Für die Reihe “Lesezeichen” touren unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch unsere Bibliotheken, um den Münchnerinnen und Münchnern ihre Lieblingsbücher vorzustellen. Und damit alle etwas davon haben, gibt es ihre Tipps auch hier im Blog. Ein Klick aufs Cover führt dich in unseren Onlinekatalog zum Bestellen.
Naomi Alderman: Die Gabe
Von heute auf morgen wachen auf der ganzen Welt junge Mädchen auf und haben sie: die Gabe, über ihre Hände Elektrizität abzugeben, in Mengen, die anderen Menschen Schmerzen und im äußersten Fall auch deren Tod verursachen können. In Folge dieser Entwicklung ändert sich auch die Welt: Frauen als stärkeres Geschlecht erheben sich aus Unterdrückung und Versklavung, ganze Völker rebellieren gegen das Patriarchat. Wir begleiten in der Geschichte den Werdegang einzelne Frauen und Männer in einer neuen Weltordnung, immer vor dem Hintergrund der leisen Frage, ob eine von Frauen regierte Welt eine bessere wäre.
Ein Roman, der mich begeistert und verstört hat, da er deutlich aufzeigt, unter was für Umständen immer noch unzählige Frauen leben müssen – und wie absurd diese Umstände für das eigene Empfinden leider erst dann werden und an wie viel Ungerechtigkeit man sich als Frau schon gewöhnt hat, wenn man diese Gegebenheiten fiktiv auf Männer ummünzt. „Die Gabe“ ist ein interessantes Gedankenspiel, das ich nur empfehlen kann.
Heyne Verlag, 480 Seiten, Aus dem Amerikanischen von Sabine Thiele
Eva/Stadtbibliothek Maxvorstadt
Stefan Lehnberg: Die Affäre Carambol
Wem schon der erste Krimi des Autors „Durch Nacht und Wind“ gefallen hat, der freut sich nun über den zweiten satirischen Krimi mit Goethe und Schiller als Ermittler. Diesmal weilen die beiden in Goethes Heimat Frankfurt. Dort sind zwei Stadträte gemeuchelt worden, und der Fürst von Thurn und Taxis bittet die Goethe und Schiller um Hilfe.
Wieder stürzen sich die beiden Helden in waghalsige Abenteuer mit Terzerol und Carambol. Eine leicht altmodisch gestaltete Sprache, gut recherchierte historische Einsprengsel und ein rasantes Erzähltempo – macht einfach Spaß.
Klett-Cotta, 239 Seiten
Anke/Stadtbibliothek Bogenhausen
Leïla Slimani: Dann schlaf auch du
Das Buch beginnt mit der Katastrophe: Ein Kindermädchen bringt die beiden Kinder um, auf die sie jahrelang aufgepasst hat.
Man liest weiter, um zu verstehen, wie so etwas geschehen kann. Paul (Musikproduzent) und Myriam (Anwältin) stellten Louise als Kindermädchen ein, um ihre Karrieren verfolgen zu können. Das Verhältnis ist freundschaftlich: Louise übernimmt bald auch Arbeiten, für die sie eigentlich gar nicht zuständig ist, und das Ehepaar lädt sie ins Restaurant ein und nimmt sie schließlich sogar mit in Urlaub.
Dass ihre Kinderfrau auch ein Privatleben hat, kommt Paul und Myriam nicht in den Sinn. Erst nach und nach erfährt die Leserin, dass Louise eine erwachsene Tochter hat, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt; dass sie Schwierigkeiten mit ihrem Vermieter und auch Geldprobleme hat. Man kann schließlich ihre Einsamkeit und ihren Wunsch, irgendwo dazuzugehören nachvollziehen. Und auch ihre Enttäuschung, wenn sie am Feierabend nach Hause geschickt wird. Und dann wird Louise irgendwann klar, dass sie nicht mehr gebraucht wird, wenn die Kinder älter werden… Das Erschreckende an dem Buch ist, dass alle nur das Beste wollen: Paul und Myriam sind verständnisvolle Arbeitgeber, und Louise kümmert sich rührend um die Kinder.
