„Ellbogen“ von Fatma Aydemir (Roman)
Keine Ahnung, wie ich auf Fatma Aydemirs Debütroman „Ellbogen“ gestoßen bin. Auf alle Fälle hat mich das Buch gefunden und dann von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen. Normalerweise lese ich keine Bücher über Gewalt, in denen es zusätzlich vor Kraftausdrücken nur so wimmelt. Aber normale Maßstäbe gelten für dieses Buch vielleicht einfach nicht.
Da dieses Buch einen ganz eigenen Sound hat, lasse ich im folgenden einige Zitate für sich sprechen und gebe euch damit einen groben Abriss der Handlung.
Mein Name ist Hazal Akgündüz, mein Thema lautet: Überleben.
Das Leben von Hazal (Deutschtürkin aus Berlin, fast 18 Jahre alt) besteht aus berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen, erfolglos Bewerbungen-Schreiben, shoppen mit Freundinnen, ein bisschen kiffen und Familienstreitigkeiten. Respekt, Liebe und Glück findet sie aber nirgends.
„Ich wollte die Dinge, die andere hatten … Aber ich bekam sie nie. Es war immer unmöglich. Es durfte nicht sein, warum auch immer.“
„Was für Dinge?“
„Ganz normaler Kram. Geld. Abends ausgehen wie ich will. Einen Freund … Ein eigenes Leben, weißt du? Aber unmöglich, das sind ganz normale Dinge, aber für mich voll unmöglich.“
„Aber du willst doch trotzdem glücklich sein?“
„Keine Ahnung, wahrscheinlich. Jeder Schwanz will doch glücklich sein.“
Sie verliebt sich in Mehmet, der in Deutschland aufgewachsen ist und der nach seiner Abschiebung inzwischen in Istanbul lebt; den sie nie persönlich getroffen hat, sondern nur über Facebook und Skype kennt.
Unser Gespräch endete erst im Morgen, als die Müllabfuhr die gelben Tonnen vor der Tür leerten. Wir sprachen von Tupac, von deutschen Frauen, von Gras und von Mehmets Abschiebung. Er erzählte ganz offen davon. Er kam irgendwie überhaupt nicht so opfermäßig rüber.
Gerade noch kann Hazal ihre Mutter überzeugen, ihren 18. Geburtstag mit drei Freundinnen feiern zu dürfen. Die Mädels wollen es so richtig krachen lassen. Doch der Abend endet nicht so, wie Hazal sich das vorgestellt hat. Sie ist endlich volljährig und zur Mörderin geworden.
Was soll denn daran unklar sein? Wir hatten Streitlust, wir hassen deutsche Studenten. Ist doch alles klar, ist doch in einem Satz, mit einem einzigen Wort zu beantworten: Lust. Oder Hass. Oder Migrationshintergrund, geil.
Hazal flieht vor der Polizei nach Istanbul, in eine Stadt, in der sie noch nie war. Sie bedauert nichts:
Du verstehst mich nicht. Ich will keine Reue zeigen! Auch nicht, um meinen Arsch zu retten. Das mache ich einfach nicht.
Hazal will kein Opfer sein, auch wenn das Leben hart zu ihr ist.
Wegen der Ellbogen, die uns das Leben reingerammt hat, immer wieder, und immer noch. Überall nur Ellbogen von denen, die stärker sind als wir.
Die Gewalt zieht sich durch Hazals Alltag: Gewalt in der Familie hat sie bereits erfahren. Sie erlebt Gewalt durch die Polizei, das türkische Militär putscht während ihres Aufenthaltes dort. Die harte Sprache passt zu den harten Gefühlen. Und wie man bei manch furchtbaren Ereignissen zwar wegschauen will, aber dennoch fasziniert weiter hinguckt, so verfolgt man Hazals Leben. Normalerweise erwartet man als Leser den üblichen Rhythmus von auf Verbrechen und Gewalt folgt Sühne und Bestrafung. Aber hier lesen wir, wie Hazal sich mit aller Macht dagegen wehrt, zum Opfer stilisiert zu werden. Und das macht das Buch auch so spannend: Der Leser möchte wissen, ob Hazals Flucht gelingt und wie es mit ihr weitergeht, ob sie ihre schreckliche Tat doch noch bereut.
Kritiker schreiben, dass die Autorin zu dick aufgetragen habe, dass die Sprache übertrieben ghettomäßig sei, dass nicht alle drei Teile des Buches gleich stimmig seien, dass das Verbrechen nicht nachvollziehbar sei und es umgekehrten Rassismus beinhalte. Ich kann jede Kritik nachvollziehen – und dennoch fand ich das Buch gut. Und das nicht, weil es so gewaltsam, ghettomäßig oder rassistisch ist. Meiner Meinung nach benötigen wir mehr Bücher, die uns die Welt vor Augen führen. Die uns zum Nachdenken über unser Leben bringen. Wir befinden uns nicht in einer Schöner-Wohnen-Zeitschrift. „Ellbogen“ erzählt eine Geschichte über Gewalt und den Ausbruch aus dem eigenen Leben – über das, was da draußen wirklich passieren könnte oder schon oft passiert ist. Es ruft förmlich zur Diskussion auf.
Die Autorin Fatma Aydemir, geboren 1986 in Karlsruhe, lebt seit 2012 in Berlin und schreibt dort für die taz und verschiedene Zeitschriften. Beim Betrachten der Autorenfotos geht einem unweigerlich durch den Kopf, dass man sich nicht von Vorurteilen lenken lassen sollte, dass auch junge Frauen einem Texte um die Ohren hauen können und dass Gewalt nicht die Domäne männlichen Autoren ist. „Ellbogen“ ist das Debüt von Fatma Aydemir, und mich hat es beeindruckt. Ich bin gespannt, was wir in den nächsten Jahren noch von ihr lesen werden. Ich hoffe, dass es weitere Figuren sind, die Welten im Kopf der Leser aufbauen – und diese wieder einstürtzen lassen.
In der S-Bahn ist kaum etwas los, und wenn schon, in mir kocht die Wut so heftig, dass nichts zu mir durchdringen kann. Ich ziehe unsichtbare Wände hoch und puste sie wieder um. Die Nacht zerfällt in Millionen einzelne Legosteine.
Fatma Aydemir: Ellbogen. 272 Seiten. Hanser Verlag, 2017