Frauen in der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts | #femaleheritage

Heute geht es um weitgehend vergessene Frauen in der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Anja Weinberger, Flötistin, stellt uns einige von ihnen in ihrem Beitrag zu #femaleheritage vor. So tauchen wir in Leben und Wirken von Mel Bonis, Cécile Chaminade, Louise Farrenc, Augusta Holmès und Pauline Viardot ein. Ein profunder Parforce-Ritt musikalischer Erinnerungskultur erwartet uns.

Porträt der Töchter von Catulle-Mendès am Klavier, Pierre-Auguste Renoir, Public domain, via Wikimedia Commons #femaleheritage
Porträt der Töchter von Catulle-Mendès am Klavier, Pierre-Auguste Renoir, Public domain, via Wikimedia Commons

So ein trockener Titel! Frauen in der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts!?

Aber auch nach sehr langem Grübeln ist mir nichts wirklich Besseres oder gar Treffenderes eingefallen. Diese Überschrift sagt eigentlich alles und vermutlich befürchtet der geneigte Leser, dass sich ein Großteil der kommenden Zeilen mit der Vernachlässigung der Frau in der französischen Musikgeschichte beschäftigen wird. Eigentlich ist das aber gar nicht mein Ziel. Eigentlich… 

Da ich selbst Musikerin bin – und eine Frau – hatte ich einfach Lust, diesen Biographien nachzuspüren. Von einigen der Damen habe ich selbst Musik gespielt, von anderen begeistert Werke gehört oder bin irgendwo auf ihre Namen gestoßen und wollte dann mehr über sie wissen.

Aber natürlich, durch ihre Geburt als Mädchen waren sie in vielen Bereichen des Lebens per se benachteiligt. Man wird jedoch auch lesen können, dass es Ausnahmen gab. Und ganz deutlich muss gesagt werden: Der Berufswunsch „Musiker“ sorgte in vielen bürgerlich-konservativen Familien der damaligen Zeit auch bei Söhnen nicht unbedingt für Begeisterungsstürme – da hat sich bis heute nur wenig geändert. Möglicherweise hatten Töchter in dieser Hinsicht sogar einen kleinen Vorteil, weil man ihnen, wenn finanziell möglich, bereitwillig Musik- oder auch Zeichenunterricht gewährte, um sie besser auf die Rolle der gebildeten, aber dilettierenden Ehefrau und Mutter vorzubereiten. 

Wenn ich bei den vielfältigen Recherchen der letzten Jahre etwas dazugelernt habe, dann vor allem, dass es von jeder Regel enorm viele und da wiederum die unterschiedlichsten Ausnahmen gibt. Oder noch besser ausgedrückt: kaum ein Leben passt in eine Schublade, da sind endlich mal alle gleich, egal ob Mann oder Frau.

Und los geht es.

Frauen in der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts

Louise Dumont aka Louise Farrenc: Pianistin und Komponistin

Am 31. Mai 1804 wird Louise Dumont geboren, hinein in eine Familie voller MalerInnen und Bildhauer. Sie bekam recht bald Klavier – und Solfègestunden und lernte so Ignaz Moscheles und Johann Nepomuk Hummel kennen. 15jährig konnte sie dann in die Kompositionsklasse von Anton Reicha am Pariser Conservatoire eintreten – außergewöhnlich war das für eine Frau oder eben ein junges Mädchen. Reicha war einer der angesehensten Kompositionslehrer dieser Zeit. 

1821 heiratete Louise schließlich den Flötisten und Musikverleger Aristide Farrenc und trug ab diesem Zeitpunkt jenen Namen, unter dem sie bekannt werden wird. Mit Aristide unternahm sie viele Reisen und ihr Ehemann unterstützte sie tatkräftig bei der nun beginnenden Karriere. Louise Farrencveröffentlichte erste Klavierwerke und überzeugte längst als Pianistin. 

