Matthias Hirth ist seit den 1980ern in Münchens Subkulturen zu Hause. Der Künstler und Autor ist Mitbetreiber der Favorit Bar und gehört zu den Begründern der Initiative „Monokultur München“, die sich kritisch mit der Münchner Stadtpolitik auseinandersetzt. Für unsere Artikel-Serie* zur Ausstellung #PopPunkPolitik blickt Matthias Hirth auf die Punkbewegung und die Popkultur der 1980er, er erörtert die Bedeutung von Kunst heute und entwirft das utopische München von morgen.
Interview mit Matthias Hirth über Kunst und Subkulturen in München
Wir kennen uns aus der lebendigen Münchner Leseszene der Nullerjahre. Du bist in Regensburg geboren – hast du München in den 1980ern miterlebt?
Ich lebe hier, seit ich sechs bin. Ab dem Alter von zwanzig war ich in der Freien Theaterszene unterwegs, beim linkspolitischen Theater in der Kreide, draußen in Neuperlach. Theater frisst einen mit Haut und Haar. Der branchentypische Tunnelblick richtet sich auf die nächste Premiere. Was Nachtleben und Subkultur betrifft, bin ich ein Spätentwickler. Das kam für mich Mitte, Ende der 1980er, vermehrt dann in den 1990ern.
Ende der 1990er spielt auch dein Roman „Lutra lutra“. Er verhandelt vieles, was schon in den 1980ern diskutiert wurde: bürgerliches versus freies Leben; Fragen nach Geschlechterrollen und Möglichkeiten, anders zu sein; die Bedeutung von Kunst, die Wirkkraft von Musikkultur und die Gesetze des Marktes. Einverstanden, dass man ihn auch als Post-Pop-Punk-Roman lesen kann?
Diese Entscheidung überlasse ich gerne dir und anderen Lesern. „Wild, wüst, brachial, hemmungslos, grenzüberschreitend, radikal, nachdenklich“, schrieb Gérard Otremba in Sounds & Books.
Ich selber sehe mich keinesfalls als Punk, sondern als realistischer Erzähler. Das Jahr 1999, in dem der Roman spielt, verstehe ich als Endpunkt. Die rebellisch utopischen Gegenkulturen, die im Nachlauf der 1968er entstanden, leuchten noch einmal auf, bevor sie vom angstbesetzten Krisendenken abgelöst werden, das uns heute beherrscht. „Das letzte Jahr der guten alten Zeit“, wie es im Roman heißt.
Na gut, ich bin einverstanden mit dem Post-Pop-Punk-Roman, weil mir eure Ausstellung so gefallen hat!
Oh, was genau?
Der Besuch war wie eine Zeitreise. Hat mich wirklich berührt. Auf den Tanzlokal-Fotos sieht man die eine oder den anderen, mit dem man mal was hatte. Die Hallenkultur, Freizeit 81 – bei der Lebendigkeit, die die Exponate ausstrahlten, überkam mich geradezu Wut: Was ist nur aus der Stadt geworden, in der ich lebe, was hat sie aus sich machen lassen! Was hingegen traurig stimmt, ist der fast schon stereotype Zusatz unter den Zitaten und Bildern der Protagonist*innen: „Lebt jetzt in … (Berlin, Leipzig oder sonst wo). Fast wie auf einem Friedhof mit Gedenksteinen.
Der Biografie im Roman zufolge wohnst du neben München aber auch in Berlin!
Ich habe dort seit zwanzig Jahren eine kleine Wohnung, die ich mit einem bildenden Künstler teile. Die 1990er in Berlin waren sagenhaft! Mein Lebensmittelpunkt ist immer München gewesen, aber ab und zu muss man den doch sehr begrenzten Ereignishorizont verlassen, sonst hält man die bayerische Beschaulichkeit und Selbstzufriedenheit noch für die Realität.
Inzwischen macht Berlin leider die nahezu identischen Fehler, die München gemacht hat: Es verkauft seinen Arsch.
Wegen ebendieser Entwicklung hast du die Gruppe Monokultur München mitinitiiert. Im „Vorläufigem Autopsiebericht“ von 2018 heißt es: „Dies ist keine entspannte Stadt. Sie ist nackt, und sie ist unsexy.“ Ist die Diagnose noch aktuell?
Hier regiert nach wie vor das Geld. In keiner anderen deutschen Stadt ist das neoliberale Modell konsequenter umgesetzt, das ändert sich nicht so schnell.
Bewusstseinsmäßig aber mag Monokultur mit fast zwanzig Veranstaltungen im Favorit doch etwas bewegt haben. Die Pop-Theoretiker Markus Metz und Georg Seeßlen haben mitgemacht, der Trendforscher Franz Liebl aus Berlin, und das für ein warmes Abendessen, oder Alexeij Sagerer. Der Soziologe Stephan Lessenich hat die Reihe später fortgesetzt.
