Frauenleben

Reading Challenge 2019 im März

Alle Jahre wieder sichtet die amerikanische Organisation VIDA die wichtigsten Zeitungen und Magazine der USA – und zählt: Wie viele Bücher von Frauen wurden besprochen und wie viele von Männern? Wie viele Bücher von Frauen wurden von Frauen besprochen, wie viele von Männern? Wie viele Frauen publizieren Buchbesprechungen, wie viele Männer? Und so weiter, ihr versteht, worum es geht. In manchen Fällen sind die Zahlen wirklich bestürzend, und gleichzeitig bin ich doch immer wieder voll des Staunens, dass Frauen es überhaupt schon soweit gebracht haben, nachdem sie in einer geradezu irren Geschwindigkeit einen über Jahrhunderte fortgesetzten Bildungsnachteil wettmachen müssen (der, weltweit betrachtet, ja weiterhin besteht).

Auch darauf zielt das Märzthema unserer Reading Challenge 2019: „Frauenleben“ meint Bücher, die von der Herausforderung erzählen, in einer männlich organisierten Welt einen eigenen Weg auszumachen. Und wenn ich das so formuliere, fallen mir spannenderweise sofort drei bayerische Autorinnen ein: Lena Christ etwa und natürlich Marieluise Fleißer und die herrlich bitterböse Gisela Elsner; aus Österreich reihen sich noch Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek ein. Zu den Klassikerinnen gehören selbstredend auch Sylvia Plath und Virginia Woolf, die ich beide erst sehr spät (aber dann sofort durch und durch beglückt) entdeckt habe.

Und von den gegenwärtigen Autorinnen möchte ich noch zwei empfehlen, nämlich Ali Smith und Angela Steidele, die nicht nur ihre Initialen gemein haben, sondern die auch eint, dass sie in wunderschöner und kluger Prosa über Geschlechteridentitäten nachdenken. Smith zielt eher aufs Literarische, Steidele aufs Dokumentarische – aber lest einfach selbst!

Und bitte ergänzt in den Kommentare, welche wichtigen Autorinnen hier noch fehlen – das sind jede Menge, klar …


Unsere persönlichen Lesetipps zum Thema

(Ein Klick aufs Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Bestellen.)

Eva Menasse: Quasikristalle

Die Raffinesse des Romans liegt ganz in seiner Konstruktion. Jedes Kapitel ist aus der Perspektive einer anderen Figur erzählt, und alle diese Blickwinkel kreisen um die Protagonistin Xane Molin. Eva Menasse zerlegt das Leben dieser Frau in unterschiedliche Lebensphasen, Aspekte und Rollen: als Mutter und Tochter, als Freundin, Mieterin, flüchtige Bekannte, Patientin und treulose Ehefrau.

Dieses Frauenleben setzt sich aus Verbindungen und Auflösungen zusammen, die ein Muster ergeben, dessen Gesetzmäßigkeiten nur schwer zu erkennen sind. Ganz wie jene Quasikristalle, die der israelische Chemiker Daniel Shechtman 1982 entdeckte: Verknüpfungsmuster, die nach Zufall aussehen, weil wir ihre aperiodische Ordnung nicht erkennen.

In der Beschreibung Xanes von Menschen ihrer Umgebung nähert sich Eva Menasse dieser Frau, spannt einen zeitlichen Bogen von der Kindheit bis ins Großmutteralter, zeigt ihre Veränderungen, ihre Schwächen und liebenswerten Eigenschaften, stellt eine komplexe Frauenfigur und ein wechselvolles Frauenleben dar und zeigt dabei den Unterschied zwischen äußerer Wahrnehmung und innerer Wahrheit. Selbst für ihren Sohn wird Xane am Ende unverständlich und fremd wenn er ihr schreibt „Denn du siehst, es gibt immer wieder neue Aspekte, weil sich die Wendungen des Lebens eben nicht vorhersagen lassen.“ Viola, Stadtbibliothek Neuhausen

