Feridun Zaimoglu – Nicht dabei im München der 1980er | #PopPunkPolitik

Feridun Zaimoglu wuchs in Moosach im Nordwesten Münchens auf. Für unsere Artikel-Serie* zur Ausstellung POP PUNK POLITIK – Die 1980er Jahre in München erinnert sich der Schriftsteller an seine Kindheit zwischen Vaterunser und Eröffnungssure des Korans, zwischen Kniehöslern und Knöchelhöslern. Und als sich in den 1980ern ein Umbruch andeutet, sieht der Junge seinen Eindruck nur bestätigt: Moosach war wirklich, das entfernte München nur ein Gerücht.

Feridun Zaimoglus Moosach in den 1980ern: der St.-Martins-Platz und die Pfarrkirche St. Martin
Feridun Zaimoglus Moosach in den 1980ern: der St.-Martins-Platz und die Pfarrkirche St. Martin.
Foto aus „Moosach – Geschichte und Gegenwart“ von Volker D. Laturell u. Georg Mooseder, 1993, S. 52

„Nicht dabei“ von Feridun Zaimoglu

In Moosach bin ich großgeworden. Früh lernte ich, dass der Radi und das Radieserl zur Brotzeit aufs Holzbrettchen gehörten, und dass der Münchner, wenn er nach dem Frühstück und vor dem Mittagessen die Zwischenmahlzeit nahm, dem Almhirten nacheiferte. Was nutzte mir das Wissen? Der Senner kräftigte sich nach einer harten Arbeit, der Städter aber langte zu, weil‘s Brauch war, und weil er gerne soff.

Ich begriff: Man machte viel Wind um das Alte, doch das Alte machte rote runde Köpfe und bleiche pralle Wampen. Ich begriff: Heimat waren nicht nur Berg und Enzian, waren nicht nur Geweihstange und Wildschütz, sie war auch der Wille, dem guten Brauch zu folgen, auch wenn man zu einem dicken Wachtelhahn anschwoll.

Ich aß weder den weißen noch den roten Schwartenmagen. Ich zuzelte nicht die Weißwurst auf dem Pappteller. Ich war kein Kleinkind mehr und wünschte mir doch Wohlstand: echtes dunkles Nougat, statt dicker heller Konfektmasse vom Discounter. Es hieß, man würde von Moosach schneller nach Dachau kommen als zur Feldherrnhalle am Odeonsplatz. Das stimmte nicht; ich glaubte es, ich glaubte es dem Großvater eines Spielkameraden, der feierlich in seine Börse griff und mir das Porträtfoto eines Mannes mit einem Fetzenbärtchen unter der Nase zeigte. „Der da“, sagte der Großvater, „hat schon was Großes geschafft, erst in München, dann im Reich.“ Ich begriff erst viele Jahre später: Nicht alle Hitleristen waren Münchner, es gab in ihren Reihen auch Ingolstädter.

Münchens abgewandte Seite

In Moosach lebte man auf der abgewandten Seite der Stadt, und tatsächlich waren ich und meine Schul- und Spielkameraden ein Haufen von Abgewandten, der Wind trug uns aus den feinen Vierteln Gespenstergeläut zu, wir hatten keine geputzten Schnäuzchen, und doch erstarrten wir oft trotz der Speichelklümpchen in den Mundwinkeln und bewegten die Lippen im Gebet. Die einen beteten das Vaterunser, die anderen die Eröffnungssure des Korans. Unsere Väter hatten alle behaarte kräftige Unterarme. Unsere Mütter schminkten sich nicht so grell wie die Arbeiterfrauen und nicht so dezent wie die Bürgerfrauen. Wir trafen uns im Park an der Karl-Lipp-Straße, wir folgten den Halbstarken zum Kaugummiautomaten.

Erst griff der Leitrüde zum Plastikkamm in der Arschtasche, kämmte sich das gelglatte Haar hinter die Ohren, steckte den Kamm in die Tasche, als würde er lässig seinen Revolver in das Holster schieben. Dann hielt er die Feuerzeugflamme an das kleine Plexiglas-Sichtfenster, bis es schmorend verschwärzte. Das war nichts zum Lachen. Wer dabei feixte, bekam eine harte Maulschelle, dass ihm fast das Gesicht zersprang.