Besonders die Androhung einer Klage gegen die Stadt wegen Rufschädigung für Künstler hat den Medien offenbar so viel Spaß gemacht, dass sie über viele Veranstaltungen berichteten. Mir scheint, dass inzwischen einiges vom breitärschigen Mir-san-mir-Citymarketing unterbleibt. Diese Geschäftsidee München hat andernorts so viel Hohn und Kopfschütteln geerntet, dass man als hiesiger Künstler vor Scham unter den Tisch kriechen wollte.
Hat neben den Medien auch die Politik reagiert?
Fakt ist, dass viele Monokultur-Argumente sich heute in Parteiprogrammen wiederfinden: bei Grünen, Linken, teils sogar bei der SPD, stets ohne Quellenangabe. Subkultur ist kein lästiger Schmutzfleck. Aus ihr speisen sich die Zukunftskräfte einer Stadt, nicht nur in kultureller Hinsicht. Das haben, denke ich, manche begriffen.
Ist Monokultur München damit etwas gelungen, was die Punkbewegung in den 1980ern nicht geschafft hat?
Nein. Monokultur ist keine Kunstrichtung, keine Künstlergruppe, es hat keinen Stil, kein Lebensgefühl geprägt. Monokultur ist eine Diskursbewegung von ein paar Kunst- und Kulturschaffenden, die versuchen, es in ihrer Stadt auszuhalten. Man kann sagen, Monokultur ist ein Akt der Notwehr.
Wie sähe dein utopisches München aus?
Das wäre wohl ein – aus welchen Gründen auch immer – verarmtes München, dem die Investoren, die Lifestyle- und Hightechunternehmen, die Medien-, IT- und Marketingdienstleister samt den nomadisierenden Superreichen mit ihren Zweitlofts in der Stadt den Rücken gekehrt haben. Dann könnten die Bürger die Stadt wieder in Besitz nehmen. Es würden Räume entstehen, die Menschen der Art, wie sie zu Beginn der 1990er die Stadt verlassen haben, wieder besiedeln könnten.
Und wem diese Utopie zu dystopisch ist: München ist mehrfach von der Kunststadt in die geistige Provinz abgerutscht, Ende der 1920er und eben Ende der 1980er, als die Lebenshaltungskosten ins Astronomische stiegen, die Freiräume der kommerziellen Stadtnutzung geopfert wurden und der große Exodus der kreativen Köpfe begann. Es gibt kleine Anzeichen, dass wir aus der Provinzphase auch mal wieder heraustreten könnten. Die Ausstellung Pop Punk Politik, die einen Blick auf ein anderes München riskiert, zähle ich schon mal dazu.
Um „Lutra lutra“ wieder ins Spiel zu bringen: Die Punk- und Popkultur der 1980er Jahre wird dort skeptisch beäugt. Sämtliche Gesten seien verbraucht, sagt ein Künstler: „Es ist und bleibt das Uralte. Die ewig gleiche Scheiße. Wie kann man mit den Mitteln der Popkultur Widerstand leisten und trotzdem das System nicht affirmieren?“ Wie also geht Widerstand?
Tja, wenn ich das wüsste, würde ich gegen gewisse Dinge Widerstand leisten. Das Problem ist, dass Antihaltungen, wie sie in den Gegenkulturen bis in die 1990er zum Ausdruck kommen, sich gerade dem Vorwurf der Rechtslastigkeit aussetzen, weil sie eine schon auseinanderbröckelnde Gesellschaft zusätzlich unter Druck setzen. Ich sehe Widerstand eher in anderen ästhetischen Verfahren als den aktuell gebräuchlichen. Das ist an sich nicht sehr viel.
Die Leute, die die Punk- und Popkultur der 1980er skeptisch sehen, mögen älter als sein als ich und aus den 1960ern und 1970ern heraus argumentieren. Ich bin – aus heutiger Perspektive – von der ungeheuren Vitalität überrascht, die sich in #PopPunkPolitik zeigt. Ich hoffe, ich verkläre das nicht, weil das eben auch meine Jugend ist. Ob die Akteur*innen des Punk damals diskurstheoretisch wirklich gefestigt waren, steht dahin.
Die Popkultur hätte hingegen aus allem „ein zynisches Spiel mit Oberflächen gemacht“, heißt es bei dir an anderer Stelle.
Angesichts des heutigen Moralismus in der Kunst bin ich geneigt, mir das leichthändige Oberflächenspiel der Popkultur wieder herbeizuwünschen …
Was mich damals gestört hat, war eher der Roll-out der Popkultur: im Privatfernsehen zum Beispiel, wo man unter offensichtlicher Kokseinwirkung im Zeichen der Vermischung von U und E so richtig zynische Formate entwickeln konnte. Mich störte, dass heitere Daueraffirmation, Kommerzialisierung und die Ausblendung alles Schwierigen, Zwiespältigen auf einmal die Erlösung sein sollten. Ich hatte „Kritik am Pop als Kritik“, wie mein Freund Holger Dreissig so schön sagt.