Kiepenheuer & Witsch, 432 Seiten


Annie Ernaux: Erinnerungen eines Mädchens

1958: Annie ist 18 Jahre alt und wird den Sommer über als Betreuerin in einer Ferienkolonie arbeiten. Sie genießt es, ihrem Elternhaus entkommen zu sein. Bei der ersten Fete wird sie massiv vom Chefbetreuer H. bedrängt, sie unterwirft sich und verbringt die Nacht mit ihm. Diese Nacht wird Annie lange prägen: Sie meint, in H. verliebt zu sein, der sie jedoch in der Folgezeit komplett ignoriert. Sie möchte einfach nur dazugehören und weiß dennoch nicht, wohin mit sich, so dass sie sich anderen Männern hingibt, von den Gleichaltrigen jedoch ausgegrenzt und verspottet wird. Die Nacht mit H. prägen Annie nicht nur für die nächsten Wochen sondern für die kommenden Jahre.

Annie Ernaux hat tief in ihren Erinnerungen gegraben und sehr viel aufgearbeitet, um Jahrzehnte später autobiografisch darüber zu schreiben. Als Leserin beobachtet man, wie sehr sich Annie in ihrem Wunsch, H. zu gefallen, verrennt. Annie Ernaux ringt auf allen Seiten wie eine Außenstehende um ihre Erinnerung. Diese „Erinnerungen eines Mädchens“ ist keine leicht zu lesende Literatur. Das Buch zeigt ein Frauenleben in den 1950er Jahren – und trotz aller Emanzipation könnte es auch ein Frauenleben heute sein. Birgit / Stadtbibliothek Neuhausen

Suhrkamp Verlag, 163 Seiten, aus dem Französischen von Sonja Finck


Lea Rieck: Sag dem Abenteuer, ich komme

„Fröhlich wippt jetzt der Pferdeschwanz meiner Volontärin zu den Klängen von ‚Work Hard, Play Hard‘ hinter dem Compu­terbildschirm. Dann steht sie auf, nimmt ihre Evian ­Wasserfla­sche und gießt damit unsere Büropflanzen im Designer­ Kera­miktopf. Mit großen Augen schaue ich sie an. Und plötzlich ist alles ganz klar. Ich will keine Büropflanze mehr und auch keinen Topf, ich will echte Erde und echten Regen. Was wäre, wenn ich einmal mutig wäre, einmal etwas tun würde, das nichts mit ei­nem ordentlichen Lebenslauf zu tun hat und das keiner von mir erwartet?“

Der Moment, der alles verändert, kann jederzeit kommen. Für Lea ist es der Montag in der Redaktion, an dem sie ihrer Kollegin zusieht, wie sie die Luxus-Zimmerpflanze mit Evian-Wasser gießt. Sie kündigt ihren Job und ihre Wohnung und macht das, was sie schon viel zu lange machen will: eine Weltreise. Auf dem Motorrad. Ganz allein.

In rasantem Tempo nimmt einen der Reisebericht von Lea Rieck mit durch Länder und Kontinente, Klimazonen und Weltanschauungen und ist dabei so aufregend, berührend und spannend, dass man – anders als in vielen anderen Reiseberichten – das Gefühl hat selbst mit dabei zu sein.

Was tun, wenn vor dem Fenster ein Militärputsch stattfindet, das Motorrad mitten in der Wüste liegen bleibt oder die neue Bekanntschaft sich als russischer Scharfschütze entpuppt? Seine Lektionen lernen und weitermachen. Eine großartiges Buch einer mutigen, abenteuerlustigen Frau! Lisa / Monacensia im Hildebrandhaus

Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten

Am 13. März ist Lea Rieck mit ihrem Buch in der Monacensia im Hildebrandhaus bei MON liest zu Gast.