Louise Farrenc (née: Jeanne-Louise Dumont) (1804-1875), französische Komponistin, Januar 1855. Foto: Bibliothèque nationale de France. Anonymous artist, Public domain, via Wikimedia Commons #femaleheritage
Louise Farrenc (née: Jeanne-Louise Dumont) (1804-1875), französische Komponistin, Januar 1855. Foto: Bibliothèque nationale de France. Anonymous artist, Public domain, via Wikimedia Commons

Ab den 1830er-Jahren entstand dann jene Orchester-und Kammermusik, die sie berühmt machen sollte. Sie hatte einen völlig eigenen Stil entwickelt, beschwingt und  elegant, der einerseits in der klassischen Tradition der Wiener Schule stand und andererseits durch ihre Forschung auf dem Gebiet der Alten Musik beeinflusst wurde. Zusätzlich war dieser Stil geprägt von ihrer Freude an ungewöhnlichen Instrumentierungen. Louises Werke wurden sehr bald international aufgeführt.

Ab 1842 hatte sie als erste Frau Europas über 30 Jahre lang eine Instrumentalprofessorenstelle für Klavier am 1795 gegründeten Pariser Conservatoire inne. Gerechterweise muss gesagt werden, dass sie sich die volle Bezahlung ihren männlichen Kollegen gegenüber erst erstreiten musste. Viele ihrer StudentInnen, darunter auch ihre eigene Tochter Victorine, zählten zur Crème-de-la-Crème der Klavierwelt. Die Trente Études op. 26 von Louise Farrenc wurden dann ab 1845 offizielles Lehrwerk an den Konservatorien von Paris, Brüssel und Bologna. 

Aristide Farrenc löste 1837 sein Verlagsgeschäft auf und gab ab da nur noch Werke seiner Ehefrau heraus. Hauptsächlich widmete er sich ab diesem Zeitpunkt nämlich der musikhistorischen Forschung und einer regen Sammeltätigkeit auf dem Gebiet der Alten Musik. Besonders viel Anklang fand in diesem Zusammenhang die von den Eheleuten Farrenc gemeinsam herausgegebene Klavieranthologie Le Trésor des pianistes, eine der ersten quellentreuen Ausgaben europäischer Musik für Tasteninstrumente des 16. bis 19. Jahrhunderts. 

Dazu muss man vielleicht noch zweierlei wissen: 

Musik von Bach oder auch Mozart tauchte damals kaum in den Programmheften auf. Erst in jener Zeit begann durch Musiker und Musikwissenschaftler wie eben die Farrencs eine Aufarbeitung der Musik des Barock und der Frühklassik, sowie das Nachdenken über eine historisch genaue Aufführungspraxis. 

Und zweitens –  im 18. Jahrhundert erschien das Hammerklavier neben dem bis dahin so gut wie alleine regierenden Cembalo. Die Musik für Tasteninstrumente schlug ab da einen neuen Weg ein. Louise Farrenc und ihre KollegInnen waren PianistInnen, keine CembalistInnen mehr. Wie die sogenannte Alte Musik zu spielen wäre, war deshalb damals eher unbekannt.

1859 starb dann die hochbegabte Tochter Victorine Farrenc mit nur 32 Jahren. Sie war Louises einziges Kind. Ab diesem Zeitpunkt findet man kaum mehr Presserezensionen, offenbar konzertierte Louise Farrenc nicht mehr, sondern widmete sich hauptsächlich der Edition, der Planung und Durchführung der Séances historiquesDiese Konzertreihe hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann ins Leben gerufen und man spielte dabei Werke aus dem Trésor des pianistes, die dem interessierten Publikum zum Teil auch erläutert wurden. 

Schließlich stirbt 1865 Aristide und Louise ist allein. Sie führt nun die Arbeit an den 23 Bänden des Trésor ohne Unterstützung zu Ende, unterrichtet bis 1872 am Conservatoire und stirbt 1875 mit 71 Jahren in Paris.

