Offene Bibliotheken, urbane Öffentlichkeit

Im Rückblick auf die interdisziplinäre Tagung „Public! Debatten über Bibliotheken und urbane Öffentlichkeit“ im Februar 2018 in der Münchner Stadtbibliothek möchte ich die von Sonja Beeck gestellte Frage: „Sind Bibliotheken eher Straßen als Wohnzimmer?“ weiterdenken.

In ihrer Public!-Keynote wählte Sonja Beeck Giambattista Nollis „La Nuova Topografia di Roma“ (1748) als Ausgangspunkt. Der Schwarzplan Roms blendet Planelemente wie Straßennamen, Vegetation oder Gewässer aus und stellt die Unterscheidung von bebauter und unbebauter Fläche in den Vordergrund. Kirchen werden darin als weiße Flächen, will heißen als öffentliche Räume dargestellt. Sie werden damit Straßen gleichgesetzt, die, im Plan betrachtet, die Kirchen umfließen, aber sie auch wie Buchten auszufüllen scheinen. Beeck verglich Kirche und Stadtbibliothek in ihrer Funktion und kam zu der These, dass die Bibliothek weniger als Wohnzimmer, denn als Straße betrachtet werden könnte. Als öffentliches Gebäude im Sinne Nollis, das sich elastisch mit der urbanen Umgebung verbindet und das der Stadtbevölkerung als positiver Ort der „vibrierenden Stille“ diente.

Nollis Romkarte von 1748

Wohnzimmer für alle

Die „Bibliothek als Wohnzimmer für alle“ ist ein emotionales Bild. Ein Bild, das die soziale Rolle und den menschlichen Kontakt in den Vordergrund stellt. Es hebt darauf ab, dass man in der Bibliothek nicht mehr leise sein muss, es aber doch einigermaßen geregelt zugehen sollte. Es steht zudem für einen diskret formulierten Anspruch auf ordentliche und geschmackvolle Innenausstattung. Als Wohnzimmer gedacht grenzt sich die Bibliothek deutlich ab von der Ausleihe, Ausleihstelle oder Büchertankstelle und baut so eine zwischenmenschliche Distanz ab, die auch in Bezeichnungen wie „bibliothekarische Dienstleistung“ steckt.

Vier (enge) Wände

Kurt Eichlers Public!-Forderung, die Kulturinstitutionen mögen endlich ihre vier Wände verlassen, führt zu einem weiteren Aspekt des Wohnzimmer-Bildes : Es ist konventionell. Das Wohnzimmer liegt in der Regel geschützt im Hausinnern, manchmal mit einem Garten oder Balkon, verzahnt mit der Außenwelt. Es ist ein Ort der Entspannung und der Muße. Es ist ein repräsentativer Ort für Gäste. Es gewährt Einblick ins Private. Es ist selten ein Ort des Zufalls (wie die Küche). Es hat überschaubare Dimensionen. Die Nutzung ist kulturell tradiert.

Kurt Eichler bei Public! im Februar 2018 (Foto: Andrea Born / Münchner Stadtbibliothek)

Kurt Eichler geht es in seinem Public!-Statement um die kritische Überprüfung des Vermittlungskanons und der Zielgruppen-Ansprache in einer immer internationaleren Gesellschaft. Er betont wie beides von der eigenen kulturellen Sozialisation so sehr geprägt und die freie Sicht auf andere Lebensvorstellungen damit verhindert werde. In Anbetracht der vielfachen Interaktionen der Nutzer*innen in und mit der Bibliothek hat der Gute-Stuben-Vergleich nahezu ausgedient. Bibliotheken sind offene Kulturinstitutionen mit diversem Publikum, von exklusiver Selbstgenügsamkeit zwischen den engen Wohnzimmerwänden kann scheinbar keine Rede mehr sein. Trotzdem sind auch öffentliche Bibliotheken nach wie vor keine Gemeinschaftsräume. Sie repräsentieren größere Teile der Bevölkerung nicht ausreichend und bleiben in den Grenzen ihrer Tradierungen.