Die 1981 geborene französisch-marokkanische Autorin erhielt für diese Buch den Prix Goncourt.
Luchterhand Literaturverlag, 224 Seiten, aus dem Französischen von Amelie Thoma
Annette / Stadtbibliothek Maxvorstadt
Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen
Axel Hacke ist bekannt für seine amüsanten Bücher „Der kleine Erziehungsratgeber“ und „Nächte mit Bosch“, die aus SZ-Kolumnen entstanden sind. Nun hat er sich der Frage gewidmet, wie wir leben und miteinander umgehen wollen in dieser immer komplizierteren Welt: Woher kommt der Hass im Netz, die Hetzerei der Medien (z.B. gegen Flüchtlinge), der rüde tägliche Umgang zwischen den Menschen, die Salonfähigkeit des amerikanischen Präsidenten?
Es gibt in diesem Buch keine klare Struktur, keine Kapitel oder Überschriften, sondern viele Assoziationen, die sich aneinanderreihen. Man kann so quasi das Nachdenken des Autors mitverfolgen. Eingebaut sind hier und da Gespräche mit einem Freund.
Was ich sehr symphatisch finde: Eine Lösung sucht der Autor nicht bei Anderen, sondern zuerst einmal bei sich selbst, und er appelliert, trotz allem neugierig und im Gespräch zu bleiben. Keine unbedingt neuen Gedanken, aber eine gute Zusammenfassung dessen, was sich in unserer Gesellschaft gerade verändert und wo wir gegensteuern müssen.
Kunstmann Verlag, 192 Seiten
Annette / Stadtbibliothek Maxvorstadt
Jan Weiler: Kühn hat Ärger
Der Münchner Kommissar Martin Kühn bearbeitet seinem zweiten Fall und taucht in die Welt der gesellschaftlichen Gegensätze: Wohltätigkeitsveranstaltungen und Austernfrühstück der Superreichen, Armut und Überlebenskampf von Migrationsfamilien.
Weiler kann einfach gut erzählen, beschreibt Situationen sehr genau und witzig. Es ist ein humorvolles und spannendes Buch, das aber auch einen kritischen Blick auf die deutsche Klassengesellschaft wirft.
Piper Verlag, 400 Seiten
Sabine / Stadtbibliothek Berg am Laim
Lize Spit: Und es schmilzt
Eine junge Frau fährt zurück in das Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Im Kofferraum hat sie einen Eisblock – und er schmilzt. Man ahnt beim Lesen, dass sie in ihrer Jugend Schlimmes erlebt haben muss, doch nur allmählich entsteht aus vielen, manchmal nur angedeuteten Einzelheiten ein ganzes Bild. Dadurch dass die Rückkehr in das Dorf in der Erzählung mit Rückblenden in das Jahr 2002 vermischt wird, entsteht eine sehr dichte Struktur, die beim Lesen unweigerlich fesselt.
S. Fischer Verlag, 512 Seiten, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Claudia / Stadtbibliothek Bogenhausen
Bruno Preisendörfer: Die Verwandlung der Dinge
Der Untertitel deutet es schon an: Wir gehen auf Zeitreise und sehen den Dingen dabei zu, wie sie sich von den 1950er Jahren bis jetzt verwandelt haben. Preisendörfer öffnet dafür sein privates „Museum“ – und fördert Erstaunliches zutage.
Leichte Nostalgie mag uns beim Lesen überkommen, aber es wird nie zu einem „Früher-war-alles-besser“. Besonders witzig sind Auszüge aus alten Gebrauchsanleitungen oder Zitate alter Werbeslogans. Jetzt weiß ich endlich, dass einen Computer zu bedienen nahezu das Gleiche ist, wie einen Schokoladenkuchen zu backen.
