Gerty Spies überlebt Theresienstadt als Dichterin. Über das Schreiben entflieht sie der erbarmungslosen Lagerrealität, so Rachel Salamander in ihrem Beitrag zum Kulturerbeprojekt #femaleheritage*. Die Literaturwissenschaftlerin stellt Gerty Spies‘ schriftstellerischen Weg bis in die Nachkriegszeit vor. Dabei sind Werk und Biografie eng miteinander verbunden.
Gerty Spies – Schreiben als Überleben
Deportiert, naturverbunden, dichten und schreiben
Gerty Spies hat Glück gehabt, sie überlebt. Aus München werden etwa 12.000 Juden vertrieben oder ermordet, nur etwa 160 kommen zurück. Mit 43 Transporten ab November 1941 in den Osten, nach Kaunas, Piaski bei Lublin, Auschwitz und 40 Transporten nach Theresienstadt wird das einstige Münchner Judentum ausgelöscht. Die Todesfrachten gehen vom Münchner Hauptbahnhof aus.
An einem warmen Sommertag, dem 17. Juli 1942, erhält Gerty Spies die unheilvolle Aufforderung zum Transport. Ihre Hoffnung, als sogenannte Privilegierte mit Kindern von einem protestantischen Ehemann vor der Deportation geschützt zu bleiben, ist dahin. Bis zur Deportation profitiert sie von diesem Status, obgleich sie sich bereits 1927 nach sieben Jahren Ehe hatte scheiden lassen. Der privilegierte Status bewahrt die geborene Gertrud Gumprich wohl davor, bereits in die 1941 eingerichteten Massenquartiere am Stadtrand Münchens einziehen zu müssen. So entgeht sie wahrscheinlich der ersten Deportation von 1000 Münchnern am 20. November 1941 nach Litauen. Allerdings muss sie Zwangsarbeit im Bruckmann Verlag leisten.
Drei Tage später wird sie aus ihrer Wohnung in der Schwabinger Destouchesstraße abgeholt. Vom Lager Milbertshofen aus, wo sie und die „zusammengewürfelte Gemeinschaft“ eine Nacht festgehalten werden, bringt sie ein geschlossener Möbelwagen zur Bahn. Auf einem Nebengleis werden sie verladen. Gerty Spies berichtete, dass sich aus den umliegenden Häusern Ferngläser auf sie richteten.[1] Der Zug führt sie
durch blühende Ortschaften, reifende Felder. Kirchtürme grüßten. Glocken läuteten, Wälder säumten die Straßen. … Der Morgen kam. Wie schön muß eine Landschaft sein, die selbst Verzweifelte ihr Los vergessen läßt.
„Das schwarze Kleid“, S. 24
Immer wieder wird Gerty Spies noch inmitten allen Unglücks die Perspektive nach außen suchen, die Natur wird zur Gegenwelt des nationalsozialistischen Terrors. Von Kindheit an ist sie naturverbunden. Ihre Familie, seit vielen Jahrhunderten im Rheinland ansässig, pflegt eine enge Beziehung zu Landschaft und Natur der heimatlichen Gegend.
Familiäre Wurzeln
Die Mutter, Charlotte Luise Kahn, stammte aus dem Rheinpfälzischen, in der, nach Auskunft von Gerty Spies, keine Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden gemacht wurden. Der Vater Sigmund Gumprich führte das von seinem Vater 1857 gegründete „Herren-Bekleidungs-Maaß-Geschäft“ in Trier weiter. Angesehener Bürger in der Stadt, war er zugleich ein bekannter Mundartdichter. In diesem jüdischen, nicht religiösen Haushaltkommt Gertrud am 13. Januar 1897 zur Welt.
Sie genießt die Erziehung einer sich assimilierenden deutsch-jüdischen Familie, die sich, charakteristisch für das jüdische Bürgertum, fraglos mit Deutschland und seiner Kultur identifiziert. Heimatpflege steht im Vordergrund. Bei der Geburtstagsfeier für Kaiser Wilhelm 1913 in Trier darf Gerty Spies öffentlich Gedichte vortragen. Ihr geliebter Bruder bezahlt wie andere 12.000 patriotische Juden seine Vaterlandsliebe im Ersten Weltkrieg 23-jährig mit dem Leben. Die Schönheit ihrer Geburtsstadt Trier und die heimatlichen Bilder bleiben ihr bis zu ihrem Tod eingeschrieben.
1929 zieht sie mit ihrer Tochter nach München in die Hohenzollern-, Ecke Wilhelmstraße, zwei Jahre später in die Bohème-Wohnung in der Destouchesstraße. Dort lebt sie bis 1967, allerdings mit der Unterbrechung von drei Jahren Theresienstadt.