In dieser unserer Welt gab es hinnehmbare Verluste. Wir mussten hinnehmen, dass der Automat kaputtging. In dieser unserer Welt gab es aber auch Mädchen mit Zahnspangen, die wir vergeblich anlächelten, sie lächelten nicht, sie blieben ernst. Ich war nicht ausländisch, in keinem einzigen Gedanken in meinem Kopf. Was dachte ich in Moosach? Ich starrte auf die venezianische Gondelleuchte im schweren, polierten Vitrinenschrank im Wohnzimmer. Ich starrte auf die große Messingkuhglocke mit Zierband. Ich begriff: Sie waren Schmuckstücke in der guten Stube, man staubte sie ab, man rieb Glanzlichter in die Möbel und trotzte tapfer der Bitternis.

Moosach in einer Luftaufnahme von 1982 aus dem Buch „Moosach – Geschichte und Gegenwart“ von Volker D. Laturell u. Georg Mooseder
Moosach in einer Luftaufnahme von 1982 aus „Moosach – Geschichte und Gegenwart“ von Volker D. Laturell u. Georg Mooseder, Foto: Stadtbildstelle München von Karl Schillinger, 1993, S. 103

Auf der Suche nach dem guten Ort

Draußen lebten wir Abgewandten ein sonderbar halbtaugliches Leben: Ein Mädchen riss sich eine Wimper aus, legte sie auf den Handrücken, machte die Backen dick und blies, als wollte sie elf Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte ausblasen. Sie sagte: „Jetzt wird mein Wunsch wahr. Jetzt werd‘ ich den Pickel los.“ Ein Kamerad zerrieb eine Pferdebremse zwischen den Händen, und er versprach, demjenigen fünf Mark auszuzahlen, der ihm die Hand ableckte. Ich sah die Fliegenbeine am Handteller, ich ging weg. Ein Junge legte in der Pause die gespreizte Hand auf die Schulbank und stach mit dem Zirkeldorn in die Hautfalte zwischen Zeige- und Mittelfinger: Er wollte leiden wie Christus. Ich lächelte nicht, ich blieb ernst: In Moosach glaubte man an Gott und an seine Propheten. Die Lästerung war ein Verfall, eine ehrlose Tat, man verhielt sich unehrbietig, wenn man den Herrn vergaß.

Ich hatte keine maskulinen Träume: Ich träumte von kleinen, halb verwesten Tieren in Zimmerecken, die ihre Zähne zermahlten beim leisen Winseln. Ich mahlte mit den Zähnen, wenn ich mit ihnen sprach. All das hielt ich geheim, all das behielt ich für mich, genauso wie die andern ihre Heimlichkeiten vor fremden Blicken verbargen. Gelegentlich hielt es einer nicht aus und sagte: „Wo geht‘s lang zum guten Ort?“ Wir sagten: „Ein Stück weiter.“

Moosach war wirklich, München nur ein Gerücht. Wer ein Fremdwort sprach, hurte mit den Lippen, dem gab man was auf den Mund, dass er wieder deutsch und inländisch wurde. Nur Rentner, Witwer und Witwenschüttler trugen einen Siegelring. Nur Bürgersöhnchen trugen die speckige Krachlederne, wir nannten sie Kniehösler, wir waren die Knöchelhösler, wir trugen lang.

Moosacher Klassenkämpfer mit Slawenhaken

Dann aber hieß es in den 1980ern: Es wird alles anders. Es kamen die Klassenkämpfer herbei, sie hatten große breite Schnurrbärte, die man im Viertel Slawenhaken nannte. Für diese heftig schwadronierenden Männer bewegten wir uns außerhalb der Bedingungen unserer Klasse. Sollten wir für glorreiche Schlächter schwärmen, nur weil durchgeknallte Studenten ein erneutes Mal die Räterepublik ausrufen wollten? Nicht hier, nicht in Moosach, vielleicht im Rest-München.

