamen, unwirtlichen Brokeback Mountains kommen sie einander langsam näher: zuerst als Kumpels, dann in einer eruptiven Leidenschaft, die sie selber überrumpelt. Sie brauchen Jahre, bis sie sich eingestehen, dass das, was zwischen ihnen passiert ist, mehr ist als ein peinlicher Ausrutscher, dass jeder von ihnen im anderen seinen Lebensmenschen gefunden hat – body and soul. Aber in ihrer ländlich konservativen und zutiefst homophoben Umgebung hat schwule Liebe keinen Platz …

Annie Proulxs mit mehreren Preisen ausgezeichnete Kurzgeschichte erschien erstmals 1997. Sie schildert, wie viele ihrer Geschichten, eine harte, oft gnadenlose Welt, in der ihre Protagonisten irgendwie zurechtkommen müssen. Proulx erzählt knapp, lakonisch – ihre große Kunst besteht darin, dass sie beim Leser die tiefen Gefühle weckt, die sie im Text bestenfalls andeutet. In der deutschen Ausgabe stört allerdings der nicht sehr geglückte Versuch, den Slang der Jungs ins Deutsche zu transportieren.

Ang Lee hat „Brokeback Mountain“ mit Heath Ledger und Jake Gyllenhaal in den Hauptrollen verfilmt. Sein Film gibt vielem Raum, was in der Kurzgeschichte nur angedeutet ist: Er nimmt sich Zeit für die Poesie der herbschönen Landschaft, für das Sich-Näherkommen von zwei rauen Jungs, die nie gelernt haben, über sich nachzudenken, geschweige denn darüber zu reden. Und er erzählt ihre trotz schöner Momente letztlich tieftraurige Lebensgeschichte.
Ein herzzerreißend schöner Film, der – wen wundert’s – vor allem in den USA auch kontroverse Debatten zum Thema ausgelöst hat. Stefanie/Stadtbibliothek Laim

Trivia:
Der Film wurde 2006 u.a. mit 3 Oskars und 4 Golden Globes ausgezeichnet;
Heath Ledger starb 2008 mit 29 Jahren und wurde posthum mit einem Oskar (für eine andere Rolle) geehrt;
das Wort „brokeback“ hat, in Anlehnung an den Film, als Adjektiv Einzug in die amerikanische Umgangssprache gehalten.


Angela Steidel: Rosenstengel / Angela Steidele: Anne Lister

Von Angela Steidele muss ich hier schlichtweg jedes Buch empfehlen. Vielleicht sogar ihre Disseration namens „Als wenn Du mein Geliebter wärest. Liebe und Begehren zwischen Frauen in der deutschsprachigen Literatur 1750–1850“, denn diese stellt wohl die Grundlage für ihr weiteres Schaffen dar. Steidele arbeitet gewissermaßen als Archäologin, die nach dem gräbt, was in der offiziellen Geschichtsschreibung getilgt, vergessen oder als vermeintlich belanglos ignoriert wurde: Biografien von homosexuellen Frauen.

Ich bin auf Steidele erst durch ihren Roman „Rosenstengel“ aufmerksam geworden: Die als Briefroman erzählte Geschichte von Catharina Linck, die als Mann unter dem Namen Anastius Rosenstengel lebte – inklusive einer ledernen Penisprothese. 

Die literarische Verarbeitung historischer Begebenheiten – nie lässt sich bei Steidele genau unterscheiden, was echt, was erfunden ist –, will aber nicht nur gute Story sein (was sie ohne Frage ist!). Sondern stets auch durchsichtig machen, wie überhaupt Geschichte geschrieben wird. Das in Geheimschrift verfasste Tagebuch von Anne Lister etwa, der Hauptfigur von Steideles jüngsten Roman, ist noch immer nicht vollständig entfziffert. Die pikanten Stellen der Aufzeichnungen dieses lesbischen Don Juan fanden die Historikerinnen in den 70er Jahren (dieses Jahrhunderts!) nämlich schlicht zu banal oder wissenschaftlich uninteressant.

(Und dann guckt euch bitte das Anne-Lister-Cover mal genauer an …) Katrin/Redaktion

Matthes & Seitz, 383 Seiten / 328 Seiten


Noch mehr Buchtipps zum Thema – (fast) ohne weitere Erklärung …

Ich hab vor 15 Jahren „Middlesex“ von J. Eugenides gelesen. An viel kann ich mich nicht mehr erinnern… aber alles, woran ich mich erinnern kann, ist: es ist sehr gut! (Fred, Stadtbibliothek Berg am Laim)

Sascha Marianna Salzmann: Außer sich

Sabina Lorenz: Aufhellungen

Didier Eribon: Rückkehr nach Reims

Edouard Louis: Im Herzen der Gewalt

Maaike Sips: Papa Monica


Und ein Webtipp: queeres lesen hören

Ein audiovisueller Parcours von Lann Hornscheidt und Kristof Magnusson


Sowie ausnahmsweise ein Filmtipp:

Julia Solomonoff: Nobody’s Watching (dt. Kinostart: 5. April 2018)

Sehnsüchtig nach einem Neustart schlägt sich Nico (Guillermo Pfening) in New York durch. Zu Hause in Buenos Aires hat er nicht nur eine Schauspielkarriere in einer erfolgreichen TV-Serie zurückgelassen, sondern auch Martín (Rafael Ferro). Mit ihm hatte Nico eine leidenschaftliche Affäre, und nun vermisst er ihn schmerzlich. Es kostet ihn seine ganze Kraft, nicht vor Liebeskummer zusammen zu brechen. Er hält sich mit Kellnern über Wasser, ein versprochenes Filmprojekt wird abgesagt, sein Visum läuft aus – Nicos Last scheint immer schwerer zu werden. Einer argentinischen Freundin erleichtert er den Alltag und babysittet ihren Sohn. Die Freundschaft wird allerdings immer mehr zu einer ungleichen Arbeitsbeziehung. Zusätzlich wird Nico bei Filmcastings abgewiesen, da er das Klischee des Latino nicht erfüllt, er sei zu blond.

Eine erfolgreiche Produzentin weckt neue Hoffnungen, erklärt Nico aber schließlich, er solle seine Haare dunkel färben. Und dann meldet sich plötzlich Martín und Nicos New Yorker Existenz bricht wie ein Kartenhaus zusammen. Er lässt sich im Nachtleben treiben, sucht Ablenkung in One-Night-Stands, versucht sich von Martín zu befreien. Regisseurin Julia Solomonoff („Mein Sommer mit Mario“) zeigt unaufgeregt Nicos zähen Kampf, sein schonungsloses Scheitern. New York bleibt dabei ein Ort der Möglichkeiten, voll wunderbarer Menschen, aber ohne Platz für Nico. Beeindruckend verkörpert Guillermo Pfening einen Mann, der sich standhaft gegen die Selbstaufgabe entscheidet und dessen ersehnter Neustart anders aussehen muss, als geplant. Anna/Geschäftsleitung

„Nobody’s Watching“ Argentinien, Kolumbien, Brasilien, USA, 2017, Regie: Julia Solomonoff. Mit: Guillermo Pfening, Rafael Ferro, Elena Roger, Cristina Morrison u.a., 102 Min.


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Featured Image:Peter Hershey / Unsplash

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