„Wenn Sie jetzt ein Buch schreiben würden, wie würde der erste Satz lauten?“
Das haben wir die Münchner Autorinnen und Autoren gefragt. Der Schriftsteller Hans Pleschinski hat uns nicht nur den ersten Satz seines nächsten Romans verraten, sondern uns auch einen wunderbaren Text über literarische Anfänge geschickt. Lest, was er über sein neues Buchprojekt verrät und warum Hans Pleschinski findet, dass man jetzt erst recht keine Romane über Corona schreiben sollte.
„Erster Satz“ – von Hans Pleschinski
Der neue Roman ist weithin abgeschlossen. Und natürlich hat er einen ersten Satz: Der Wind frischte auf.
Das Buch beginnt also nicht allzu kompliziert. Der geneigte Leser kann neugierig bleiben, wo und wann der Wind auffrischt, und um wen er weht. Auch der zweite Satz, der in jedem Buch notwendig ist, klingt verhältnismäßig karg: Pappbecher rollten über das Pflaster. Noch immer erfahren wir nichts Genaues darüber, an welchem Ort, zu welcher Zeit der Anfangswind den Müll vor sich her treibt. Aber schön ist es nicht, wenn Zivilisationsrückstände durch die Gegend kullern. Allerdings wissen wir nun, also schon in der zweiten Buchzeile, dass der Roman in der Gegenwart spielt, zumindest anfangs, und dass in ihm ein kritischer Ton mitschwingt. Das ist eigentlich bereits recht viel an Information.
Ich lasse gerne an Romananfängen vieles offen. (Am Schluss gleichfalls.) Denn ich schreibe mich zuerst selbst in das Geschehen hinein. Ich muss mir einen Erzählraum erschaffen und vor allem durch Wörter eine Stimmung, in der ich mich umschaue, um nach und nach die Handlung genauer zu erkennen und beginnen zu lassen. An dieser Stelle offenbare ich noch nicht, wer im unangenehmen Wind den Müll wahrnimmt. Es könnte nach diesem Auftakt ein sehr düsteres Buch werden. Über Verzweiflung in der Gegenwart. Es entspricht meinem Wesen jedoch nicht, einer Verzweiflung, dem Verzagen, dem Müll die Oberhand zu lassen. So wird der dritte – wieder knappe Satz – wichtig. Dieser dritte Satz lässt den Ort der Handlung erahnen, er bringt einen Hauch von Schönheit in den Romanbeginn: Das Gold der Mariensäule leuchtete im Abendschein. – Es gibt in etlichen Städten Mariensäulen. Aber, ja, es handelt sich um München.
So hätten wir nun diesen Anfang:
Der Wind frischte auf.
Pappbecher rollten über das Pflaster.
Das Gold der Mariensäule leuchtete im Abendschein.
Obwohl nur Äusserliches benannt wird, dem trotzdem immer und unweigerlich eine persönliche Sicht innewohnt, muss eine Erzählungspannung geschaffen und aufrecht erhalten werden, bis schließlich Menschen, Personen auftreten, miteinander reden und handeln. Es ist eine Frage des künstlerischen Gelingens, wie lange man äusserliche Umstände, Wind, Pappbecher, Mariensäule und weiteres, schildern kann, ohne dass die Spannung erlahmt. Ja, sie sollte sich durch den anfänglichen Mangel an Handlung sogar steigern, damit der Leser begierig darauf wird zu erfahren, was denn da auf dem Münchner Marienplatz los ist, welche Geschichte nun anhebt. Ich mag mich beim Schreiben, – das ein hochlebendiger Vorgang ist -, selbst damit überraschen, wann und wie plötzlich eine Buchgestalt, vielleicht sogar schon die Hauptperson des Romans, aus der Schilderung heraustritt, und das Heft des Handelns in die Hand nimmt.
Nun, das folgt alles auf die ersten Sätze.
Die jetzigen Zeiten der Viruskrise, dieser unabsehbar langen Zumutung, sind abnorm. Und die Idee zum neuen Roman entstand natürlich vor diesem stumpfsinnigen viralen Angriff, ein Großteil des Romans wurde davor geschrieben.
Eine Frage lautet nun: Soll man einen Roman veröffentlichen, in dem die Coronazeit nicht vorkommt? Viele Autoren, Verlage, Leser werden dies derzeit bedenken.
Muss man ein Romanmanuskript sozusagen aktualisieren, und die gegenwärtige Misere mindestens mit einfließen lassen? Solche Aktualisierung wirkt zwanghaft und ist überdies unmöglich. Jede Geschichte, vor wenigen Monaten ersonnen, geriete in eine Schieflage und kippte um, wenn unversehens die Pandemie darin eine Rolle spielen würde.
Mein neuer Roman soll im kommenden Frühjahr erscheinen. Es ist gut möglich, dass dann niemand mehr etwas von der jetzigen Elendslage wissen will. Es kann sein, dass bald Hunderte von Büchern zur gegenwärtigen Krise erscheinen werden, in denen etwas Widerwärtiges, nämlich ein unnützer, wertloser Keim, im Mittelpunkt steht. Will man das lesen? In zwei, drei Jahren wird sich dann ohnehin kaum mehr jemand für das geistfreie Molekül und seine Scheußlichkeiten interessieren, gar erwärmen.
Mein Roman, der wahrscheinlich den Titel Promenade tragen wird, wird erscheinen, so wie er gedacht ist. Dadurch kann er auch eine Klammer, eine Brücke sein, zwischen den sorgloseren Tagen zuvor und dem hoffentlich wieder normalen Leben danach. Der Wind frischte auf. – So wird es auch mit unserem Geschick sein. Die Mariensäule wird im Abendschein leuchten.
Das furiose Finale wird übrigens in diesem geheimnisvollen Münchner Gemäuer stattfinden, wo einst die kulturelle Elite Deutschlands sich traf und miteinander ins kreative Gespräch kam. Ein bedeutsamer Ort.
Der Schriftsteller Hans Pleschinski, geboren 1956 in Celle, lebt seit vielen Jahren in München. Er ist Autor zahlreicher Romane, Essays und Erzählungen. Große Aufmerksamkeit erreichte unter anderem 2013 der Thomas-Mann-Roman »Königsallee« (C.H. Beck). Zuletzt erschien bei C.H. Beck sein Roman „Wiesenstein“ über die letzte Lebensphase des Schriftstellers Gerhart Hauptmann. 2018 widmeten Monacensia und LMU München dem Gesamtwerk des Münchner Schriftstellers eine Tagung mit dem Titel „Eleganz und Eigensinn – Tagung zum Werk von Hans Pleschinski“. Für sein literarisches Werk wurde Hans Pleschinski mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt er 2020 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Das ist der Auftakt zu unserer neuen Facebook-Serie „Erster Satz“. Die literarischen Antworten der Münchner Autorinnen und Autoren teilen wir unter dem Hashtag #monliest auf der Facebookseite der Monacensia im Hildebrandhaus. Und wie würde Euer erster Satz lauten? Wir freuen uns über Eure Rückmeldung.
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