Verlag Galiani Berlin, 272 Seiten
Anke / Stadtbibliothek Bogenhausen
Nadine / Stadtbibliothek Sendling rät zu drei Büchern:
Elisabeth H. Winthrop: Mercy Seat
Beruhend auf einer wahren Begebenheit und inspiriert durch Nick Caves „Mercy Seat“ thematisiert der Roman das tragische Schicksal eines zum Tode verurteilten jungen Schwarzen namens Will im Louisiana der 1940er. Ohne fairen Prozess akzeptiert er in den letzten Stunden vor seiner Hinrichtung sein Urteil, und so traurig die Geschichte ist – aber mit unerwartetem Ende – lässt man sich durch die einzelnen Personenperspektiven gleiten und entdeckt doch soviel Menschliches. Ergreifend bis zum Schluss.
Verlag C.H. Beck, 251 Seiten, aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib
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Lionel Shriver: Eine amerikanische Familie
Düsterer kann es für die amerikanische Bevölkerung 2029 nicht aussehen: Wasser ist rar, der Dollar nichts mehr wert, der Präsident ein Latino, Mexiko macht seine Grenzen dicht und die Arbeitslosenzahlen sind gigantisch. In diesem Szenario mit noch viel kleineren Kampfschauplätzen muss sich eine Großfamilie mit ihren unterschiedlichen Charakteren und Ansichten in Brooklyn zusammenraufen, um zu überleben. Und spätestens wenn man sich nicht mal mehr Toilettenpapier leisten kann, ist auch die verwöhnteste Luxuslady geläutert und packt mit an. Witzig, frech und vorstellbar.
Piper Verlag, 496 Seiten, aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
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Volker Kutscher: Moabit
Ein visueller und haptischer Leckerbissen ist der kleine, aber feine Band aus der Reihe „Lieblingsbücher“ der Berliner Illustratorin Kat Menschick. Sie ist ein großer Fan von Volker Kutscher und seinem Kommissar Gereon Rath im Berlin der 1920er – ich leider mittlerweile auch. Zusammen haben sie die Vorgeschichte von Charlotte Ritter realisiert, die wahrscheinlich große Liebe von Gereon Rath, so genau kann ich es nicht genau sagen, bin erst beim zweiten Band, aber die Sucht hat schon eingesetzt. Zurücklehnen und abtauchen in die 20er Jahre – mit den Illustrationen gelingt das bestimmt.
Verlag Galiani Berlin, 88 Seiten. Illustriert von Kat Menschick
David Szalay: Was ein Mann ist
Der Klappentext des Romans klingt vielversprechend: „Eine unwiderstehliche Schau der Männlichkeit im 21. Jahrhundert, die die verschiedensten Aspekte des Menschlichen berührt“. David Szalay, geboren 1974 in Montreal / Kanada hat bereits zwei Nachwuchsförderpreise bekommen und mit diesem, seinem vierten Roman, stand er 2016 auf der Shortlist des renommierten Man Booker Prize.
Tatsächlich ist der Roman eine Sammlung von neun eigenständigen Kurzgeschichten über Männer unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Alters: vom Frühling des Lebens mit 17 („April“) bis zum Winter des Lebens mit 73 („Dezember“). Was diese doch so verschiedenen Männer verbindet, ist ihre Situation: Sie befinden sich an einem Ort irgendwo in Europa am Scheideweg ihres Lebens und möchten etwas verändern. Sie wollen ihr Leben in die Hand nehmen, Träume verwirklichen, handeln – bleiben aber im Jetzt gefangen. Sie sehen sich selbst als Macher und sind doch Opfer ihrer Hilflosigkeit und falschen Selbsteinschätzung.
Obwohl die „Helden“ dieser Geschichten eher Verlierer und auch nicht unbedingt sympathisch sind, schafft es der Autor, dass man Mitleid empfindet und dass die Biografien dieser Männer, die sich selbst so im Weg stehen, anrühren. Auch die reduzierte Sprache, die Melancholie haben mir gefallen, und nach anfänglichem Zögern wollte ich unbedingt weiterlesen.
Hanser-Verlag, 512 Seiten, aus dem Englischen von Henning Ahrens
Gerlinde / Stadtbibliothek Giesing