Mein drittes und letztes Romanzitat: „Mit Kunst kannst du kein Tabu mehr brechen. Gibt keine mehr.“ Welche Funktion haben Kunst und Kultur heute?
Eine große Frage. Ich versuche es. Also: Tabus brechen heute die Rechten.
Kunst als kreativ verpackte Information, als Aufklärung, Sozialpädagogik, Illustration gut gemeinter politischer Agenden, als Erziehung zu demokratischem Wohlverhalten: So wird es heute gemacht, das ist kultureller Mainstream, das ist, was Staat und Kunstförderung von den Künstlern erwarten. Ich gestehe den sogenannten woken Themen absolute Berechtigung zu, auf vielen Feldern besteht dringender Nachholbedarf. Deshalb kann es sein, dass wir in der Kunst durch eine Phase ideologischer Enge und Übercorrectness durchmüssen. Aber was heute Mainstream ist, ist morgen mit ziemlicher Sicherheit ein alter Hut.
Was meines Erachtens aktuell auf der Strecke bleibt: das Moment der Lebendigkeit, das Wilde, das grundsätzlich Aufbegehrende in der Kunst. Auch das, was man manchmal Sense of Wonder nennt. Und ich wünsche mir, dass nicht sämtliche gesellschaftlichen Gegenimpulse der rechten Seite überlassen bleiben!
Was braucht es dafür?
Auch das ist aus dem Blickfeld geraten: Kunst kann in das vorstoßen, was man noch nicht sagen, noch nicht wissen, noch nicht sehen kann. Die Reise ins Unbekannte, wenn man so will, in die Zukunft. Das hat mit der Eigendynamik der Prozesse zu tun, deren Endergebnis man nicht unbedingt zu steuern vermag. Kein Forscher würde den Fehler machen vorwegzunehmen, was bei seinem Versuch herauskommen soll. Bei einem Förderantrag für Freies Theater in München hingegen darfst du nicht die kleinste Kleinigkeit dem Zufall überlassen. Gibst du nicht genauestens jedes Wie, Wo, Wann, Womit, Mit wem und Warum an, bekommst du kein Geld für dein Projekt.
Über Kunst verfügt man nicht, man kann nur ein Feld anberaumen, wo sie sich ereignet, oder eben nicht. Mit Glück stellt sich etwas Unerwartetes, wirklich Neues ein.
Wichtig an der Kunst ist, dass sie frei ist, auch von Zwecken. Je mehr Instrumentalisierungen sich Künstler*innen unterwerfen, desto mehr besteht die Gefahr, dass die Kunst ihre spezifische Energie verliert und nichts mehr herauskommt, was einen verblüfft oder was man nicht schon wüsste. Kaum jemand wagt gerade darauf zu vertrauen, dass seine Kunst schlauer sein könnte als er selbst.
Interview: Tina Rausch
Matthias Hirth lebt in München und Berlin und schreibt seit 1994. Er arbeitete als Regisseur und Schauspieler an verschiedenen deutschen Theatern, war im Leitungsteam des Münchner „Theaters in der Kreide“ und baute zwischen 2012 und 2015 einen Zukunfts-Thinktank für die Audi AG auf. Hirth ist Mitbetreiber der Münchner Favorit Bar und einer der Begründer von „Monokultur München“, einer Initiative, die sich kritisch mit der Münchner Stadtpolitik auseinandersetzt. Zuletzt erschien sein 700-Seiten-Roman „Lutra lutra“.
* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.
Bisher erschienen sind:
- Burcu Dogramaci: Exzentrische 80er: Zur Multimediakünstler*in Rabe Perplexum (6.12.2021)
- Karl Siebengartner: Punk und Fanzines im München der 1980er: Arenen der Selbstdarstellung (3.12.2021)
- Fabienne Imlinger – Ein (Ausstellungs-)Besuch in den 1980ern (26.11.2021)
- Mira Mann über Punk: „Welcome to Paradise“ – ein Hörstück (23.11.2021)
- Zafer Şenocak und die 1980er Jahre: München – mein verlorener Schatten (18.11.2021)
- Feridun Zaimoglu – Nicht dabei im München der 1980er (8.11.2021)
- Philipp Gufler – Ein Künstlergespräch über die 1980er und Rabe Perplexum (28.10.2021)
- Hans Pleschinski – München und der Mauerfall (21.10.2021)
- Lorenz Schröter – Meine 1980er Jahre (11.10.2021)
Der Beitrag ist Teil von #PopPunkPolitik Vol. 2 – unserem digitalen Programm, das wir auf der Microsite zur Ausstellung in der Übersicht spiegeln. Schaut rein!
Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München
Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei
Besucht auch gerne die Cafébar Mona.
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Schönes Interview, lieber Matthias – vielen Dank!
Vielen Dank, lieber Andreas Heckmann, wir freuen uns sehr, dass dir das Interview gefällt!