Es roch plötzlich alles nach Geschlechtlichkeit. Uns schauerte vor den Allesfressern der Moderne. Ich sah geschminkte Männer in rosa Rundkragenpullovern. Ich sah Jungs, die ihre Augenringe und Pickel abdeckten. Plötzlich waren die Bettgeschichten wichtiger als die Geschichte. Ich staunte nicht schlecht über den Putsch der Bürgerkinder: Das Bessersein wurde über die bessere Garderobe möglich. Es sahen viele Männer aus wie zweite Oberkellner in der Freizeit. Wir hörten von rauschenden Festen in alten Abfüllhallen, in Discotheken unter Eisenbahnbrücken, in Lofts von angeranzten Playboys. Kleine Menschen spielten große Welt. Wir hatten dort nichts zu suchen.

Ich sah Sekten-Missionare im Schatten von Pappeln fremde Hohelieder schreien. Ich sah, wie Drogendealer auf Privatfeten johlend willkommen geheißen wurden. Der Irrsinn kam näher. Der geldgierige Guru brachte kein Glück. Koks und Heroin brachten kein Glück. Es war mir unverständlich, wie man Wirklichkeit erkannte. Ich verstand nicht, wenn ein Mann mir sagte, er tue dies oder das aus bloßem Zeitvertreib. Was am Tage geschah, gerann in der Nacht zum Seelenschmerz. Frostperlen an den Dachschindeln und Fassadenplatten.

Und ich ging herum. Und ich dachte, die Dackel würden über ihre Zunge stolpern, die lang und feucht bis fast zum Pflaster herunterhingen, ich sah die tropfenden Zungen der Rauhaardackel der Witwer und Witwenschüttler, und ich sah den einen oder anderen jäh innehalten, dass sich die Leine straffte, und dass sich der Hund am Ende der Leine straffte, dann hörte ich den Ausruf: „Das lass ich mir nicht bieten!“

Pracht und Schäbigkeit in Moosach

Die Männer schüttelte die Angst, dass das Leben sie zerfraß, sie wollten sich weiter abseits stellen, sie wollten als lebensfern gelten: Sie bekamen vor Gram Muttermale. Die Zahl der Männer mit Leberflecken verdreifachte sich in Moosach, nicht in München, aber in Moosach. Woran lag das wirklich? An der Betrachtung der still trudelnden Weidenblätter. Am Anblick des begrünten Großen Schuttbergs im Olympiapark. Am Anblick der im Abenddämmer schwach leuchtenden Kaugummiplacken auf dem Bürgersteig. Oft schlugen die Kinder die Zähne in den Apfel und saugten den Saft aus, draußen im Freien, und wir, die Moosacher, lernten wie kundige Fährtenleser Fruchtsafttropfen von Dackelzungentropfen zu unterscheiden.

Die Fremdarbeiter trugen nicht mehr Hüte mit Gamsbart, ihre Söhne wagten sich im Trainingsanzug hinaus, das waren ungestreifte Pyjamas, die eng am Leib anlagen. Die Gescheiten und Gelehrten sprachen mit einer Hühnerstimme, während sie eine Locke ihres Backenbarts oder das Spiralkabel des Telefons um den Finger drehten. Wir wühlten im Sperrmüll in anderen Vierteln, wir kehrten mit unserer Beute schnell zurück. Wir verfügten nicht über einen eisernen Bestand. Alles zerfiel im schweren Herbstregen. Alles erstand wieder, halb in alter Pracht, halb in alter Schäbigkeit. In Moosach. Nicht in München.

Autor: Feridun Zaimoglu

Porträt von Feridun Zaimoglu, aufgenommen von Melanie Grande
Der Schriftsteller Feridun Zaimoglu heute, fotografiert von © Melanie Grande

Feridun Zaimoglu, 1964 im anatolischen Bolu geboren, verbrachte seine Kindheit im Münchner Stadtteil Moosach und seine Jugend in Bonn und in Bad Godesberg. Er studierte Kunst und Humanmedizin in Kiel, wo er heute lebt. Sein literarischer Durchbruch gelang ihm 1995 mit seinem Buch „Kanak Sprak“. Seitdem veröffentlicht er vielfach ausgezeichnete Romane, er verfasst Theaterstücke, Drehbücher und schreibt für Zeitungen. 2019 erschien sein multiperspektivisches feministisches Manifest „Die Geschichte der Frau“.

* Die Artikel-Serie zu #PopPunkPolitik verlängert die Ausstellung in den digitalen Raum hinein. Sie vertieft Themen der 1980er Jahre aus literarischer und heutiger Perspektive.

Bisher erschienen sind:

Das Projekt wird gefördert im Programm


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