Fast eine Beziehung

Thommie Bayer: Seltene Affären (Roman)

Seltene Affären sind die einzige Torheiten, die sich Peter Vorden ab und an noch leistet. Ansonsten hat er sich gut eingerichtet, in der zweiten Lebenshälfte und in der zweiten Reihe. Er hat eine gleichwohl enge, aber auch schwierige Beziehung zu seinem Zwillingsbruder Paul, den er auf besonders niederträchtige Weise hintergangen hat, ihm dadurch aber paradoxerweise auch einen großen Dienst erwiesen. Schicksalsergeben schaut er zu, wie der Bruder seine Traumfrau heiratet und scheint mit seiner großen Liebe sich und seine Leidenschaft verloren zu haben.

Er führt eine Art Schattenexistenz, gibt in Teilzeit mal den Restaurantchef, mal den Ghostwriter, beides mit einer gewissen Selbstironie und Distanziertheit. Er pendelt er alle paar Tage zwischen seinen beiden Wohnungen in Frankreich und Deutschland hin und her und verliert sich zunehmend in Routine und Tagträumereien. Einzig der Genuss von gutem Wein kann ihn kurzfristig aus seiner Lethargie lösen. Seiner Aushilfsputzfrau Chiara fallen sofort sein guter Geschmack und sein Sinn für Ästhetik auf. Die beiden sind sich nie begegnet, merken aber bald, dass sie sich verstehen.

[Chiara] Dann stellt und legt und lehnt sie alles wieder genauso hin, wie es war, bis das wohlkomponierte Chaos aus Papieren, Figürchen, Utensilien und Notizzetteln denselben Anblick bietet wie zuvor. Am Anfang, vor vier Wochen, hat Chiara in der Küche und hier im Arbeitszimmer Handyfotos gemacht, aber schon bei der Kontrolle gemerkt, dass sie die nicht brauchte – alles fand seinen Ort wieder, als gäbe es nur diesen: Briefwaage, Lesebrille, Stiftdose, Aschenbecher, Stempelkissen, Telefon, Uhr, Zinnsoldaten, Spielzeugauto, Murmeln und Tintin wurden wie von Magneten angezogen an ihre jeweils einzigen richtigen Plätze.

[Peter] Zuerst dachte ich noch, die Putzfrau habe das Zimmer diesmal ausgelassen, aber der Papierkorb war leer, nirgends lag ein Körnchen Staub oder ein Krümel Asche, alles glänzte, der Boden, die Flächen, der Bildschirm – es war verblüffend.

Ich ging ins Bad und in die Küche, sah, dass auch dort genau das richtige geordnete Chaos herrschte, und war konsterniert, weil so etwas einfach nicht vorkommt. Jetzt fiel mir auch die junge Frau auf dem Roller wieder ein, deren Gesicht ich nur kurz im Rückspiegel und vor der Einfahrt zum Haus gesehen hatte. War sie vorher mit dem Handy durch die Zimmer gegangen und hatte Fotos gemacht? Oder war sie Autistin? Eine Sonderbegabung mit fotografischem Gedächtnis?

Bald hinterlassen die beiden einander kleine, zärtliche Nachrichten in Form von Schokolade oder kleinen Zeichnungen. Sie denken sich in den anderen hinein, Peter Vorden verliert sich teilweise regelrecht in Träumereien von ihr. Manch einen mag dieser mystische Erzählstrang nerven, mich hat er berührt. Die kleinen Aufmerksamkeiten, Gedankenübertragungen und Vertrautheiten irritieren Peter Vorden, holen ihn aber nur kurzfristig aus seinem Gleichmut. Und dass keine Frau mit der angebeteten Nina mithalten kann, ist eh klar.

Was Chiara so denkt und ob sie auch von Peter Vorden tagträumt, kann man im Vorgängerband „Weißer Zug nach Süden erfahren“. Jedes der beiden Bücher kann für sich gelesen werden, es macht aber besonderen Spaß, sie hintereinander zu lesen. Die Reihenfolge spielt dabei keine Rolle. Immer wieder erkennt man Situationen wieder, versteht Zusammenhänge und entwickelt ein Gespür dafür, wie sich Peter und Chiara erahnen. Eine romantisch, melancholische Geschichte über Familie, Schuld, Opferbereitschaft , das Schreiben, guten Wein, und natürlich auch über die Liebe. Ohne happy end und trotzdem – oder gerade deshalb – ein echter Geheimtipp.

Beide Bücher gibt es auch als Hörbücher, „Seltene Affären“ wird von Gert Heidenreich eingelesen. Er spricht genauso zäh, gelangweilt und zögerlich, wie ich mir einen Peter Vorden vorstelle, aber mit einem angenehm tiefem männlichem Timbre. „Weißer Zug nach Süden“ wird von Petra Schmidt-Schaller gesprochen, die ebenfalls eine angenehme Stimme hat, mir aber Chiaras tiefsitzende Scham nicht transportieren konnte.

Thommie Bayer: Seltene Affären. 192 Seiten. Piper Verlag

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