Ulla Hahn: Die Geschichte der Hilla Palm

Ulla Hahn stellt mit ihrer 2500 Seiten starken Tetralogie „Das verborgene Wort (1)“, „Aufbruch (2), „Spiel der Zeit (3)“ und „Wir werden erwartet (4)“ das Leben der Romanfigur Hilla Palm in den Mittelpunkt. Obwohl Palms Biografie viele Überschneidungen mit ihrer eigenen Autobiografie zeigt, ermöglicht Ulla Hahn diese Kunstfigur die nötige Distanz für die Schilderung eines exemplarischen Frauenlebens in der Bundesrepublik der 1950er bis 1970er Jahre.

Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Hilla sucht ihren Weg in die Freiheit aus dem vorgezeichneten Lebensweg, aus Kinder, Küche, Kirche durch Abitur und Studium. Ihr gelingt das Erwachsenwerden, das Wachwerden und die Entwicklung zur Schriftstellerin.

Detailreich erzählt Ulla Hahn in immer neuen, unerwarteten Aspekten die Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach dem richtigen Weg. Sie beschreibt den Mief der Provinz in der Nachkriegszeit über das Studenleben in der revolutionären Aufbruchstimmung der 1960er Jahre bis hin zu den politischen und weltanschaulichen Strömungen im Deutschen Herbst der Republik. Ein mitreißender Entwicklungsroman, der zugleich ein imposantes Epochengemälde der ersten drei Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland ist und in der sich das Leben der Frauen grundlegend verändert hat. Viola / Stadtbibliothek Neuhausen

Deutsche Verlags-Anstalt, insgesamt rund 2200 Seiten


Theresia Enzensberger: Blaupause

1921 kommt die junge Luise Schilling als Studentin an das Weimarer Bauhaus. Sie besucht dort den Vorkurs, findet Freundinnen und Freunde unter den Anhängern des Lehrers Johannes Itten und verliebt sich in einen Mitstudenten. Doch nach der Anfangseuphorie wird ihr sehr schnell bewusst, dass sie es als Frau nicht leicht hat am Bauhaus. Und als ihre Eltern sie abberufen, um sie in eine Haushaltsschule zu schicken und eine guten Mann zu finden, muss sich Luise zunächst fügen. Doch sie gibt nicht auf und bricht 1926 aus ihrem Elternhaus aus, um erneut ans Bauhaus zu gehen, dieses Mal nach Dessau.

Passend zum 100-jährigen Jubiläum von Bauhaus bietet Enzensbergers Roman einen lockeren Einstieg in dieses Thema. Wie nebenbei erfährt der Leser hier etwas über Johannes Itten, Walter Gropius, die politischen Umstände der 1920er Jahre und das Frauenbild der damaligen Zeit. Theresia Enzensberger streift in ihrem Roman sehr viele Themen, und hin und wieder hätte ich mir mehr Informationen zu den Hintergründen gewünscht. Zum Glück gibt es im Bestand der Münchner Stadtbibliothek etliche Titel zum Bauhaus und der Zeitgeschichte, die Enzensbergers Roman fabelhaft ergänzen 😉 Birgit / Stadtbibliothek Neuhausen

Hanser Verlag, 256 Seiten


Karin Herbst-Meßlinger und Rainer Rother (Hg.): Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen

Ein reich illustrierter Band zur Geschichte des ost- und westdeutschen Films, der das Filmschaffen von Regisseurinnen untersucht. Das Buch enthält jeweils fünf wissenschaftliche Essays zu den Themen wie Arbeit, Stadtraum, Befreiung des Blicks, Erzählästhetik in Filmen von Frauen und zu ausgewählten Filmen.

Fasziniert festgelesen habe ich mich in dem Aufsatz von Natalie Lettenewitsch zur Stadt im Blick der Flaneurin. Wurden in den frühen deutschen Filmen wie „Berlin. Die Sinfonie der Großstadt“ ziel- und absichtslos gehende Frauen mit Prostituierten gleichgesetzt, gab es mit zunehmendem weiblichen Selbstbewusstsein zahlreiche Versuche, diesen Topos nicht als Rebellionsgeste (wie es oft beim männlichen Gegenstück, dem Flaneur der Fall ist) darzustellen, sondern als ziel- und absichtslose Eroberung einer Stadt, um sie zu einem besseren Ort zu machen. Lasst uns also flanieren! Waltraud / Stadtbibliothek Am Gasteig

