„Jüdische Kinder hatten wir noch nie“: Dana von Suffrin über eine Familie in München – ein literarischer Beitrag zu #2021JLID

Dana von Suffrin schreibt exklusiv für das Monacensia–Dossier: Jüdische Schriftstellerinnen in München“* einen literarischen Blogbeitrag über ihre Kindheit als Jüdin in München. Darin erinnert sich die Münchner Schriftstellerin und Historikerin an ihre Schulzeit in Milbertshofen und an den Umgang mit dem Judentum in ihrer Familie. Wie schon in ihrem mehrfach prämierten Romandebüt „Otto“ gelingt Dana von Suffrin in ihrem Text eine einzigartige Mischung aus schwarzem Humor, Melancholie und jüdischem Familiengedächtnis – ein wichtiger literarischer Beitrag zum Jubiläumsjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“.    

Dana von Suffrin wird im Film für #femaleheritage porträtiert von Christiane Huber und Sven Zellner. Ein Beitrag zum Monacensia-Dossier "Jüdische Schriftstellerinnen in München! | #2021JLID
Dana von Suffrin wird im Film für #femaleheritage porträtiert von Christiane Huber und Sven Zellner. Ein Beitrag zum Monacensia-Dossier „Jüdische Schriftstellerinnen in München! | #2021JLID. Foto: Sven Zellner

Das Referat

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Ich muss sieben oder acht Jahre alt gewesen sein. Meine Eltern waren das erste (und das letzte) Mal in der abendlichen Sprechstunde gewesen und hatten der Lehrerin etwas erzählt, was ich lieber für mich behalten hätte. Frau Pschorr, die Religionslehrerin hatte am nächsten Tag die Idee, mich einen zwanzigminütigen Vortrag über das Judentum halten zu lassen. Wie interessant, rief sie mir zu, jüdische Kinder hatten wir noch nie! 

Die einzigen Juden, die in der Grundschule an der Nadistraße eine Rolle spielten, waren die während der Olympiade 1972 getöteten Sportler. Wir verstanden zwar nicht, wer sie umgebracht hatte, aber trotzdem pilgerten wir einmal jährlich, Hand in Hand, mit bunten, eckigen Schulränzen auf den Schultern, schwatzend und lachend, zu einer Gedenktafel neben den Briefkästen in der Connollystraße.  Dort legten wir Kieselsteinchen ab. Ich ahnte: Irgendwas hatten diese Sportler mit uns zu tun. Zwei von ihnen wurden übrigens in einer Wohnung erschossen, die genauso aussah wie unsere. Übrigens hatten die Sportler nicht von innen abgeschlossen, in Israel schloss früher niemand die Tür ab. Einige von ihnen waren übrigens in Rumänien geboren wie mein Vater. Übrigens übrigens. 

Ich kehrte an dem Tag, an dem die Religionslehrerin mich für ein Referat ausgewählt hatte, unglücklich nach Hause zurück. Mein Vater kam spät von der Arbeit nach Hause, aber war, als er von meiner Aufgabe hörte, entzückt und schrieb sofort Stichpunkte auf einen der Schmierzettel, die er aus dem endlosen gelochten Druckerpapier gerissen hatte: Festtage, Schofar und Opfer notierte er. Opfer?, fragte ich. Sag den Kindern der Gojim, antwortete mein Vater, dass wir stolz darauf sind, aus dem Volk der Opfer und nicht wie sie aus dem Volk der Täter zu stammen. Ich war nicht stolz, ich habe mich geschämt. 

Ich fragte meine Mutter, die übrigens aus dem Tätervolk stammte, warum ich nicht römisch-katholisch sein könne wie die anderen Kinder. Meine Mutter antwortete, dass die Kirche für den Arsch sei und da nur Heuchler hingingen. Ihr Hass auf die Kirche war vulgär, aber echter kleinbürgerlicher Affekt. 