Am 22. Juli 1942 kommt Gerty Spies bei Regenwetter ohne Gepäck in Theresienstadt an. Sie ist 45 Jahre.
Das Leben – Enge, Ungeziefer, Hunger, Zwang und Angst – alles war grauenvoll, das Dasein unerträglich, der Körper schwach, die Nerven zerrüttet, ein Weiterleben unmöglich.
„Drei Jahre Theresienstadt“
Sie leistet „kriegswichtige“ Akkordarbeit, die Furcht vor einem Weitertransport schwebt permanent über ihr.
Wohin? Plötzlich wird jäh die Tür aufgerissen! Licht brennt ins Auge. – Und ringsumher Heben sich Köpfe – – schläft keine mehr. Tödliche Stille – kein Laut – kein Wort. Peitschend zerreißt es die Spannung: – Transport! Schmale Zettel mit grünen Streifen – Wen wird er verlesen! – Wen wird es ergreifen! („Drei Jahre Theresienstadt“)
In Theresienstadt – Schreiben als Gegenmittel zur Lagerrealität
Dabei zeichnet Theresienstadt eine Sonderstellung aus. Es war kein Vernichtungslager wie Auschwitz oder Sobibor, sondern ein Vorzeigelager zu Propagandazwecken, ein „Ausstellungsgegenstand, Kulisse, und wir selber waren die Schauobjekte“.[2]
Dort, in der tiefsten Verzweiflung, erwecken der Schmerz und der Wille, sich der Barbarei entgegenzustellen, in Gerty Spies den Entschluss, zu schreiben. Sie denkt an ihren dichtenden Vater und an ihre eigenen Anfänge in München. Hier hatte sie bereits kurze humoristische Artikel und Gedichte geschrieben. Mit dem Schreiben entflieht sie der erbarmungslosen Lagerrealität. Sie verschafft sich wieder den Status Mensch. Zuerst sind es Kindergedichte, dann Gedichte, Tagebucheintragungen, autobiografische Texte.
Sie muss alles auswendig im Kopf behalten, Papier gibt es nicht. Kann sie etwas Packpapier im Packraum ergattern, werden die Gedichte länger. Es geht Gerty Spies nicht nur darum, „schreibend ihre Seele zu retten“ (Marie Luise Kaschnitz), sondern auch ums Künstlerische, „… das Höchste von mir zu fordern, was in den Grenzen meiner Begabung lag“. „Schreiben war Leben. Überleben.“ (Rose Ausländer). Stefan Zweigs unsterbliches Wort gibt ihr Halt:
Man kann ein Volk besiegen, aber nicht seinen Geist!
Es gelingt ihr, beim Schreiben die brutale Realität auszublenden und ein Stück Würde wiederzuerlangen. Ermutigt von der Dichterin und ihrer Mentorin, Elsa Bernstein alias Ernst Rosmer, eine vielgespielte Bühnenautorin, trägt sie ihre Gedichte vor. Sie beteiligt sich im Sommer 1944 am Wettbewerb für deutsche Gedichte. Unter den mehr als 3000 Einsendungen ist Gerty Spies unter den acht Prämierten.
Gerty Spies hat nicht nur Theresienstadt überlebt, sie geht daraus als Dichterin hervor. Ihr Gedichtband trägt denn auch die Verszeile: „Im Staube gefunden“. Einem Paul Celan oder einer Nelly Sachs gleich kreisen die Texte um die spezifische Problematik der Überlebenden – das erlittene, verlorene und wiederentdeckte Dasein, die Schuld, überlebt zu haben, und die Verpflichtung, die Toten lebendig zu halten.
Gerty Spies – Dichterin und Schriftstellerin im Nachkriegsdeutschland
Am 23. Juni 1945, einem Sonntagnachmittag, kommt Gerty Spies nach München zurück. Das noch stehende jüdische Altenheim in der Kaulbachstraße nimmt das Häuflein der ca. 160 Rückkehrer auf. Eines Tages, vor dem Postamt in der Leopoldstraße, läuft ihr plötzlich ihre Tochter in die Arme. Beide können nicht sprechen, nur weinen.
Es dauerte, bis Gerty Spies ins Leben zurückfindet. Wo und wovon leben? In ihrer Wohnung in der Destouchesstraße hat sich eine fremde Familie eingenistet. Sie kämpfte mit Hilfe eines amerikanischen Offiziers und erhält nach Monaten die Wohnung zurück. Sie war eine andere geworden, eine, die ein Stück Vernichtung in sich trägt.
