Jüdisch!

Reading Challenge im August

Öffentliche Bibliotheken setzen sich für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung jedweder Art ein. Und deswegen war es uns selbstverständlich, dass sich in unserer diesjährigen Reading Challenge auch das Thema „Jüdisch!“ finden wird. Und auch der Monat erklärt sich durch die bibliothekarische Perspektive: Jedes Jahr am 2. August werden deutsche Bibliotheken daran erinnert, was nie wieder geschehen darf: Am 2. August 1941 wurde allen Jüdinnen und Juden das Betreten der Leihbibliotheken verboten. Während der Antisemitismus in Deutschland zu wachsen scheint, wollen wir dennoch weiterhin darauf vertrauen, dass Lesen verbindet, und stellen euch deshalb unsere Lieblingsbücher zum Thema vor. (Ein Klick aufs jeweilige Cover führt euch in unseren Onlinekatalog zum Ausleihen oder Vormerken.)


Lisa aus der Monacensia im Hildebrandhaus empfiehlt:

Dana von Suffrin: Otto

Damit das klar ist: Die Geschichte unserer Familie war kein Epos vom Suchen, Verlorengehen und Wiederfinden (…). Unsere Familie war eher ein Klumpen Geschichten.

Otto ist aufbrausend, manipulativ, distanzlos und von wahnwitzigen  Einfällen beseelt – und jetzt auch noch pflegebedürftig. Von seinen  erwachsenen Töchtern Timna und Babi erwartet er und um die Uhr  Bereitschaft und treibt sie damit an den Rand des Wahnsinns.
Klug, liebevoll und mit sehr viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin eine Familiengeschichte über einen starrköpfigen jüdischen  Patriarchen mit siebenbürgischem Akzent, die so schräg ist, dass man nur  den Kopf schütteln kann. Eine Hommage und zugleich eine Abrechnung mit einem Mann, in dessen jüdischer Biografie sämtliche Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen.
Erscheint am 22.08.2019

Am 18. September ist Buchpremiere in der Monacensia bei MON liest.

Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten.

Gila Lustiger: So sind wir

Ich bin in einem ganz besonderen Klima aufgewachsen, (…) in einem Klima, in dem es keine Leichtigkeit gibt. (…) Bei uns musste alles immer hinterfragt werden. Bei uns war selbst die trivialste Geste verdächtig. Wir sind umweltgeschädigt (…) und unsere Wirklichkeit ist verseucht, unsere Liebe kontaminiert, unsere Trauer verschmutzt. Und unser Alltag ist immer doppeldeutig.

Die erwachsene Erzählerin Gila, Tochter eines jüdischen Vaters, der die Konzentrationslagern Annaberg, Otmuth, Auschwitz-Blechhammer, Groß-Rosen und Buchenwald überlebte, und einer israelischen Mutter, berichtet über ihre Kindheit in Deutschland und ihr gegenwärtiges Leben in Paris.

Im Zentrum steht die übermächtige und schwer greifbare Vergangenheit ihres Vaters, des Historikers Arno Lustigers, die dieser jedoch zeitlebens von den Töchtern geheimzuhalten versuchte und die dennoch – oder genau deswegen – stets präsent war.

Den Gegenpool zum Vater bildet die Mutter der Erzählerin, ehemalige Offizierin der israelischen Luftwaffe, die einst ihrem ihrem Mann nach „Schweineland“ folgte und nun wieder in Israel lebt. Das Verhältnis der erwachsenen Erzählerin zur Mutter ist von Gegensätzen bestimmt. Indem die Erzählerin lieber schreibt – und das auf Deutsch -, anstatt sich wie die Mutter ins Leben zu stürzen, stößt sie diese vor den Kopf.

Ein Familienroman über das Fortwirken der Shoah innerhalb einer Familie aus der Perspektive der Nachgeborenen.

Berlin Verlag, 272 Seiten.


Birgit aus der Stadtbibliothek Am Gasteig empfiehlt:

Deborah Feldman: Unorthodox

Deborah Feldman gewährt uns mit „Unorthodox“ spannende Einblicke in eine, vor allem frauenfeindliche, Parallelwelt. Aus dieser versucht sie immer wieder auszubrechen, unter anderem mit der Hilfe von englischsprachigen Romanen (ihre Muttersprache ist Jiddisch). Sie macht einen langen Leidensweg (inklusive arrangierter unglücklicher Ehe) durch, bis sie den Absprung endlich schafft.

Es ist erschütternd zu lesen wie, mitten unter uns und vor unseren Augen, Menschen (oft unfreiwillig) leben und wir sie trotzdem nicht sehen (wollen). Man kennt orthodoxe Juden aus den Nachrichten etc., aber hier wird einem dieses Thema sehr nahe gebracht.