Gras-Ober, Wikipedia/Wikimedia Commons (cc-by-sa-3.0) #2021JLID
Connollystraße 31, München, Eingangsbereich mit Gedenktafel an die Opfer der Geiselnahme von 1972. Foto:Gras-Ober, Wikipedia/Wikimedia Commons (cc-by-sa-3.0) | #2021JLID – Dana von Suffrin

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Mein Vater hat die Welt zeitlebens in Antisemiten und in „Freunde des Staates Israel“ unterteilt. Meine Mutter war letzteres, und auch die Religionslehrerin fiel in diese Kategorie. Andere sind ohne Absicht in die erste Kategorie gewandert, ich erinnere mich zum Beispiel an einen CDU-Politiker, der (nach Art der Christen, sagte mein Vater) im Suff einen alten Mann überfahren hatte. Immer wenn er, der Minister für Kultur oder Verkehr war, im Fernsehen erschien, rief mein Vater empört: Aber er hat einen alten Juden umgebracht! Doch lebten wir in Deutschland, und damals konnte man über so manchen Mann sagen: Er hat einen alten Juden umgebracht. 

3

Mein Vater hat einen Eintrag in der Datenbank von Yad Vashem; dort gilt er als vermisst, ich weiß nicht, wieso. Man kann ein Dokument aufrufen, und eine handgeschriebene Liste der jüdischen Einwohner Braşovs von 1942 erscheint. Die Schrift sieht brav aus, die Buchstaben sind rund und irgendwie redlich, wer hat sie geschrieben? Eine fleißige Sekretärin? Ein dummer Beamter? Der Priester? Ein Deutscher? Ich finde auch ein Formular, das Dora ausgefüllt hat, sie ist eine Cousine meines Vaters, ich glaube, die einzige, die überlebt hat. Links oben ist ein altes Bild ihres Sohnes Alvin als Schüler. Sie hat in ihrer unsicheren hebräischen Handschrift, der man ansieht, dass sie manche Buchstaben noch immer von links nach rechts schreibt, etwas hinzugefügt, das im düstersten Kontrast zu ihren unbeholfenen Schriftzeichen steht: Alvin litt an Epilepsie, man hat irgendetwas an ihm ausprobiert, ihn dann zur Zwangsarbeit geschickt, wo er krank wurde, und im Militärkrankenhaus haben sie sich geweigert, ihn zu behandeln. Er starb mit 14. 

4

Meine Mutter sagte, ihre echt große Liebe sei Eli gewesen. So einen wie den Eli vergisst man nicht, seufzte sie, während sie mir mit beiden Händen einen Zopf flocht (aber keinen Bauernzopf, die waren nur was für die Trampel aus dem Umland, sagte sie). Der Eli, erklärte sie: kompliziert ohne Ende und ebenso Charakter ohne Ende. Eli, erzählte sie, habe ich mit meiner Tante Trixi im Playboy kennengelernt, das war eine Diskothek. Meine Mutter liebte Diskotheken: Sie toupierte sich das Haar, sie malte sich die Augen an, sie begutachtete sich mit zusammengekniffenen Augen im Spiegel und dann lief sie raschelnd und knisternd zur Trambahnstation und fuhr in die Innenstadt. 

Damals, erzählte meine Mutter, gab es ja fast keine Ausländer in Deutschland, außer die paar GIs vielleicht, sagte sie. Woher kam Eli? Aus der Fremdenlegion, dachte meine Mutter. Die Wahrheit war aber: Eli war Jude, seine Eltern waren DPs und seine Mutter hatte ihn auf der Flucht auf die Welt gebracht, wie meine Mutter später erfuhr. Eli war in Deutschland immer staatenlos, er musste regelmäßig zum Amt und erst mit Dreißig erhielt er in Israel einen Pass. 

Mit dem Eli war es so, dass ihm alle aber auch alle Weiber nachgerannt sind, sagte meine Mutter, noch viel schlimmer als bei deinem Vater. Im Winter hatte er so einen Pelzmantel an, Wolf glaube ich, sagte sie, damit sah er aus wie ein Zuhälter. Zusammen sind wir um den Großhesseloher See gelaufen, erzählte sie. Wir durften nicht heiraten, obwohl die Eltern mich gernhatten, sagte meine Mutter. Am liebsten mochte ich den Eli, wenn er mit dem Werkzeugkasten zu mir in die Heimhauserstraße kam, immer wollte er irgendwas reparieren und ich habe ihm einen Semmelschmarrn gekocht, von dem er behauptete, er sei das beste Essen von der Welt, sagte meine Mutter. So einen Mann suchst du dir irgendwann auch, Dana. 