Deutsche Kinemathek, 216 Seiten


Susan Faludi: Die Perlenohrringe meines Vaters

„Ist Identität etwas, das man sich aussucht, oder etwas, dem man nicht entkommen kann?“ Diese Frage stellt Faludi gleich zu Anfang. Die US-amerikanische Journalistin, Feministin („Backlash“) und Pulitzer-Preisträgerin, forscht dem Leben ihres Vaters nach, den sie in ihrer Kindheit als herrschsüchtig und gewalttätig erlebt hat.

Nach Jahrzehnten des sporadischen Kontakts erfährt sie per Email, dass ihr Vater sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Eine Phase der vorsichtigen Annäherung beginnt, in der Faludi sich mit der Lebensgeschichte ihres Vaters befasst: Als Kind ungarischer Juden geboren, überlebt er den Holocaust, lebt in Basel, Prag, Budapest und Tel Aviv. Istvan (Stefanie) Faludi arbeitet als Retuscheur beim Film, seine (ihre) Sehnsucht danach, sich nicht nur als Frau zu fühlen sondern auch als Frau zu leben, verheimlicht sie. Bis sie sich mit über 70 zu einer Geschlechtsumwandlung entschließt.

Susan Faludi bettet die Lebensgeschichte ihres Vaters in die ungarische Geschichte und Politik des 20. und 21. Jahrhunderts ein. Damit stellt sie einen Bezug zwischen privater und öffentlicher Geschichte her: die Identitätssuche eines Menschen (jüdisch oder christlich, ungarisch oder amerikanisch, Frau oder Mann?) mit der wechselvollen Geschichte eines mitteleuropäischen Staates. Faludi geht sehr ehrlich um mit ihren Reaktionen auf die Veränderung ihres Vaters: Sie ist irritiert, verunsichert, oft ratlos, wie sie mit diesem neuen alten Menschen in ihrem Leben umgehen soll. Gerade diese Unischerheiten machen das Buch für mich so lesenswert! Waltraud / Stadtbibliothek Am Gasteig

dtv, 464 Seiten, aus dem Englischen von Judith Elze und Anne Emmert


Und noch ein Filmtipp!

Geniale Göttin – Die Geschichte von Hedy Lamarr

Hedy Lamarr, geboren 1914, wuchs in einer wohlhabenden jüdisch-österreichischen Familie auf, sie arbeitete als Schauspielerin in Österreich und später in den USA mit den Großen ihrer Zeit. Der wirklich interessante Teil ihrer Lebensgeschichte ist aber ihr technisches Talent. Schon als fünfjähriges Mädchen nahm sie eine Spieldose komplett auseinander – nun, das machen viele Kinder – sie konnte die Dose aber anschließend wieder komplett zusammenbauen!

Zusammen mit einem Freund entwickelte sie das Frequenzsprungverfahren, das von der Navy im Zweiten Weltkrieg genutzt wurde. GPS, Satellitensysteme und Bluetooth basieren auf ihren Ideen. Dabei stand – so könnte man es formulieren – ihr gutes Aussehen ihrer Intelligenz im Weg: Für ihre Arbeiten erhielt sie erst sehr spät die verdiente Anerkennung.

Roter Faden im Film sind Interviews, die sie in den 1970er Jahren gegeben hat. Besonders beeindruckt hat mich, dass sie aus ihrem wechselvollen Leben mit glanzvoller Hollywood-Karriere, Absturz in Tabletten und Schönheitsoperationen und zahlreichen gescheiterten Ehen ohne Bitterkeit erzählt. Waltraud / Stadtbibliothek Am Gasteig


Weiterleselinks

Zoe Beck: Frauen und ihre Literatur

Katharina Herrrmann: Auch ein Land der Dichterinnen und Denkerinnen

 

Featured Image: Todd Quackenbush on Unsplash

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