Bebauter Raum mit schwarzen Linien

In ihren jetzigen Dimensionen haben Bibliotheken in Deutschland selten die Gelegenheit, im sinnvollen Maß, weiße Flächen für gut orchestrierte öffentliche Beteiligung und eine partizipative Nutzung zu schaffen. Tatsächlich treten die Bibliotheken sozusagen mit Blick auf die begrenzten Sofaplätze und Spielwiesen auf die Werbebremse, damit niemand frustriert abgewiesen werden und gleichzeitig engagiertes Personal dauerhaft auf zu vielen Hochzeiten improvisieren muss. Die Bibliotheken bleiben dadurch weit hinter den Möglichkeiten, die sie für die Herausforderungen der Stadtentwicklung und der digitalen Transformation bieten könnten.

Bescheidenes Understatement wie es im Selbstbild des Wohnzimmers für alle zum Ausdruck kommt, hilft also ein altbackenes Bibliotheksbild zu zementieren. Es erzeugt kaum politische Aufmerksamkeit und resultiert in finanzieller Unterausstattung, die in jüngster Vergangenheit die Bibliotheken in Deutschland gerade in Stadtteilen und Kleinstädten oft zu ästhetisch mehr oder weniger vernachlässigten Multifunktionseinrichtungen mit bunten Leseecken schrumpfen ließ. In Nollis Plan wären solche Bibliotheken vermutlich als bebauter Raum mit schwarzen Linien begrenzt gewesen.

Nicht-Orte

Die Welt der Übermoderne hat nicht dieselben Maße wie die Welt, in der wir zu leben glauben, denn wir leben in einer Welt, die zu erkunden wir noch nicht gelernt haben. Wir müssen neu lernen, den Raum zu denken.  Marc Augé

Die Lektüre von Marc Augés Fast-schon-Klassiker „Nicht-Orte“ aus den 1990er Jahren liefert noch mehr Argumente für ein „lautes Reden“ über Bibliotheken als herausragende Orte und weiße Flächen in Städten und Gemeinden. Der französische Ethnologe und „Anthropologe im Dschungel der Großstadt“ beschäftigt sich in „Nicht-Orte“ intensiv damit, wie man die „heutige Welt aufgrund ihres beschleunigten Wandels“ besser fassen könnte. Er beschreibt mehrere Ausprägungen des Wandels und bezieht sich unter anderem auf unsere Zeitvorstellung und die Art, wie wir über Zeit verfügen. Der Zweifel an der Geschichte als Trägerin von Sinn sei für alle im Alltag genauso spürbar wie das bewusste Bedürfnis, Sinn herzustellen und zwar für sich selbst in Bezug zur Welt und nicht mehr nur zur eigenen Stadt, zum Dorf oder zur Familie. Augé stellt fest, dass wir dadurch einen Preis für die Überfülle der Ereignisse zahlen und dass das wichtigste Merkmal der aktuellen Situation das Übermaß sei. Das Übermaß an Zeit, an Raum und Individualität, zumindest in der westlichen Welt. Augé schreibt das ohne zu wissen, wie sich die Globalisierung weiter auswirken wird und ohne sich eine Vorstellung machen zu können, wie grundsätzlich die digitale Transformation die realen Welten verändern und die Suche nach Sinn und Wahrheiten noch stärker vor sich her treiben wird.

Nicht-Ort oder Kathedrale? Der New Yorker Bahnhof The Oculus (Foto: Dorian Mongel / Unsplash)

Das Entstehen von Nicht-Orten, die nicht durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet sind, beschreibt Augé als weiteres Merkmal der „Übermoderne“. Er beschreibt Nicht-Orte als „das Maß unserer Zeit, ein Maß das sich quantifizieren lässt und das man nehmen könnte, indem man […] die Summe bildete aus Flugstrecken, den Bahnlinien und den Autobahnen, den mobilen Behausungen, die man als ‚Verkehrsmittel‘ […] bezeichnet, den Flughäfen, den Bahnhöfen […], den großen Hotelketten, den Freizeitparks und schließlich dem komplizierten Gewirr der verkabelten oder drahtlosen Netze, die den extraterrestrischen Raum für eine seltsame Art der Kommunikation einsetzen, welche das Individuum vielfach nur mit einem anderen Bild seiner selbst in Kontakt bringen.“