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Mein Vater hatte eine andere Sprache, und ich habe später oft darüber nachgedacht, ob er deswegen auch eine andere Wahrheit hatte. Du sollst kommen und anschauen die Fischlein, sagte er manchmal. Mein Vater züchtete irgendwelche Amazonas-Barben, und wenn er sich dem Becken näherte, um den Fischen „kleine Würmchen“ zu füttern, die in Wahrheit gefriergetrocknete rote Mückenlarven waren, gerieten sie in Aufregung. Mein Vater sagte: sie tanzen, die Fischlein tanzen! Ich wollte wissen, ob die Fische ihn erkannten, ob sie seine Statur oder sogar sein schönes, dunkles Gesicht von weitem sahen. Er antwortete, dass man das so genau nicht wissen könne, wahrscheinlich spürten sie nur die Erschütterung der hölzernen Dielen, aber wer weiß?

 Mein Vater erklärte mir, dass die tanzenden Fische lebendgebärend sein, und der komische Ausdruck „lebendgebärend“ war unter den ersten Worte, die ich lernte. Manchmal zeigte mir mein Vater die vielen kleinen Fischaugen im Leib der trächtigen Weibchen, und ein oder zwei Tage später schwammen (oder tanzten) schon die neugeborenen Fischlein herum, die zu meinem Entsetzen von den anderen Barben einfach geschluckt wurden. 

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Psychiatrie Haar, geriatrische Abteilung. Mein Vater sitzt im Rollstuhl, er trägt eines seiner löchrigen Wifebeater-Unterhemden, die meine Mutter so gehasst hat, darüber eine Boxerhose, die mein Mann mal bei ihm vergessen hat und die wir in die hastig gepackte Krankenhaustasche gepackt hatten. Auf seinem Kopf wachsen lange weiße Haare und er ist schlampig rasiert. Aus irgendeinem Grund haben die Krankenschwestern beschlossen, ihm wieder Koteletten stehen zu lassen. Sie haben ihm seine perverse Brille aufgesetzt, so ein übergroßes Achtzigerjahre-Modell mit Stahlrahmen, das seine Augen noch größer macht, weil sie nicht wissen, dass er die Brille nur zum Fernsehen braucht. Es wäre ihnen aber auch egal gewesen, wenn sie es gewusst hätte. Im Zimmer gibt es jedenfalls keinen Fernseher, obwohl er verbeamtet war und eine gute Krankenversicherung hatte und ihm einer zugestanden wäre; nur im Speisesaal gab es einen, um den sich die Greise abends versammelten, um Schlagersendungen zu schauen. 

Ich habe über die Vitrine, die ich in Haar sah, als ich das erste Mal meinen Vater besuchte, schon geschrieben: Darin hing das Titelblatt der Münchner Illustrierten Presse, Weihnachtsausgabe 1942. Es zeigte zwei Wehrmachtssoldaten, die Kerzen auf einem Christbaum entzündeten. An diesem Tag rief mir eine dicke, blonde Schwester zu: Suchen Sie ihm schon einmal einen Platz im Pflegeheim! Mein Vater kam übrigens nach Hause zurück. Wenn er „Zuhause“ meinte, dann sprach er von seiner Erdgeschosswohnung. 

Mein Vater fürchtete sich in der Psychiatrie. Er war in einer Welt aufgewachsen, in der die Mächtigen mit weniger Mächtigen tun konnten, was sie wollten. Wo er großgeworden war, hatte die Bürokratie einen Willen, der uns uneinsichtig ist. Er verstand nicht, warum man ihn in ein Zweibettzimmer gesperrt hatte, warum diese hektischen, jungen Ärzte einfach hereinplatzten und ihm allerlei Fragen stellten, ohne an Antworten interessiert zu sein.  