Secession Verlag, 319 Seiten.


Susanne aus der Stadtbibliothek Neuhausen empfiehlt:

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

Mordechai Wolkenbruch, genannt Motti, lebt ein behütetes Leben im Kreise seiner jüdisch-orthodoxen Familie in der Schweiz. Seine liebevoll-tatkräftige Mutter, genannt Mame, will ihn endlich unter die Haube bringen, natürlich mit einem anständigen jüdischen Mädchen. Dumm, dass sich Motti schon längst mit Haut und Haar in eine nichtjüdische (Schickse) Kommilitonin verschaut hat, deren Anziehungskraft er letztlich erliegt. Was wiederum bedeutet, dass er aus seiner Familie ausgestoßen wird…

Mit einem zwinkernden Auge beschreibt Thomas Meyer die beiden Welten, die in seinem Roman aufeinander prallen, auch Schattenseiten werden deutlich. Aber vor allem besticht der warme Humor und die vielen Szenen voller Situationskomik, wenn die Mame Schidech plant und der Jing eine Gojete bevorzugt. Mit deutsch-jiddischem Glossar.

Salis Verlag, 139 Seiten.


Stefanie aus der Stadtbibliothek Westend empfiehlt:

Eve Harris: Die Hochzeit der Chani Kaufman

Mitten in London und doch in einer ganz anderen Welt und einer anderen Zeit scheint Chani Kaufman, demnächst Levi, zu leben. Sie und die Mitglieder der jüdisch-orthodoxen Gemeinde leben in einer Art Parallelgesellschaft, die von alten Traditionen bestimmt ist, aber auch vom verlässlichen Miteinander der Gemeinde.

Chani, ein kluges Mädchen aus gutem Hause, manchmal vielleicht eine Spur zu wissbegierige für die starren Regeln der Gemeinde, erhält vom angehenden Rabbiner Baruch – sehr zum Missfallen ihrer Mutter – einen Heiratsantrag. Da sie schon mehrmals Bewerber abgelehnt hat bzw. deren Ablehnung provoziert hat und keinesfalls als alte Jungfer enden will, willigt sie ein.

Nun soll sie ausgerechnet die Rabbinerin Rebecca, die sich in einer schlimmen Ehe- und Identitätskrise befindet und die mit der traditionellen Lebensform, der sie sich vor vielen Jahren bereitwillig untergeordnet hat, hadert, Chani auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau vorbereiten…

Eve Harris hat einen einfühlsamen und humorvollen Roman über das Leben zweier Frauen in einer chassidischen Gemeinde geschrieben, der einen berührt, staunen lässt, und einen neugierig auf das Leben in einer jüdischen Gemeinde macht, orthodox oder nicht.

Diogenes Verlag, 464 Seiten


Katrin aus der Öffentlichkeitsarbeit empfiehlt:

Lion Feuchtwanger: Erfolg

Bereits 1927 begann der Münchner Schriftsteller Lion Feuchtwanger mit der Arbeit an seinem Roman „Erfolg“, der 1930 erschien. „Erfolg“ erzählt die Geschichte des Münchner Museumsleiters Martin Krüger, dessen moderne Ideen und linke Positionen der bayerischen Staatsregierung ein Dorn im Auge sind; ein angeblicher und ein echter Meineid bringen Krüger ins Gefängnis, wo er letztendlich zugrunde geht.

Feuchtwanger, der selbst 1933 von einer USA-Reise nicht mehr nach Deutschland zurückkehren konnte, schildert in „Erfolg“ hellsichtig und präzise den Aufstieg der Nationalsozialisten und wie diesen in München der Boden bereitet wurde. Unbedingt lesen, denn in den vergangenen 90 Jahren ist dieser Roman leider nicht veraltet, sondern aktueller denn je.

Z.B. Aufbau Verlag, 684 Seiten

Lena Gorelik: Lieber Mischa

Noch eine Münchner Autorin, diesmal aber durch und durch heutig. Gorelik wurde 1981 geboren und lebt seit Anfang der 1990er Jahre in München. 2004 erschien ihr Debütroman „Meine weißen Nächte“. Nach der Geburt ihres Sohnes veröffentlichte sie ein ungewöhnlich schmales Büchlein mit dem Titel „Lieber Mischa“ und dem wunderbaren Untertitel „… der Du fast Schlomo Adolf Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude“.

Nicht jedem gefiel die essayistische Herangehensweise von Gorelik, die augenzwinkernd und anekdotisch die jüdische Gegenwart porträtiert. Ich aber mag „Lieber Mischa“ sehr!