Gerty Spies ist zurückgekehrt. Sie hätte auch in die USA auswandern können, 1949 mit ihrer Tochter und deren Familie. Sie bleibt, obwohl sie sich bewusst ist, „dass der Ungeist immer noch unter uns wühlt“. Sie ist Deutsche, so wie ihre Ahnen seit Jahrhunderten. Sie will sich ihre Heimat nicht ein zweites Mal rauben lassen. Sie braucht die Sprache. Nur hier können die mitgebrachten Texte verstanden werden. 1947 erscheint ihr erster Gedichtband „Theresienstadt“ im Freitag-Verlag. Sie hat einen prominenten Führsprecher: Hermann Hesse.
Es ist schön und hat etwas Versöhnendes, dass dieses Theresienstadt auch etwas so rein Dichterisches hervorgebracht hat.
Nicht alle Rezensenten sehen das so. Ein Kritiker im Tagesspiegel vom 12.7.1947 spricht von einer „billig spekulierenden KZ-Literatur“. Kaum hatten die Krematorien zu rauchen aufgehört, eine solche Stimme. 1983, als der BR die Sendung „Zeugin einer Schreckenszeit“ ausstrahlt, melden sich anonyme Anrufer bei Gerty Spies mit „himmelschreienden Rüpeleien“. Auch als sie 1986 den Schwabinger Kunstpreis erhält, fallen in der Jury die Worte:
Nur, weil sie in Theresienstadt war, muss sie doch noch lange keinen Literaturpreis bekommen!
Ihr Roman „Bittere Jugend“, Anfang der 1950er Jahre geschrieben, findet mit der Begründung „So schlimm sei es nicht gewesen“ keinen Verlag. Er kommt mit 50-jähriger Verspätung 1997 bei Brandes & Apsel heraus. Dabei ist Gerty Spies durchaus versöhnlich:
Ich kann das Land nicht hassen, wo ich soviel geliebt, gelacht, gebetet habe. Ich kann auch das Volk nicht hassen – trotz allem.
„Bittere Jugend“
Gerty Spies wird mit Eröffnung der Literaturhandlung 1982 regelmäßige Besucherin in der Fürstenstraße. 1984 erscheint ihre autobiografische Arbeit „Drei Jahre Theresienstadt“. Zu dieser Zeit sind Überlebensberichte noch spärlich. Sie liest daraus in der Literaturhandlung. Jedes ihrer Worte bleibt im Raum stehen, die Authentizität der Texte ist ergreifend.
1987 feiert die Literaturhandlung Gerty Spies‘ 90. Geburtstag. Ich überreiche ihr ein Geschenk: ein kartoniertes Heft, das ich einem Antiquitätenhändler abrang, der es angeblich auf dem Sperrmüll in Ebenhausen gefunden hatte. Es handelt sich um persönliche Aufzeichnungen von Gerty Spies‘ Vater. Welchen Weg haben diese Notizen aus Trier genommen, um ausgerechnet bei mir zu landen? Mehrere eingeschobene Fotografien der Familie fanden sich darin, auch Zeichnungen des gefallenen Bruders Rudi, der Maler hatte werden wollen. Welch ein Fund!
Zum 95. Geburtstag müssen wir wegen des Andrangs in die Kreuzkirche ausweichen. Ich kann ihr druckfrisch den von mir herausgegebenen Gedichtband „Im Staube gefunden“, Christian Verlag, übergeben, wo schon 1992 die Erzählung „Das schwarze Kleid“ erschienen war.
Gerty Spies hatte das Glück, mit Texten zu überleben. Aber wird sie und werden die vielen, für die sie spricht, gehört bleiben? Die meisten ihrer Texte sind vergriffen. Vieles Unveröffentlichte liegt vor.
Autorin: Rachel Salamander
Rachel Salamander studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität Germanistik, Romanistik und Philosophie. Nach ihrer Promotion gründete die Literaturwissenschaftlerin und Publizistin 1982 in München die erste Fachbuchhandlung für Literatur zum Judentum, die Literaturhandlung.
Von 2001 bis 2013 verantwortete sie als Herausgeberin die Wochenbeilage „Literarische Welt“ der Tageszeitung „Die Welt“. Von 2013 bis 2014 leitete sie in der Nachfolge Marcel Reich-Ranickis die „Frankfurter Anthologie“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und gründete das FAZ-Literaturforum. Seit 2015 ist sie stellvertretende Aufsichtsrätin in der Suhrkamp Verlag AG und Mitglied im Stiftungsrat der Alfred Landecker Foundation. Sie erhielt viele Auszeichnungen: u. a. das Bundesverdienstkreuz, den Bayerischen Verdienstorden, 2020 den Heinrich-Heine-Preis. Sie lebt in München und wurde 2019 Ehrenbürgerin der Stadt.