Gegenpol zur Unverbindlichkeit

Wie gesagt, es spricht eine Stimme aus den 1990er Jahren. Jedoch wird die Qualität einer Bibliothek als fester Ort mit Geschichte und Beziehungen im Heute dadurch umso greifbarer. Auch wenn er noch eine digitale Entsprechung erhält. Bibliotheken sind keine standardisierten Kopien, kein kleinster Nenner des Zeitgeists und des Massengeschmacks. Sie sind reale, physische Manifestationen des Urbanen, der aktuellen lokalen Tradition. Sie sind kommunale Netzwerke und soziale Organisationen der in der zu diesem Zeitpunkt in der Stadt lebenden Bürger*innen. Sie bilden einen bewussten Gegenpol zur Austauschbarkeit wie sie etwa im Namen der Aufenthaltsökonomien in Einkaufszentren, Ladenmeilen oder Tivolis für bestimmte Gesellschaftsgruppen zelebriert und, laut Bernd Bienzeisler vom Fraunhofer Institut für Arbeit und Organisation, die Städte künftig vermutlich noch stärker prägen wird.

Emanzipation und Augenblick

Die Renaissance der Bibliotheken wird häufig begründet mit der demokratischen Wirkung, die sie als Möglichkeitsräume für alle entfalten können. Krist Biebauw, Direktor von De Krook in Ghent, stellt die öffentliche Bibliothek in seinem Public! -Vortrag so auch in die Tradition der Arbeiterbewegung und bezeichnet sie als Ort der Emanzipation.

Rob Bruijnzeels, Bibliothekar und Mitbegründer des niederländischen Kollektivs Ministry of Imagination, denkt ähnlich und weiter. Bruijnzeels erklärt die öffentliche Bibliothek quasi zur Dirigentin des Übermaßes. Er macht sie – etwa in den vom Ministry realisierten Bibliotheken in Gouda und Schiedam – zu Orten, an denen Verständnis zählt. Er meint das Verständnis von Inhalten und das persönliche Verständnis für die Nutzer*innen. Letzteres wirkt sich vor allem in der Begegnung sowie in der anspruchsvollen Gestaltung der Räume bis hin zum Café und dessen Speisekarte aus. Inhalte und Kontexte müssen für Bruijnzeels von den Bibliotheken immer wieder aufs Neue hinterfragt und gemeinsam mit den Nutzer*innen in aktuelle Zusammenhänge gestellt und zum Programm gemacht werden.

Geraden und Kurven, Transparenz und Opazität: Die Königliche Bibliothek in Kopenhagen / Dänemark (Foto: Michael Shannon / Unsplash)

Bibliotheken sind auch für ihn Orte, an denen die Menschen selbst etwas Bleibendes schaffen können, das als kommentierter Content wiederum anderen Menschen aus ihrem Nahbereich, der Gruppe, dem Viertel, der Gemeinde als lebendiger Bestand zur Verfügung gestellt werden kann. Und das, ohne das Sinnliche, den Spaß, die Interessen der Einzelnen in den Hintergrund treten zu lassen. Das ist eine Kunst. Denn die so geschaffenen lebendigen Bestände entsprechen dem eigenen Blick der Schaffenden. Gleichzeitig machen diese Bestände aber in ihrer Gesamtschau die Stadt so sichtbar, wie sie in dem jeweiligen Augenblick wirklich ist. Bibliotheken sind damit das Gegenteil vom kleinsten gemeinsamen Nenner, sie akzeptieren Widersprüche und halten Konflikte in einer zunehmend komplexen Zeit aus. Sie sind gegenwärtig.

Libraries matter!

Mit dieser reichen Vision von Bibliothek im Kopf sei einmal mehr erlaubt zu fragen: Was soll dieses biedere Wohnzimmer-Bild? Fast könnte man meinen, die Bibliothekswelt hätte manchmal Angst vor ihrer eigenen Courage und würde ihre progressive Botschaft „Libraries matter!“ am liebsten dort verstecken, wo sie am wenigsten auffällt: zwischen Bücherregal und Hydrokultur… Organisieren die öffentlichen Bibliotheken die tosende Welt da draußen ein bisschen weg, wenn sie sich bescheiden im Rahmen des (vermeintlich) Möglichen bewegen? Schützen sie sich selbst vor dem schwer zu fassenden Übermaß, dem Schritt, ihre eigene Arbeit und die Beziehung zu ihren Nutzer*innen konsequent neu zu denken und stark nach außen zu vertreten? Ist die Wohnzimmeridee einfach die sichere Bank, weil sie bewährten Diagnoseverfahren und überschaubaren Lösungsstrategien folgt: Regale an die Wand oder in die Mitte? Bestand verkleinern aber wie? Es geht nicht darum, ob diese Herangehensweise falsch ist, sondern, ob sie noch flexibel genug ist, um sich mit der Welt in ihren vielfältigen Facetten adäquat auseinanderzusetzen.