Graf Verlag, 184 Seiten

Gabriele Tergit: Effingers

Auch Gabriele Tergit floh aus Deutschland, nachdem ein Schlägertrupp der SA im März 1933 versucht hatte, sie in ihrer Wohnung zu überfallen. Schon zwei Jahre zuvor hatte sie mit der jüdischen Familiensaga „Effingers“ begonnen, deren Ende sie damals noch nicht ahnen konnte. Den Rahmen des sieben Jahrzehnte umfassenden Romans bilden zwei Briefe: der Brief des 17-jährigen Lehrlings Paul Effinger und dem Abschiedsbrief des nunmehr 80-Jährigen kurz vor seiner Deportation in die Vernichtungslager.

„Effingers“ erschien erstmals in den 1950er Jahren in Deutschland – und wurde nicht weiter zur Kenntnis genommen. In diesem Jahr erschien eine Neuauflage, und diesmal erhielt das Buch endlich die Beachtung, die es unbedingt verdient.

Schöffling Verlag, 904 Seiten

Außerdem zum Thema empfehlen möchte ich: alles von Kafka natürlich, aus der Gegenwart alles von Robert Menasse und aus der Vergangenheit noch die Prosa von Sigmund Freud (lest das mal als Erzählungen, nicht als Psychoanalysen – großartig!).


Helga aus der Musikbibliothek Am Gasteig empfiehlt:

Alfred Bodenheimer: Kains Opfer

Der erste Roman des Ordinarius für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel beginnt mit dem Mord an Nachum Berger, einem allseits geschätzten Lehrer für Hebräisch und Religion an der jüdischen Primarschule in Zürich. Von der für den Fall zuständigen Polizeikommissarin beauftragt, die hebräische E‐Mail‐Korrespondenz des Ermordeten zu sichten, gerät Gemeinderabbiner Gabriel Klein immer tiefer in den Fall.

Ein Geistlicher als Ermittler ist immer ein ergiebiger Ausgangspunkt für einen Krimi, von G. K. Chestertons Father Brown bis zu Harry Kemelmans Rabbi David Small. Der Geistliche kennt mit oder ohne Beichte die menschliche Seele im allgemeinen und seine Gemeindemitglieder im besonderen.

Der Krimi gewährt einen interessanten Einblick in das Wirken des Rabbis in seiner Gemeinde und das jüdische Leben in Zürich und auch die Aufklärung des Todesfalls gestaltet sich überraschend und spannend.

Nagel & Kimche Verlag 2014

Weitere Bände der Krimireihe um Rabbi Klein: Das Ende vom Lied (2015), Der Messias kommt nicht (2016), Ihr sollt den Fremden lieben (2017), Im Tal der Gebeine (2018)

Uwe von Seltmann: Es brennt. Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes

Die literarische Biographie präsentiert durch viele Bilder, Texte, Noten und zeitgeschichtliche Dokumente ein lebendiges Bild des jüdischen Lebens in Krakau zur Zeit des Nationalsozialismus. Der Krakauer ‚Arbeiterpoet‘, Komponist, Dichter und Liedermacher Mordechai Gebirtig wurde am 4. Juni 1942 im Krakauer Ghetto ermordet, jedoch haben etwa 170 seiner Gedichte und Lieder überlebt, die in diesem Buch zum Teil erstmals in der deutschen Übersetzung erscheinen. Sein bekanntestes Lied „s‘brent“ (Es brennt) wurde zur inoffiziellen Hymne der jüdischen Widerstandskämpfer.

Ein wichtiges Buch, besonders interessant auch für Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Holocaust und Musik im Nationalsozialismus auseinandersetzen.

Homunculus Verlag 2018


Und ein P.S. von Stefanie aus dem Westend

Auch toll:

Jonathan Tropper: Sieben verdammt lange Tage

Die erwachsenen Kinder der zerstrittenen Familie Foxman werden von der Mutter genötigt, für ihren plötzlich verstorbenen (eigentlich atheistischen) Vater die traditionelle jüdische siebentägige Totenwache (shiv‘a) zu halten. Dabei treten jeden Menge kleine Geheimnisse ans Licht, die die Geschwister lieber für sich behalten hätten…irre komisch! Und kongenial verfilmt von Shawn Levy. -> im Onlinekatalog


Weiterleselinks

Was ist jüdische Literatur?

Marcel Reich-Ranicki rezensiert die Ausstellung „Die Juden in der deutschen Literatur“ (1969)



Headerbild: Cole Keister / Unsplash



2 Kommentare zu “Jüdisch!

  1. Viola Miltner on 06/08/2019 at 10:26 pm sagt:

    Vielen Dank für die guten Tipps. Aber vergesst nicht die großartige Schriftstellerin Jessica Durlacher und ihren Mann Leon de Winter, die mit ihren Romanen eine moderne jüdische Literatur vertreten.

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