Pauline Garcia aka Pauline Viardot – Sängerin und Komponistin

1821 wird, ebenfalls in Paris, Pauline Garcia in eine bekannte spanische Sängerfamilie hineingeboren – es ist das Jahr, in dem Louise Farrenc ins Conservatoire eintritt. Schon Paulines Vater feierte Erfolge als Tenor und setzte mit seinem Können neue Maßstäbe. Auch ihr Bruder Manuel war Sänger und der wohl einflussreichste Gesangspädagoge dieser Zeit. Die 13 Jahre ältere Schwester Maria wurde bald unter ihrem Ehenamen Maria Malibran zur gefeierten Sopranistin und ersten Diva der Operngeschichte. Sie trat überall in der musikalischen Welt auf, verzauberte das Publikum und zog es geradezu magnetisch an. 

In diesem künstlerischen Umfeld also nahm Pauline zunächst Klavierunterricht und studierte, ebenfalls bei Reicha, Komposition. Erst nach dem frühen Tod der weltberühmten Schwester begann sie zu singen. 

1840, mit 19, heiratete sie den 21 Jahre älteren Schriftsteller, Kunsthistoriker, Theaterdirektor, Übersetzter (und in den ersten Jahren seines Berufslebens auch Juristen) Louis Viardot. Die beiden lernten sich durch George Sand kennen, einer Freundin Paulines, deren Scheidung Louis als Rechtsanwalt vorantrieb. 

Pauline Viardot-Garcia, berühmte Sängerin des 19. Jahrhunderts, Foto: Gemeinfrei
Pauline Viardot-Garcia, berühmte Sängerin des 19. Jahrhunderts, Foto: Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Eine glückliche Ehe führten die Viardots – zumindest meist – Louis liebte seine Frau sehr und unterstützte ihre Karriere mit aller Kraft.

Pauline Viardot, wie sie ab diesem Zeitpunkt hieß, hatte ihr Operndebut schon ein Jahr zuvor gegeben. Sie begeisterte das Publikum mit ihrem charismatischen Mezzosopran und mit einer ungewöhnlich eindringlichen darstellerischen Begabung. Pauline unternahm mehrmonatige Konzertreisen, bei denen auch viele ihre eigenen Kompositionen aufgeführt wurden. Dabei sang sie die Norma, natürlich auf Italienischaber auch Werke von Glinka und Tschaikowski auf Russisch. Meyerbeer komponierte für sie die Fidès in Le Prophète  – auf Französisch. Dazu kamen noch so unterschiedliche Komponisten wie Gluck und Verdi. Pauline Viardot war eine der vielseitigsten KünstlerInnen des 19. Jahrhunderts.

1863, mit erst 42 Jahren, zog sie sich fast ganz von der Bühne zurück und übersiedelte mit der Familie nach Baden-Baden. Dort unterrichtete sie und gab mit ihren Schülern und Kindern Konzerte und Opernaufführungen im kleinen, eher privaten Rahmen. Ein  eigens errichtetes Gartentheater und die von ihnen bewohnte Villa taugten dafür hervorragend. Paulines dortige Matinéen waren berühmt. 

  • Wilhelm und Auguste Victoria von Preußen, 
  • Otto von Bismarck, 
  • Artur Rubinstein, 
  • Franz Liszt, 
  • Richard Wagner, 
  • Theodor Storm, 
  • Iwan Turgenjew, der einige Jahre bei den Viardots lebte, 
  • und natürlich George Sand 

– sie alle waren da. Auch Paulines enge Freundin Clara Schumann kam und man spielte Chopin, Brahms – und natürlich Schumann.

Pauline widmete sich nun wieder verstärkt der Komposition. Die Aufführung ihrer fantastischen Operette Le Dernier Sorcier (Der letzte Zauberer) wurde 1869 von Johannes Brahms dirigiert. Im Gegenzug sang sie die Uraufführung seiner Alt-Rhapsodie. Unterdessen genoss Pauline auch als Gesangslehrerin einen ähnlich legendären Ruf wie schon Jahre zuvor ihr Bruder Manuel.

