Das Thema Diversity ist in letzter Zeit in aller Munde. Nicht nur Unternehmen und Kultureinrichtungen wollen divers sein, sondern auch in TV-Formaten wie Heidi Klums „Germanys Next Topmodel“ wird die Diversität der Kandidat*innen bei jeder Gelegenheit hervorgehoben – und gleichzeitig eine starre Norm festgesetzt, der sie entsprechen müssen. Diversität hat es in die Alltagssprache geschafft, bunt ist scheinbar cool. Aber was genau verbirgt sich hinter Diversität? Kann man sie einfach so ausrufen? Und wofür braucht es dann noch Diversitätsentwicklung?
Das Konzept der Diversität entstand in den 1980er Jahren in amerikanischen Wirtschaftsunternehmen als Reaktion auf Forderungen von Bürgerrechtsbewegungen nach Gleichberechtigung und Gleichstellung benachteiligter Gruppen. Die Wirtschaft erkannte, dass die Diversifizierung von Unternehmen nicht nur für ein besseres Image sorgt, sondern auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Wenn Produkte zu eindimensional sind und sich nur an einzelne Segmente der Gesellschaft richten – zum Beispiel nur an Weiße, nur an Frauen, nur an Männer usw. – werden ganze Kund*innengruppen nicht angesprochen.
Jenseits dessen, was zur Norm erhoben wird, gibt es jedoch eine große Vielfalt an Menschen mit verschiedenen Bedürfnissen und Interessen, die man als Kund*innen gewinnen kann. Die Gesellschaft ist bunt und besteht aus Männern, Frauen und Kindern; Menschen mit verschiedenen sexuellen und geschlechtlichen Identitäten; aus alten und jungen Menschen; aus Weißen und BIPoc (Black, Indigenous, People of Color); aus Personen mit und ohne Migrationsbiografie; sowie aus Menschen mit und ohne körperlicher oder geistiger Einschränkung. Sie alle sind potentielle Käufer*innen eines Produktes, brauchen aber verschiedene Ansprachen. Und: die Produkte müssen an die vielfältigen Bedürfnisse angepasst werden. Es soll nicht mehr das eine, standardisierte Produkt geben, sondern eine Palette von Produkten, die die vielfältigen Bedürfnisse in der Gesellschaft abdecken. Vielfalt soll Mainstream, Standard werden.
Dieses ursprünglich marktwirtschaftliche Konzept hat inzwischen Einzug in alle Bereiche gefunden, auch in den Kulturbetrieb. Theater, Museen, Orchester, Bibliotheken – wir alle wollen ein breiteres Publikum ansprechen. Je bunter die Stadtgesellschaft wird, desto wichtiger ist es, dass sich auch die Kulturinstitutionen weiterentwickeln. Diversitätsentwicklung braucht es einerseits, um die Einrichtungen in der sich wandelnden Stadtgesellschaft auf lange Sicht am Leben zu erhalten. Denn nur, wenn sich diese zusammen mit der Gesellschaft entwickeln und die sich wandelnden Interessen und Bedürfnissen der Menschen aufgreifen, sind sie am Puls der Stadtgesellschaft. Auf der anderen Seite können die Einrichtungen dadurch, dass sie sich mit Diversitätsentwicklung befassen Diskussionen starten, Bewusstsein bilden und die Gesellschaft mitgestalten. Dies gilt insbesondere für eine Einrichtung wie die Münchner Stadtbibliothek, die einen Bildungsauftrag hat und für sich den Anspruch erhebt, sich an alle Bürgerinnen und Bürger Münchens zu richten. Nur wenn Personal, Publikum und Programm genauso bunt sind, wie die Stadtgesellschaft, sind wir auch ein Ort für alle.
Dafür nehmen wir vor allem die eigene Einrichtung in den Blick und analysieren, ob sich die verschiedenen Zielgruppen mit unseren Inhalten identifizieren können. Ob sie sich durch unsere Öffentlichkeitsarbeit angesprochen fühlen und wo es Barrieren gibt, die es abzubauen gilt. Barrieren und Ausschlüsse fußen unter anderem auch auf blinden Flecken, Vorurteilen und Stereotypen. Daher sind rassismus- und diskriminierungskritische Ansätze immer eng mit Diversitätsentwicklung verknüpft.
2019 haben wir uns um eine Förderung im Rahmen des 360° Fonds für Kulturen der neuen Stadtgesellschaft beworben, den die Kulturstiftung des Bundes aufgelegt hat, um die Vielfalt in Kultureinrichtungen zu fördern. Zusammen mit 38 anderen Kultureinrichtungen widmen wir uns für vier Jahre intensiv der Diversitätsentwicklung im jeweils eigenen Haus. Bis Mitte 2023 wird das Projekt 360° bei uns laufen. Der Schwerpunkt von 360° ist die (post)migrantische Gesellschaft. Denn obwohl der Anteil an Menschen mit Migrationsbiographie in Deutschland über die Jahre immer weiter gestiegen ist, richten sich viele Einrichtungen immer noch vor allem an weiße Menschen ohne migrantische Wurzeln. Auch wir wollen hier nachbessern.
Die Münchner Stadtbibliothek möchte aber nicht nur in Hinblick auf Migration diverser werden, sondern generell Barrieren abbauen und weitere Zugänge ermöglichen. Daher werden wir uns auch mit den anderen, bisher zu wenig berücksichtigten Gruppen befassen. Denn wir haben eine Vision. Wir wollen, dass alle Menschen in München sagen können: Die Münchner Stadtbibliothek – Das ist mein Ort.
Beantwortet von Sarah Hergenröther, 360°-Agentin für kulturelle Vielfalt und Diversitätsentwicklung