Veröffentlichungen unter anderen:
- Die Jüdische Welt von gestern. Text- und Bild-Zeugnisse aus Mitteleuropa. Wien, 1990.
- Zusammen mit Jacqueline Giere: Ein Leben aufs Neu. Das Robinson-Album. DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948. Wien, 1995.
- „Hier sehen wir das fürchterlichste Verbrechen…“ Vom deutschen Widerstand und der Judenverfolgung. München, 2000.
- Hans Jonas. Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Frankfurt, 2003.
- Zusammen mit Jutta Fleckenstein: Kurt Landauer. Der Präsident des FC Bayern. Lebensbericht und Briefwechsel mit Maria Baumann. Berlin, 2021.
- Heine und der deutsche Donner. Heine-Preis 2020. Sonderdruck, Berlin 2021.
Gerty Spies – Veröffentlichungen:
- Theresienstadt. Gedichte. München: Freitag-Verlag, 1947.
- Wie ich es überlebte. Ein Dokument. In: Hochland, 50. Jg., Nr. 4, 1958. S. 350–360.
- Drei Jahre Theresienstadt. [Lebenserinnerungen.] München: Kaiser, 1984.
- Im Staube gefunden. Gedichte. München: Kaiser, 1987.
- Das schwarze Kleid. Erzählung. München: Kaiser, 1992.
- Gedichte aus dem Konzentrationslager und aus den nachfolgenden Jahren. Deggendorf: Weiß, 1993.
- Bittere Jugend. Ein Roman von Verfolgung und Überleben im Nationalsozialismus. Hrsg. von Hans-Georg Meyer. Mit einem Nachwort von Sigfrid Gauch und autobiographischen Notizen von Gerty Spies. Frankfurt a. M.: Brandes und Apsel, 1997.
- Des Unschuldigen Schuld. Eine Auswahl aus dem Werk anlässlich der ersten Verleihung des Gerty-Spies-Literaturpreises der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz. Zusammengestellt von Dieter Lamping und Hans-Georg Meyer. Mainz: Landeszentrale für politische Bildung, 1997.
Lesetipp zur Mentorin Elsa Bernstein im Blog:
- Elsa Bernstein – tragisches Schicksal einer erfolgreichen Dramatikerin und berühmten Münchner Salonnière, Dr. Kristina Kargl (13.11.2020)
- Angela Aux: „Elsa Bernstein Reworks“ (4.12.2020)
* Das Monacensia-Dossier „Jüdische Schriftstellerinnen in München“ macht anlässlich „#2021JLID – Jüdisches Leben in Deutschland“ Leben und Wirken jüdischer Schriftstellerinnen in München sichtbar. Es dokumentiert literarische Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart. Ein Projekt im Rahmen von #femaleheritage.
Bisher erschienen:
- „Helena Janeczek: Essay zum Neuen Israelitischen Friedhof in München“ (26.10.2021)
- „Emma Bonn – Schriftstellerin und Dichterin: Aufbereitung einer Familiengeschichte“ von Katrin Diehl (30.09.2021)
- „Lena Gorelik: „Schreib doch mal, Lena“ – ein Essay über jüdisches Leben in München“ (27.07.2021)
- „Elisabeth Braun und andere verschwundene Frauen – Suchstrategien in der Frauenforschung“ von Lilly Maier (30.06.2021)
- „Regina Ullmann – Dichterin und Erzählerin: „Die Welt in dir / zerbricht nicht mehr“ von Dr. Lisa Jeschke (21.6.2021)
- „Die Schriftstellerin Carry Brachvogel (1864-1942) und die moderne Frau in der Literatur“ von Dr. Ingvild Richardsen (16.6.2021)
- „Jüdische Kinder hatten wir noch nie“: Dana von Suffrin über eine Familie in München – ein literarischer Beitrag zu #2021JLID (23.3.2021)
- „Erzählen gegen das Vergessen: Grete Weil“ von Prof. Irmela von der Lühe (19.3.2021)
[1] Gerty Spies, Drei Jahre Theresienstadt, (Ausgabe, Seitenangabe?) München, 1984, S. 34.
[2] Ebd., S. 72.
Monacensia im Hildebrandhaus
Maria-Theresia-Str. 23
81675 München
Öffnungszeiten: Mo – Mi, Fr 9.30 – 17.30, Do 12.00 – 22.00 | Ausstellungen auch Sa, So 11.00 – 18.00 | Eintritt frei
Besucht auch gerne die Cafébar Mona.
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