Zu Beginn des deutsch-französischen Krieges musste die Familie Viardot über London nach Paris zurückkehren. Auch dort führte Pauline wieder einen Salon, komponierte und unterrichtete bis zu ihrem Tode mit 88 im Jahre 1910.

Augusta Holmès – Pseudonym Hermann Zenta

1847 – da war Pauline Viardots Karriere schon in vollem Gange – wird, wiederum in Paris, Augusta Holmès geboren. Die Familie ist irischer Abstammung und erst 1871 fügte Augusta, nämlich als sie die französische Staatsbürgerschaft annimmt, ihrem Nachnamen den accent grave hinzu. Das hübsche Mädchen wuchs in Versailles auf. Dort dominierte die Militärmusik und so war sie vor allem von Blasinstrumenten umgeben. Möglicherweise ist auch das ein Grund, warum sie später bei Instrumentierungen sehr gerne auf opulente Bläserbesetzungen zurückgreifen wird. 

Augusta war nicht nur hübsch, sondern auch ein sehr talentiertes kleines Mädchen. Sie erlernte früh mehrere Sprachen und machte im Klavierspiel sehr schnell sehr große Fortschritte. Schon für ihre ersten selbstkomponierten Lieder konnte sie eigene Texte verwenden. 

Die Aufnahme am Conservatoire de Paris wurde ihr jedoch verweigert, möglicherweise wegen der irischen Staatsbürgerschaft. Anders kann man sich diese Tatsache nicht erklären, denn zu jener Zeit war ja schon Louise Farrenc Klavierprofessorin und hatte durchaus weibliche Studenten. Vielleicht fehlten Augusta passende Fürsprecher? 

Augusta Holmès, Photographer uncredited, Public domain, via Wikimedia Commons #femaleheritage Frauen in der französischen Musikgeschichte
Augusta Holmès, Photographer uncredited, Public domain, via Wikimedia Commons

Holmès konnte schließlich bei dem Organisten Henri Lambert Tonsatzunterricht nehmen und lernte Orchestrierung bei Hyacinthe Klosé. (Ein kleiner Einschub besonders für die Flötisten unter uns: Klosé, seinerseits Klarinettist und Professor am Konservatorium, war derjenige, der gemeinsam mit Louis Auguste Buffet das geniale System Theobald Böhms von der Flöte auf die Klarinette übertrug.) 

Privaten Kompositionsunterricht gab ihr dann – endlich – César Franck.

Schon ab diesem Zeitpunkt erregte ihre sonore Altstimme, mit der sie häufig eigene Lieder interpretierte, in den Pariser Salons für Aufsehen. Auch als Pianistin war sie häufig anzutreffen, sogar im Ausland. Zu dieser Zeit wurden manche ihrer Werke unter dem Pseudonym Hermann Zenta herausgegeben, vermutlich um zu verschleiern, dass sie eine Frau war.

Wagner beeindruckte Augusta immens. Sie reiste sogar nach München, um bei der Uraufführung des Rheingold dabei sein zu können. Vor allem aber übernahm sie für sich das Ideal des Dichterkomponisten – in den meisten ihrer Werke sind davon Spuren zu finden.

Augusta Holmès blieb unverheiratet, lebte jedoch mit Catulle Mendès in wilder Ehe. Das Paar hatte fünf Kinder. Ein bekanntes Bild von Auguste Renoir mit dem Titel Porträt der Töchter von Catulle Mendès zeigt drei der gemeinsamen Töchter am Klavier.

Zur Hundertjahrfeier der französischen Revolution wurde Augusta dann mit einem Werk beauftragt. Es entstand die Ode triomphale en l’honneur du Centenaire de 1789, die im Palais de l’Industrie zur Weltausstellung 1889 uraufgeführt wurde. Besetzung: Solo-Sopran, gemischter Chor mit 900 Sängern, Orchester (300 Musiker) – ein gigantisches Spektakel.

1895 hatte sie ihren größten Erfolg mit der Oper La Montagne noire, die im Palais Garnier aufgeführt wurde. 

