Steven Cantor: Dancer (Ein Dokumentarfilm)
Regisseur Steven Cantor führt uns aufs Glatteis. „Dancer“ scheint auf den ersten Blick eine reißerisch aufgemachte Dokumentation zu sein, die uns einen unmittelbaren Einblick in das Leben des Ausnahmetänzers Sergei Polunin verschafft. In Wirklichkeit ist es eine Inszenierung, vielschichtig und raffiniert.
Cantor erzählt von Aufstieg, Fall und Auferstehung des armen Jungen aus der Ukraine, der in einem grand jeté zum Prinzipal-Tänzer des Royal Ballet aufstieg und rebellierte. Gegen die restriktive Welt des Balletts und gegen seine inneren Dämonen.
Großen Raum gibt Cantor dem bis dato wenig bekannten familiärem Hintergrund von Sergei Polunin. Damit offenbart er die verletzliche Seite des „Bad Boy of Ballet“ und die tiefergehende Ursache der Krise: die vergebliche Hoffnung, seine Familie wieder zusammenzuführen. Er ging auf Distanz, zu seiner Familie und zu seinen Gefühlen, bis er, Jahre später, buchstäblich explodierte – ein Zusammenhang, dem sich Polunin durch die Arbeit mit Cantor wie in einer Selbsttherapie erst bewusst wurde.
Allerdings lässt Cantor alles weg, was den Plot stören würde, an manchen Stellen bleiben offene Fragen und Irritationen: Warum wurde Polunin auf die Royal Ballet School und nicht auf eine der renommierten Ballettschulen Moskaus geschickt? Wie ist die ständige Präsenz einer Videokamera in Polunins Kindheit und Jugend zu erklären? Nicht erwähnt wird Polunins Vertragsbruch 2013 gegenüber der Ballettproduktion von Peter Schaufuss‘ „Midnight Express“ unmittelbar vor der Premiere. Genauso wenig erfahren wir etwas über seine Liebesbeziehungen zu Frauen. Das hohe Tempo und die gestraffte Erzählweise suggerieren, dass Polunins Krisengeschichte live vor der Kamera stattfindet. Tatsächlich stammen die gezeigten Bühnenauftritte Polunins und die markante „Rockstar“-Szene in der Garderobe nicht aus seiner Zeit in London, sondern aus der späteren, eineinhalb Jahre dauernden russischen Phase. Das Hozier-Video, der Wendepunkt in der Geschichte, entstand nicht (wie die Erzählung nahelegt) nach Polunins Treffen mit seinem Freund und Choreographen Jade Hale-Christofi, sondern war laut der Ballettkritikerin Jann Parry zu diesem Zeitpunkt bereits gedreht. Der Song „Take me to Church“ war auch nicht Polunins Idee, sondern kam, wie Polunin in einem Interview beiläufig erwähnt, von David LaChapelle. Und dass die Krise Polunins sich allein durch den phänomenalen Erfolg des Videos auflöste, ist Cantors zurechtgestutzte Lösung. Man hat an dieser Stelle deutlich das Gefühl: Hier fehlt etwas.
Außen vor bleibt eine differenzierte Einordnung des Tänzers in die Ballettwelt. Drogen, Tattoos, körperliche Erschöpfung sowie die durch die Ausbildung bedingte Trennung von der Familie sind keineswegs Alleinstellungsmerkmale des Startänzers, wie Ballettexpertin Judith Mackrell und Filme wie „First Position“ oder „Ballet Boys“ aufzeigen. Was die Einschätzung von Polunins künstlerischen Qualitäten angeht, so belässt es Cantor bei schwärmerischen Zitaten – schade!
In der Umsetzung des Themas spielt Cantor seine Stärken als routinierter und kreativer Filmemacher aus. Neben eingestreuten Metaphern, wie das Achilles-Tatoo für Kindheit, sind vor allem die Musikregie und die Bildersprache zu nennen. Die Konfrontation der Melancholie der Kindheit mit dem Ruhm des Startänzers ist grandios umgesetzt. Einige Sequenzen werden durch pointierte und überraschende Musikunterlegung auf die Spitze getrieben, so der Song „Iron Man“ zu der überzeichneten, aber großartigen Inszenierung von Polunin als abgekämpftem Rockstar zwischen Aufputschmitteln und glanzvollem Bühnenauftritt. Der Film wird damit zum Spiegel für Polunins Persönlichkeit – verletzliche Seele und männliche Power, Hassliebe zu seinem eigenen Körper und zum Tanz, die bei ihm nahe beieinander liegenden Pole Wahrhaftigkeit und Selbstdarstellung.
Am Ende des Films bleibt das Gefühl, berührt und aufgewühlt worden zu sein, die Bilder, die Geschichte wirken nach. In seiner Sperrigkeit, seinen unaufgelösten Widersprüchen ein ungeheuer spannender Film.
Liebe Petra, ich habe etliche Kritiken über den Film Dancer gelesen, aber erst aus Ihrem Artikel habe ich die Details über die Entstehung von LaChappele,s Video und die genaue zeitliche Einordnung vom gezeigten Filmmaterial erfahren.Stamm die gezeigte Night Club Scene aus Londoner oder Moskau Zeit? Insgesamt gut recherchiert und berechtigte Fragen gestellt. Ich fand der Film routiniert und aus künstleriche Sicht nicht sehr wertvoll. Es wundert mich nicht, dass der Film keinen Preis bekam. Dagegen waren die Musikarrangements vom Ilan Eshkery sehr gut ausgesucht.
Vielen Dank und freundliche Grüße!
Leili Man