Dr. Karen Fletcher ist eine wundervolle Psychotherapeutin: warmherzig, zugewandt und humorvoll, aber auch sehr klar und – nicht zuletzt – fachlich brillant. Sie hat sich in ihrer Arbeit auf Klienten spezialisiert, die als Reaktion auf traumatische Erlebnisse eine multiple Persönlichkeitsstörung entwickelt haben.
Dr. Fletcher hat in Fachkreisen einen Namen, vertritt dort aber eine umstrittene Position: Fasziniert von den besonderen Fähigkeiten dieser Menschen ist sie überzeugt, dass mit dem Persönlichkeitswechsel auch einschneidende körperliche Veränderungen möglich sind.
Wir erleben Dr. Fletcher im Gespräch mit Barry, einem sanften jungen Mann, der sich für Mode und schöne Dinge begeistert. Sie weiß, dass Barry eigentlich Kevin Wendell Crump heißt und mindestens 23 (!) Persönlichkeiten in sich beherbergt, die in einer Art innerer Konferenz Absprachen treffen und darüber entscheiden, wer von ihnen nach außen sichtbar wird. Sie selbst hat nur einige dieser Persönlichkeiten kennen gelernt.
Mehrfaches Spiel – auf beiden Seiten
Was sie nicht weiß: Dennis, eines von Kevins alter egos, hat nach einer Geburtstagsparty drei junge Mädchen gekidnappt und hält sie in einem riesigen Keller gefangen. Für uns als Zuschauer entwickelt sich die Story nun auf zwei Ebenen:
Da sind die drei in einem Albtraum gefangene Mädchen, denen Kevin verstörenderweise in ganz unterschiedlichen „Rollen“ gegenübertritt. Zwei der Mädchen sind behütete Collegegirls, die zwischen Hysterie und blindem Aktionismus hin- und herkippen. Die dritte, Casey, agiert überraschend überlegt, oft fast kaltblütig – im Lauf der Geschichte werden wir erfahren, wo und warum sie gelernt hat, durch gespieltes Wohlverhalten gegenüber dem Täter zu überleben, um im entscheidenden Moment zuzuschlagen. Die Entführung zieht sich über Wochen hin, mehrere Ausbruchsversuche, die dem Zuschauer fast ebenso an den Nerven zerren wie den Mädchen, werden von dem Entführer vereitelt und grausam sanktioniert.
Parallel dazu sind wir Zeugen der Therapiesitzungen. Dr. Fletcher spürt, dass etwas nicht stimmt, dass Persönlichkeitsanteile zu ihr durchzudringen versuchen, die „Barry“ um jeden Preis unter Verschluss halten will. Und sie fragt sich, was es mit der „Bestie“ auf sich hat, von der ihr Patient in letzter Zeit gedanklich geradezu besessen scheint. Eine 24. Persönlichkeit? Eine personifizierte Rachefantasie, die mit dem Verrat seines Vaters zu tun hat? Als Dr. Fletcher die Wahrkeit erkennt, ist es für einige der Beteiligten schon zu spät …
Dreh ins Surreale
„Split“ ist ein intelligenter Thriller mit einem wirklich originellen Plot voller unerwarteter Wendungen und einem Dreh ins Surreale – nervenzehrend spannend und nichts für ganz zarte Gemüter. Und mit James McAvoy in der Hauptrolle hat Regisseur M. Night Shyamalan („The Sixth Sence“, „The Visit“) einen Glücksgriff getan: McAvoy ist der androgyne Barry, der toughe Zwangsneurotiker Dennis, die Frau Patricia, der neunjährige Junge Hedwig mit dem kleinen Sprachfehler – bis hinein in jede Bewegung, in Sprache und Stimme (tolle Synchronleistung: Johannes Raspe).
By the way: Mit „Glass“ kommt im Januar 2019 eine Fortsetzung von „Split“ in die Kinos. Und dann erfahren wir wohl auch, was es mit dem Cameo-Auftritt von Bruce Willis in der Schussszene von „Split“ auf sich hat, der eine Verbindung zu Shyamalans Mystery-Thriller „Unbreakable“ andeutet …
Split. Regie und Buch: M. Night Shyamalan. Mit: James McAvoy, Anya Taylor-Joy u.a. USA, 118 Min, FSK 16
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