Auch ihre besondere kompositorische Stimme half der französischen Nationalmusik heraus aus der Verstrickung mit dem Wagnerism. Hilfreich scheint da auch der begeisterte Einsatz von Blechblasinstrumenten und Orchestertutti gewesen zu sein.

Auch nach Augusta Holmès‘ frühem Tod im Jahre 1903 blieben ihre Werke ein regelmäßiger Bestandteil des Pariser Musiklebens. Erst nach dem 1. Weltkrieg und der beginnenden Umorientierung im Musikästhetischen geriet ihre Musik langsam aber sicher in Vergessenheit.

Cécile Chaminade – „Salonmusik“ und Chaminade-Clubs

1857, nur 10 Jahre nach Augusta Holmès, wird Cécile Chaminade in Paris am Fuße des Montmartre geboren. In ihrer Familie finden wir hauptsächlich Offiziere und Seeleute, nur der Vater gehörte zum gehobenen Bürgertum. 

Die Mutter, eine Pianistin, unterrichtete das kleine Mädchen zunächst selbst. und chnell stand fest, dass hier eine besondere Begabung gepflegt werden musste. Die Achtjährige spielte bald George Bizet vor, der sie als „Petite Mozart“ titulierte. In der Folgezeit konnte Cécile auch privaten Unterricht nehmen in Harmonielehre und Kontrapunkt. Einige sehr frühe geistliche Werke existieren von Cécile Chaminade, da war sie noch keine 10 Jahre alt, und mit 11 erschienen zwei ihrer Mazurken für Klavier im Druck. 

Cécile Chaminade, aus: What We Hear in Music, Anne S. Faulkner, Victor Talking Machine Co., 1913. #femaleheritage
Cécile Chaminade, aus: What We Hear in Music, Anne S. Faulkner, Victor Talking Machine Co., 1913. Wikimedia Commons

Mit 18 Jahren gab Cécile schließlich ihr erstes Konzert. Zwei Jahre darauf trat sie in der berühmtenSalle Pleyel in Paris auf. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt wurden auch ihre Kompositionen immer beliebter. Eines zeichnet nämlich die Musik Cécile Chaminades vor allem anderen bis heute aus: sie gefällt sofort, beim allerersten Hören, ist aber niemals trivial. Öfter kann man das abwertend gemeinte Wort „Salonmusik“ vernehmen, jedoch wird man ihrem Werk damit überhaupt nicht gerecht. Vielmehr hatte sie das seltene Talent, 

  • Wohlklang mit durchaus virtuosen Passagen zu verbinden 
  • und konnte auch sehr treffende Charakterstücke und lautmalerische Lieder schreiben.

Nun wurde sie aktives Mitglied der Société nationale de musique, in deren Konzerten einige ihrer Kompositionen aufgeführt wurden. 1891, da war sie 34 Jahre alt, erschien ihr erfolgreichstes Lied L’Anneau d’argent (Der Silberring) in einer Auflagenhöhe von beeindruckenden 200.000 Stück.

Nach früheren Konzertreisen durch Frankreich, die Schweiz, Belgien und Holland fand ihr englisches Debut schließlich 1892 statt. Dort, in England, wurde Cécile besonders große Verehrung entgegen gebracht. Sie spielte mehrmals für Queen Victoria, die sie sogar dazu aufforderte, einige Tage in Windsor Castle zu verbringen. Ihre häufig extravagante Kleidung wurde von den englischen Fans gerne imitiert. 

Nun trat sie in den Ländern des Balkans, in der Türkei, Griechenland und schließlich den USA auf, wo sie nicht nur in der New Yorker Carnegie Hall von ihrem Publikum euphorisch gefeiert wurde – man gründete Chaminade-Clubs, handelte mit Chaminade-Souvenirs.

Einer Ehe stand Cécile zunächst sehr skeptisch gegenüber, denn ihr war bewusst, dass ihr Leben der Musik gewidmet war und ein Ehemann möglicherweise andere Vorstellungen vom Miteinander haben könnte. Erst 1901, da war sie bereits Mitte 40, traf sie den um einiges älteren Musikverleger Louis-Mathieu Carbonel. Mit ihm verbrachte sie sechs sehr glückliche Jahre bis zu seinem Tod.