Vielleicht ist es nicht die Angst vor der eigenen Courage, sondern das legitime Gefühl der Überforderung angesichts der Veränderung des Berufsbilds und dem großen Druck, der entsteht, wenn Bibliotheken in wachsenden wie schrumpfenden Städten plötzlich als neue Akteurinnen für die Belange der Bevölkerung verhandeln und dafür konsequent gegen alte Bibliotheksbilder und Lebensmodelle an argumentieren müssen. Vielleicht ist es eine gewisse Ohnmacht, angesichts der Wucht des gesellschaftlichen Wandels und der mangelnden politischen (finanziellen) Unterstützung.

Bibliothek als Straße

Die Grundelemente der Stadtstruktur bilden Gassen und Straßen als Bewegungsräume sowie Plätze als Aufenthaltsorte und Erlebnisräume. […] Eine Straße signalisiert Bewegung und scheint zu sagen: Geh, geh, geh, während der Platz sagt: ‚Bleib und schau, was passiert! Jan Gehl

Der Stadtplaner Jan Gehl beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahre mit dem menschlichen Maß der Städte. Er wendet sich dezidiert von der modernistischen Stadt ab und propagiert die integrierte Stadtplanung, die Verkehrswege und Flächen für Fußgänger berücksichtigt, um lebendige, sichere, nachhaltige und gesunde Städte zu schaffen. Als literarischen Leitsatz für die Gestaltung einer lebenswerten Stadt zitiert der populäre Däne die Edda: „Der Mensch ist des Menschen größte Freude“ und nimmt in seiner philantropischen Arbeit das „Unter die Menschen gehen“ als buchstäbliche Chance für direkte Begegnungen. Vieles, was Jan Gehl über die Entwicklung der Stadt als Ort der Wechselwirkungen und des Zusammenspiels sagt, ist gut auf Bibliotheken übertragbar – und wirkt mittlerweile fast wie ein Allgemeinplatz. Trotzdem: Es lohnt sich, Allgemeinplätze zu wiederholen und Stadtbibliotheken als Orte des Wechselspiels von Alltag und Muße, von menschlicher Begegnung, als wirtliche, belebende und prägende öffentliche Räume in einer Stadt, in einem Stadtteil zu beschreiben.

Manche in Bewegung, andere verharrend: Die Straße als Ort der Begegnung. (Foto: Ryoji Iwata / Unsplash)

Gegen den Strich lesen

Die Bibliothek als Straße zu betrachten, als Ort der Bewegung und der Elastizität, kann helfen, um die bestehenden Sichtweisen auf Nutzer*innen und ihre Bedürfnisse zu überprüfen und Handlungsmuster, sei es in Bezug auf (Landschafts-)Architektur, sei es in Bezug auf Zielgruppen, Bestand oder Programmgestaltung zu hinterfragen. Welche Geschichten werden in der Bibliothek bereits erzählt und welche noch nicht? Wer ist Teil der Erzählung, wer erzählt noch nicht? Ist die Bibliothek selbstverständlicher Teil eines lokalen Bewegungsmusters?

Gerade für öffentliche Bibliotheken empfiehlt sich, die von Erol Yildiz in seinem Aufsatz „Stadt, Migration und Vielheit. Vom hegemonialen Diskurs zur Alltagspraxis“ aufgezeigte, immer noch wirkende dualistische Trennung zwischen „Einheimischen“ und „Fremden“ in der eigenen Stadt in den Blick zu nehmen und dahingehend die konkrete Verortung und Kooperationspraxis der Bibliotheken in den Stadtvierteln zu hinterfragen.