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Ich habe das Referat nicht gehalten. Mein Vater kam ein paar Wochen später in die Schule. Ich wunderte mich über seine Erscheinung: Alles an ihm war zu groß für den deprimierenden 70er-Jahre-Bau, in dem wir uns nur in Hausschuhen bewegen durften und die Lehrerinnen Dirndl trugen und, wie meine Mutter sagte, wie Dotschn, also Steckrüben, aussahen. Mein Vater stellte sich in die Aula, wir Kinder der 3b setzten uns im Schneidersitz um ihn, und er erzählte etwas von Chanukka, wenn ich mich nicht täusche. Er erzählte vom Öl und vom Wunder, von den Feinden der Juden und von der Rettung. Ich schämte mich wieder. Keiner hörte ihm zu, manche lachten über seinen Akzent. Mein Vater war wirklich kein großer Erzähler und er war es nicht gewohnt, vor Leuten zu sprechen, er sprach ja auch kaum mit uns. Er trug ein gestreiftes, verwaschenes Hemd und billige Lederschuhe, sein Haar war schon grau und seitlich gescheitelt und ging an den Schläfen in Kotletten über. Er war aufgebracht, er gestikulierte wie ein großer Reiher und versprach sich. Er war so lächerlich wie das, was er uns erzählte, und irgendwie war ich nicht unglücklich, dass ihm niemand zuhörte.

Dana von Suffrin. Foto aufgenommen während des Filmdrehs zum Autorinnenportrait. Ein Film von Christiane Huber und Sven Zellner.
Dana von Suffrin. Foto aufgenommen während des Filmdrehs zum Autorinnenportrait. Ein Film von Christiane Huber und Sven Zellner. Foto: Sven Zellner.

Die Schriftstellerin und Historikerin Dana von Suffrin (*1985 in München) studierte Politikwissenschaft, jüdischen Geschichte und Kultur sowie allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München, Neapel und Jerusalem. 2017 promovierte sie an der Ludwig-Maximilians-Universität mit einer Arbeit zum Thema „Pflanzen für Palästina! Naturwissenschaften im Jischuw, 1900-1930“.  Mit ihrem Roman-Debüt „Otto“(Verlag Kiepenheuer & Witsch) begeisterte Dana von Suffrin eine große Leserschaft und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem bayerischen Kunstförderpreis in der Sparte Literatur, dem Ernst-Hoferichter-Preis und dem Klaus-Michael Kühne-Preis. Die Buchpremiere zu „Otto“ fand 2019 in der Monacensia statt. Für den Blog beantwortete Dana uns damals die „Vier Fragen“.

Im Rahmen des kooperativen Kulturerbe-Forschungsprojekts #femaleheritage entstanden im Auftrag der Monacensia Filmporträts über Münchner Autorinnen. Zum Internationalen Frauentag am 8. März wurden die ersten beiden Filmporträts von Dagmar Nick und Dana von Suffrin auf dem YouTube-Kanal der Münchner Stadtbibliothek veröffentlicht. 

Mit freundlicher Unterstützung der Beisheim Stiftung


* Das Monacensia-Dossier „Jüdische Schriftstellerinnen in München“ macht anlässlich „#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland“ Leben und Wirken jüdischer Schriftstellerinnen in München sichtbar. Es dokumentiert literarische Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Ein Projekt im Rahmen von #femaleheritage.

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2 Kommentare zu “„Jüdische Kinder hatten wir noch nie“: Dana von Suffrin über eine Familie in München – ein literarischer Beitrag zu #2021JLID

  1. Daniela Bruch-Gerharz on 21/01/2024 at 8:12 am sagt:

    Wie wunderbar ist Dana von Suffrin!

    • Monacensia on 25/01/2024 at 4:43 pm sagt:

      Vielen herzlichen Dank für den Kommentar – wir leiten das Lob an Dana weiter! Winterliche Grüße aus der Monacensia, Tanja Praske

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