In diese Zeit fällt auch eine Auftragskomposition für das Pariser Konservatorium. Das Concertino op.107 für Flöte von Cécile Chaminade entsteht 1902. Jeder Flötist kennt und liebt es – bis heute. 

1913 wurde sie als erste Komponistin überhaupt in die Légion d’Honneur aufgenommen. Da begann ihr Stern bereits zu verblassen. Nur in England war sie noch einige Zeit sehr präsent. 

Die Erfahrungen des 1. Weltkrieges haben Cécile schließlich verstummen lassen. 1914 übernahm sie die Leitung eines Krankenhauses für verwundete Soldaten, arbeitete dort hart und wurde letztendlich selbst krank. Zum Komponieren kam sie nur noch nachts. Und dann, nach dem Krieg, war ihre Art zu schreiben nicht „modern“ genug. Ihre meist kurzen Klavier – und Salonstücke passten nicht mehr in die Zeit. Frankreich „klang“ nun anders, eine neue Generation mit neuen Ideen stand in den Startlöchern. Cécile Chaminade komponierte nur noch relativ wenig, hauptsächlich Klaviermusik. 1937 ließ sie sich in Monte Carlo nieder, wo sie 1944 einsam starb.

Mélanie Bonis – Pseudonym Mel Bonis

Nur ein Jahr nach Cécile Chaminade wird 1858, ebenfalls in Paris, Mélanie Bonis in eine katholische Handwerkerfamilie geboren. Ihr musikalisches Talent wurde in der nicht besonders liebevollen familiären Umgebung kaum bemerkt und deshalb natürlich  auch nicht gefördert. Dementsprechend erwarb sie die ersten musikalischen Fähigkeiten während ihrer Kindheit autodidaktisch. 

Schließlich bekam Mélanie Klavierunterricht. Die Eltern hofften nämlich, dass sich ihre Chancen auf dem Heiratsmarkt dadurch erhöhen könnten. Mit 18 wurde sie so Schülerin von César Franck. Dieser war von ihrem Talent dermaßen begeistert, dass er dringend empfahl, die Aufnahmeprüfung für das Konservatorium zu versuchen. Unter den kritischen, ja zweifelnden Augen des Elternhauses bestand sie – natürlich – und studierte dann sehr erfolgreich in einer Klasse mit Debussy und Pierné. Sie errang mehrere Preise und arbeitete fleißig. Als sie sich schließlich in einen Kommilitonen verliebte, beendeten die Eltern Mélanies Ausbildung abrupt und nahmen sie gegen den Widerstand der Lehrervom Konservatorium. 

Mel Bonis, gemalt von Charles-Auguste Corbineau (1835-1901), Public domain, via Wikimedia Commons. Frauen in der französischen Musikgeschichte #femaleheritage
Mel Bonis, gemalt von Charles-Auguste Corbineau (1835-1901), Public domain, via Wikimedia Commons

1883 wurde sie zur Heirat mit dem zweifach verwitweten und 22 Jahre älteren Industriellen Albert Domange gedrängt, der 5 Söhne mit in die Ehe brachte. Die Pflichten einer Hausfrau und Stiefmutter verhinderten für die kommenden Jahre weitere Kompositionen. Mélanie selbst schenkte bis 1898 drei weiteren Kindern das Leben. Und: Monsieur Domange hatte keinerlei Interesse an Kunst und Musik – er wollte lediglich eine funktionierende Ehefrau und Mutter. So lebte Mélanie viele Jahre lang ein sehr bourgeoises Leben zwischen Paris und den Badeorten der Normandie.

In den 1890er-Jahren traf sie durch Zufall ihre Jugendliebe Amédée Hettich wieder. Dieser war Musikkritiker und Gesangslehrer geworden und spielte eine wichtige Rolle im Pariser Musikleben. Selbst auch verheiratet, unterstützte er sie energisch bei den Versuchen, wieder in der männlich geprägten Musikwelt Fuß zu fassen. 