Die als Straße gedachte Bibliothek wird vor dem Hintergrund der Diskussion um Mobilität und Migration noch mehr zu dem elastischen Ort, der aktuelle Identität und Geschichte aufnimmt, verbindet und Ambivalenzen aushalten kann. Als Straße gedacht lässt die Bibliothek jungen wie alten Nutzer*innen wesentlich mehr Möglichkeiten, sich Räume aufzuteilen und damit Abstand und Nähe situativ selbst zu bestimmen. Klassifizierende Zuordnungen werden im fluiden Gedankenraum der Straße automatisch aufgebrochen und immer neu von außen zur Diskussion gestellt.

Bibliothek als weiße Fläche

„Parallel zum Fortschreiten der vernetzten technischen Systeme und der Smart Technologies erlebt ausgerechnet das Selbermachen eine gesellschaftliche Renaissance“, analysiert die Münchner Soziologin Christa Müller in ihrem Aufsatz „Anmerkungen zur produktiven Aneignung des öffentlichen Raums“. Gleichzeitig stellt sie fest, dass sich eine wachsende Zahl junger Akteur*innen auf der Suche nach Souveränität und Gestaltungsmacht einem nachhaltigen Lebensstil und recht praxisorientierten Alternativen zur Wohlstandsgesellschaft zuwenden. Sie nutzen, so Müller, den öffentlichen Raum als Bühne, um unerwartete Konstellationen und Kooperationen herzustellen. Sie befördern das Teilen und Tauschen, die Wiederaneignung handwerklicher Fähigkeiten, den milieu- und kulturübergreifenden Austausch und fordern den freien Zugang zu Räumen, Daten und der Stadt als solcher. Die Aktivist*innen wollen mit ihrer Umgebung unmittelbar in Kontakt treten, was sich laut Christa Müller auch im erfolgreichen Verwandeln vernachlässigter Orte in Eigenregie und mit breiter Beteiligung aus dem jeweiligen Stadtviertel manifestiere.

Kollektive Räume

Interessant ist, dass Müller die Hauptakteur*innen als der „Generation Y“ zugehörig charakterisiert. Diese Generation ist nach 1980 geboren, technologieaffin und ökologisch sensibilisiert, hochgradig vernetzt und gut ausgebildet. Sie ist als erste Generation in demokratisierten Sozialitäten aufgewachsen. Spannend ist Müllers Erkenntnis, dass diese Generation „das im Internet praktizierte Teilen von Kenntnissen und der hieraus resultierenden Wirksamkeitserfahrung in analoge Räume migrier[t].“ Die Generation Y geht die Umgestaltung von Gesellschaft und die Neuinterpretation der Gegenwart relativ unideologisch an. Sie arbeitet in und an Projekten, die sie für sich explizit als offene, generationenübergreifende Lern- und Bildungsräume definieren. Christa Müller hebt im weiteren darauf ab, dass die jungen Akteur*innen ihre kollektive Herangehensweise als Reaktion auf die radikalen Individualisierungsprozesse unserer Zeit betrachten und sie als Mittel sehen, um Handlungsspielräume räumlich und sozial zu erweitern.

Rhetorische Rückeroberung des öffentlichen Raums: Graffiti in London (Foto: Simon Peel / Unsplash)

Abgesehen vom Fakt, dass sich nicht nur die Generation der nach 1980 Geborenen in Bibliotheken engagiert und aufhält, möchte ich die öffentliche Bibliothek als einzige Kultur- und Bildungsinstitution positionieren, die diesen „kooperativen Modus Vivendi“ und diese Elastizität ins Digitale in sich trägt. Die öffentliche Bibliothek findet ihre Entsprechung im kollektiven Raum, der Handlungsspektren von Einzelnen wie Gruppen sozial bereichert. Sie sind explizit schwellenarme Wissens- und Kulturräume, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen Interessen und Kenntnissen selbst schulen, sich helfen oder zumindest aufeinander treffen. Als nichtformale Bildungseinrichtungen sind öffentliche Bibliotheken im Vergleich nahezu hierarchiefrei. So garantieren sie den freien Zugang zu Informationen und damit auch die Möglichkeit zur eigenen Reflexion über Vergangenheit und Gegenwart.