1899 brachte Mélanie heimlich Hettichs Tochter Madeleine zur Welt, die versteckt aufwachsen musste. Ihre Musik hatte sich in dieser Zeit geändert, wurde emotionaler und bildete verstärkt ihr Innenleben ab. Denn Mélanie kämpfte mit ihren religiösen Überzeugungen und konnte sich diese doppelte Sünde des Ehebruchs und der geheimen Geburt selbst nie verzeihen. Erst während des 1. Weltkrieges war es ihr endlich möglich, die Tochter zu sich nehmen – allerdings nur unter der Schutzbehauptung, Madeleine wäre ein Waisenkind.

Durch das geschlechtsneutrale Pseudonym Mel Bonis versuchte Mélanie ihre Karriere zu beschleunigen. Zwar gab es unterdessen einige professionelle Pianistinnen, das Kompositionshandwerk lag jedoch nach wie vor fest in Männerhand. Ab 1900 schrieb  sie wieder mehr und in den kommenden knapp 20 Jahren sollten nun ihre wichtigsten Werke entstehen. Ihre sinnliche, leidenschaftliche, aber nie überladene Musik kam sehr gut an, fand bei Kollegen (v.a. wissen wir das von Fauré, Debussy, Kœchlin, Pierné) sehr großen Beifall und wurde von den berühmtesten Interpreten der Zeit gespielt. Die Form ist meist streng. Jedoch wird diese Strenge überlagert von einer außerordentlich einfallsreichen Melodik und von exquisitem harmonischen Verständnis. Auch bei der Instrumentierung zeigte Mélanie verblüffenden Einfallsreichtum. 

Sie erhielt mehrere Kompositionspreise und wurde Mitglied der Société des Compositeurs, zeitweise sogar deren Schriftführerin. Ihre Werke wurden herausgegeben von namhaften Verlagen wie Leduc und Max Eschig. Mélanie war sehr bescheiden, sprach ungern über ihr Werk, bewarb es selbst kaumund drängte sich nie in den Vordergrund. 

1918 starb ihr Ehemann, mit dem sie 35 Jahre verheiratet war und 1932 verunglückte der jüngste Sohn. Schwer depressiv, konnte sie den Kampf zwischen Konvention und Ambition kaum aushalten, hervorgerufen durch:

  • ihre bürgerlich-strengkatholische Erziehung und die Flucht in die Religiosität einerseits;
  • ihren Drang zu komponieren, der „Fehltritt“ mit Hettich und ihre nicht zur Ruhe kommenden Schuldgefühle andererseits. 

Viele Jahre ihres Lebens waren überschattet von diesen Depressionen.

Momentan erfährt Mel Bonis‘ Werk nach rund sechzigjähriger Vergessenheit eine Renaissance. Sie gilt als eine der bedeutendsten KomponistInnen im Frankreich der Jahrhundertwende. Man findet ihre Musik immer wieder in Kammermusikprogrammen. Zudem zeigt die Fantaisie für Klavier und Orchester, dass auch große Besetzungen für Mélanie kein Problem dargestellt hätten. Wie schade, dass sie keine weiteren Orchesterwerke hinterlassen hat. 

1937 stirbt Mélanie Bonis mit 79. Durch ihr recht hohes Alter waren ihre letzten Jahre geprägt von künstlerischer Isolation. Denn den Weg hin zur neueren Musik ist sie nicht mitgegangen. Auch der Körper ließ sie am Schluss im Stich. Sie verbrachte die meiste Zeit im Liegen. Ihre letzte Freude: Bis zum Ende hatte sie engen Kontakt zu ihrer jüngsten Tochter Madeleine.

Abschließende Überlegungen

Nun sind wir in der Zeit um den 2. Weltkrieg angekommen. Die Belle Époque und die Années Follessind über Paris hinweggefegt. Viele weiteren Künstlerinnen haben ihr Können und ihre künstlerische Produktivität  in die Waagschale geworfen. Zeit, für ein kleines Fazit.

Warum sind die Werke dieser und anderer  Musikerinnen so selten zu hören? Das ist eine  Frage, die uns völlig ratlos zurücklässt. 

Und eine – vielleicht subjektive – Beobachtung meinerseits stelle ich direkt daneben: Wer in Musik- oder Kunstnachschlagewerken blättert, muss feststellen, dass der Anteil der dort aufgelisteten Frauen winzig ist. Oft findet man selbst Namen von einflussreichen und eigentlich bekannten Künstlerinnen nicht

Und Folgendes ist auf jeden Fall eine – objektive – Tatsache: Hätte nicht die Frauenbewegung aktiv an Mel Bonis‘ Wiederentdeckung gearbeitet, dann wäre diese wundervolle Musik auch heute noch für uns alle verloren.

Hier schließt sich also der Kreis. Ich nehme meine anfängliche Bemerkung zurück und definiere mein Ziel neu.

Autorin: Anja Weinberger

Vielen herzlichen Dank für diese tiefen Einblicke in die französische Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die vorgestellten Musikerinnen eröffnen uns spannende Impulse für vergessene Frauen in der Erinnerungskultur – merci dafür!

Gerne verweisen wir, da thematisch verwandt, auf folgende Beiträge zur Blogparade:

Autorin: Anja Weinberger

Anja Weinberger
Anja Weinberger

Anja Weinberger ist Flötistin. Sie macht v.a. Kammermusik in den unterschiedlichsten Besetzungen und unterrichtet. Über 50 Werke sind ihr und ihren Ensembles unterdessen gewidmet. V. a. ist da das Projekt „Vom Himmel hoch…“ zu erwähnen. Weltweit haben KomponistInnen für Anja Weinberger bekannte Advents – und Weihnachtslieder variiert, paraphrasiert oder neue Gedanken hinzugefügt. Ein buntes Sammelsurium neuester Literatur ist so entstanden.

Projekt „Vom Himmel hoch …“ mit Adaption für Flöte Solo und Band 2 dazu.

Außerdem schreibt Anja Weinberger für den Kulturblog DER LEIERMANN.

KONTAKT:
anja.weinberger{ed}yahoo.de


Literatur:
  • Borchard, Beatrix:  Pauline Viardot-Garcias: Fülle des Lebens, Köln/Weimar/Wien 2016
  • Fauser, Annegret: Holmès, Augusta, MGG online 2020
  • Furchert, Nicolas: Eine Priesterin der Musik, online 2020
  • Géliot, Christine: Mel Bonis, Kassel 2015
  • Heitmann, Christin: Farrenc, Louise, MGG online
  • Kesting, Jürgen: Die großen Sänger , Düsseldorf 1986
  • Kraus, Beate Angelika: Eine Frauenkarriere in Beethovens Heiligtum?
  • In: Louis Farrenc und die Klassik-Rezeption in Frankreich, Oldenburg 2006
  • Lücker, Arno: 250 Komponistinnen. Folge 54:Die Extremistin, online 2020
  • Launey, Florence: Domange, Mélanie, MGG online 2021
  • Rieger, Eva: Cécile Chaminade, in: FemBio online 2020
  • Rieger, Eva: Louise Farrenc, in: FemBio online 2020
  • Schneider, Herbert: Chaminade, Cécile, in MGG online 2021
  • Wigbers, Miriam-Alexandra: Johannes Brahms und Pauline Viardot, Tutzing 2011

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2 Kommentare zu “Frauen in der französischen Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts | #femaleheritage

  1. Sehr interessant und lesenswert auch z.B. für Musikschulen und Musische Gymnasien!! Man muss das Ministerium darauf aufmerksam machen!

  2. anja weinberger on 27/01/2021 at 7:54 am sagt:

    Danke schön.
    Ja, leider sind die Lehrpläne an Schulen ähnlich „maskulin“ wie die meisten Nachschlagewerke.
    Aber zum Glück gab es schon immer Lehrerinnen, die uns geprägt haben.

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