Gedehnte Gegenwart

Es ist kein Zufall, dass Bibliotheken im Zuge der Digitalisierung im eigenen Programmangebot und in Kooperation mit Vereinen, NGOs und nichtkommerziellen Initiativen das Engagement von (ehrenamtlichen) Spezialist*innen fördern, um fehlende technische und digitale Vertrautheit der Bürger*innen gemeinsam abzubauen. Es ist kein Zufall, dass Veranstaltungsformate Konjunktur haben, die den Austausch von vielseitig interessierten und involvierten Menschen ins Zentrum stellen. Die Bibliothek ist eine Fundgrube an direkten Erfahrungen. Sie kann gerade in Stadtvierteln und Gemeinden soziale Lebenszusammenhänge über viele Jahre begründen und öffentliche Räume jenseits von Definitionen, Wachstums- oder Erfolgsorientierung erhalten.

Öffentliche Bibliotheken ermöglichen außerdem den unerhörten Luxus des Sich-in-der-Zeit-Verlierens, anstelle der permanenten Gedrängtheit steht das Gefühl der gedehnten Gegenwart jenseits jeder Effizienzerwartung. Bibliotheken sind nicht (nur) geprägt vom Gestus des Bewahrens, der Commons orientierte Umgang mit Freiräumen ermöglicht Bibliotheksbesucher*innen vor allem qualitative Formen der Begegnung mit anderen Nutzer*innen in einem explizit nicht-kommerziellen, durch und durch öffentlichen und sich ihrer Bedürfnisse anpassenden Raum.

Aktion „Lesen verbindet“ der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Münchner Stadtbibliothek (Foto: Astrid Meckl / Münchner Stadtbibliothek)

Kommunales Statement

Selbstverständlich kommt auch Christa Müllers Analyse nicht ohne den Hinweis auf die wachsende existenzielle Verunsicherung der Menschen durch die Auflösung der bekannten Erwerbssysteme aus. Weil diese Furcht auch in der fortschreitenden Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge gründet, sind die Kommunen gefordert, Antworten zu finden und die Menschen in ihrem Sein aufzufangen. Öffentliche Bibliotheken eignen sich besonders als klares kommunales Signal an die Verunsicherten.

Gute Räume, lange Öffnungszeiten, ausreichend Personal, hervorragende technische Voraussetzungen, zeitgemäßes verleihbares Gerät wie Notebooks, Tabletts, WLAN-Router wären wichtige Beiträge zur Chancengleichheit und zur psychischen und finanziellen Entlastung vieler Menschen, die sich durch die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und Beschäftigungsformen selbst organisieren und unbesehen ihrer Wohnverhältnisse und Geldbeutel, eigene Arbeitsplätze einrichten und soziale Beziehungen erhalten müssen.

Das Verständnis von öffentlichen Bibliotheken als weiße Fläche, als empathischer Raum, der Identifikation stiftet und den „Spirit der Stadt“ immer wieder neu zum Ausdruck bringt, ist eine unerlässliche Einsicht für mehr Geld und finanzielle Ausstattung dieser Kultur- und Bildungseinrichtung. Die zukunftsgerichtete, großzügige Förderung der öffentlichen Bibliotheken als öffentlicher Raum wäre für mich letztlich ein Statement der Kommunen für ihre Bürger*innen und den Wert von umfassender Teilhabe, freiem Austausch und barrierefreiem Zugang zu Kultur, Wissen und Informationen.

Literatur:
Augé, Marc: Nicht-Orte, C.H. Beck Verlag, 2012
Gehl, Jan: Städte für Menschen, Jovis Verlag, 2015
Müller, Christa: Anmerkungen zur produktiven Aneignung des öffentlichen Raums. In: Jürgen Krusche (Hg.): Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums, S. 88-101, Jovis Verlag, 2017
Yildriz, Erol: Stadt, Migration und Vielheit. Vom hegemonialen Diskurs zur Alltagspraxis. In: Jürgen Krusche (Hg.): Die ambivalente Stadt. Gegenwart und Zukunft des öffentlichen Raums, S. 62-78, Jovis Verlag, 2017

Anke Buettner ist Initiatorin und Kuratorin von Public! und Leiterin des Direktionsstabs Programm- und Öffentlichkeitsarbeit der Münchner Stadtbibliothek.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

Beitragsnavigation: