Ein Platz für Elisabeth Castonier in München und ein Ort für die Stadtbibliothek Riem, die hier entsteht. Die zukünftige Leiterin, Brigitte Bielinski, begibt sich auf biografische Spurensuche von Elisabeth Castonier. Zugleich stellt sie das literarische Werk der Münchner Autorin vor – ein wunderbarer Beitrag zu #femaleheritage!
Strohblumenweg, Balanstraße, Ackermannbogen – in München gibt es über 6.200 Straßen und Plätze. Nur etwa 350 davon sind nach Frauen benannt. Im Beitrag „Münchner Straßennamen oder Der lange Weg zur Geschlechtergerechtigkeit„ beschreibt Dr. Andreas Heusler, wie es um die Gleichberechtigung im öffentlichen Raum steht.
Guardinistraße, Augustenstraße, Rosenkavalierplatz – die Adressen der Münchner Stadtbibliotheks-Standorte lesen sich auch nicht gerade wie ein Katalog weiblicher Berühmtheiten. Einzige Ausnahme bildet die Maria-Theresia-Straße. Spannend, dass gerade dort, in der Monacensia, die Blogparade #femaleheritage ihren Ursprung und Anfang nimmt.
Im Stadtbezirk Trudering-Riem wird es demnächst einen weiteren Bibliotheksstandort geben, dessen Adresse nach einer Frau benannt ist. Die Messestadt Riem ist der zweitjüngste Stadtteil Münchens und durch ihr weiter voranschreitendes Wachstum bieten sich hier noch einige Chancen, weibliche Persönlichkeiten durch Straßenbenennungen zu ehren. So passiert 2017, als der Stadtrat beschloss, den neuen Platz im Osten des Viertels nach der Schriftstellerin Elisabeth Castonier zu benennen.
Als zukünftige Leiterin der Stadtbibliothek Riem interessiert es mich, wer diese Frau war, der wir unsere neue Dienstadresse verdanken. Also begab ich mich auf Spurensuche.
Elisabeth Castonier – Kindheit und Jugend
Elisabeth Anna Helena wird am 6. März 1894 in Dresden geboren. Ihre Mutter, Elisabeth de Bosse, gilt als exzentrisch. Ihr Vater, Felix Borchardt, ist als Porträtist und Kunstmaler erfolgreich. Eine Großmutter ist Französin, die andere Engländerin; ein Großvater deutscher Jude, der andere ist Russe und steht im Dienst des Zaren. Als Elisabeth fünf Jahre alt ist, zieht ihre Familie nach Paris. Einige Jahre leben sie dort, bevor sie sich 1912 in Berlin niederlassen. Elisabeth wächst in gehobenen Kreisen auf; in gesichertem Wohlstand, betreut von Ammen und Kinderfrauen, distanziert von ihren Eltern. Bei Tee- und Abendgesellschaften, bei denen sie ab und zu dabei sein darf, lernt sie Künstler*innen und Schriftsteller*innen kennen. Sie fühlt sich zu eigenen, spielerischen Schreibversuchen ermutigt.
Als sich die Eltern scheiden lassen und die Mutter nach München zieht, bleibt Elisabeth zunächst bei ihrem Vater. Doch mit der neuen Stiefmutter versteht sich die Tochter nicht, die Konflikte nehmen zu. Sie beschließt, zu ihrer Mutter nach München zu gehen. Diese empfängt sie aber nicht mit offenen Armen. Elisabeth bleibt trotzdem und wagt den Schritt in ein eigenes, unabhängiges Leben.
Als junge Frau verdient sie sich während des ersten Weltkrieges mit Kurzgeschichten, Gedichten und Übersetzungen französischer Klassiker ihr Geld. Sie lebt bescheiden in einer Pension, in der auch die Schwabinger Bohème verkehrt. Dadurch bekommt sie Zugang zu dieser kreativen, künstlerischen Welt.
Auf einem der Atelierfeste lernt sie den dänischen Sänger Paul Castonier kennen. Die beiden verlieben sich, heiraten, leben ein einfaches Leben, das durch Elisabeths Gelegenheitsarbeiten für verschiedene Zeitungen finanziert wird. Doch die Ehe scheitert nach einigen Jahren und Elisabeth kehrt als geschiedene Frau zurück nach Berlin.
Elisabeth Castoniers literarischer Erfolg
Beruflich geht es aufwärts. Castonier schreibt Artikel, Außenreportagen und Buchbesprechungen für Berliner Zeitungen und Magazine. Sie macht sich als scharfsinnige Beobachterin und politische Kommentatorin einen Namen. Für eine satirische Wochenschrift erfindet sie die „Fromme Helene aus Hitlershofen“, eine hysterische Nazistin. Später ist Elisabeth erschrocken, wie wahr ihre erfundene Wirklichkeit geworden ist. Ihr erster Roman „Frau, Knecht, Magd“ wird 1932 im Berliner Tageblatt als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht.
Für den Roman „Angèle Dufour“ erhält sie 1932 den Literaturpreis der Vereinigung der deutschen Staatsbürgerinnen. Die dramatisierte Fassung „Die Sardinenfischer“ kommt 1933 an der freien Volksbühne Berlin zur Aufführung, wird allerdings kurz nach der Uraufführung wieder abgesetzt. Elisabeth hat sich durch ihre kritischen Publikationen unbeliebt gemacht.
Flucht
Sie ist „rassisch tolerabel“, weil nach Definition der Nationalsozialisten nur zu einem Viertel jüdisch. Durch ihre Heirat hat sie die dänische Staatsbürgerschaft erlangt. Dadurch ist sie nicht unmittelbar gefährdet und kann noch einige Zeit in Berlin bleiben. Elisabeth lebt von Erspartem, weil die Aufträge ausbleiben. Die Stimmung wird immer angespannter. Im Mai 1933 muss sie mitansehen, wie auch ihre Bücher auf dem Münchner Opernplatz verbrannt werden. In dieser bedrückenden Atmosphäre voller Angst und Misstrauen will sie nicht bleiben: Sie emigriert nach Wien.
Dort hält sie sich zunächst als Zeitungsverkäuferin über Wasser und kann später auch wieder im geringen Umfang journalistisch arbeiten. Nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich flieht sie Anfang 1938 zunächst nach Italien und im Herbst weiter nach London. Ihre finanzielle Situation ist äußerst angespannt. Die Literaturagenturen haben kein Interesse an ihren Arbeiten. Sie bekommt, nicht zuletzt durch die Fürsprache Thomas Manns, Unterstützung durch einen Fonds für verfolgte Schriftsteller. Dieser ermöglicht es ihr, einige Zeit zu überbrücken.
In England beginnt sie, mit mäßigem Erfolg, Kinderbücher zu schreiben. Sie verfasst Beiträge für Exilzeitungen und politische Kommentare für die englische Presse. Im Auftrag eines Verlages schreibt sie 1941 einen dokumentarischen Bericht über den Widerstand in Deutschland und die besetzten Länder. Mit diesem Buch, „The Eternal Front“, erlangt sie einen kleinen Durchbruch. Doch diese geringe finanzielle Basis gibt ihr auf Dauer nicht genügend Sicherheit.
Landleben und Alter
Elisabeth Castonier ist fünfzig Jahre alt, als sie sich entschließt, noch einmal ein völlig neues Leben zu beginnen. Sie verlässt London 1944, um sich als Landarbeiterin ihr Geld zu verdienen. Auf der Farm ihrer Freundin Jane Naupier in Hampshire arbeitet sie zehn Jahre lang als Magd. Aus schwerwiegenden gesundheitlichen Gründen muss sie sich 1955 wieder an den Schreibtisch und ihre literarische Tätigkeit zurückbegeben.
Zunächst schreibt Elisabeth Castonier Auftragsarbeiten, triviale Liebesgeschichten: leichte, heitere Kost, die ihre Leser*innen mögen, die ihr aber zuwider sind. Sie selbst würde viel lieber journalistisch arbeiten und über die deutsche Nachkriegspolitik berichten. Das betont sie auch immer wieder in ihrem regen Briefwechsel mit Mary Tucholsky. Schließlich findet sie einen Verlag.
Ihre Erfahrungen und Erlebnisse vom Landleben, die lustigen und skurrilen Begebenheiten mit Mensch und Vieh schildert die tierliebende Castonier in ihrem Roman „Mill Farm“. Dieser erscheint 1959 und wird ihr bekanntestes Buch. Auch die Biografie „Stürmisch bis heiter“, die sie im Alter von 70 Jahren verfasst, kommt auf Anhieb in die Bestsellerliste. Ein weiterer Erinnerungsband, „Unwahrscheinliche Wahrheiten“, erscheint 1975.
Es ist das Jahr, in dem Elisabeth Castonier zurück nach München zieht. Sie blieb dieser Stadt stets verbunden, besucht regelmäßig Freunde. Ihre literarische Betreuung übernahmen Münchner Verlage. Sie veröffentlicht bis zu ihrem Tod zwölf Bücher, dazu unzählige Artikel und Kurzgeschichten. Sie verstirbt im September im Josefinum und wird auf dem Nymphenburger Friedhof begraben. Die Frage nach einer Umwandlung der Ruhestätte in ein städtisches Ehrengrab ist aktuell nicht beantwortet.
Erinnerung
Durch die Bücherverbrennungen und die Ächtung durch die Nationalsozialisten nahm die schriftstellerische Karriere von Elisabeth Castonier einen erheblichen Schaden. Sie konnte – bis in ihre letzten Lebensjahre – nicht mehr an ihre jungen Erfolge anknüpfen und vom Schreiben leben. Trotz der erfolgreichen Veröffentlichung ihrer Memoiren geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Auch wenn sie bei Einigen noch im Gedächtnis ist:
- 2012 wurde der Königsplatz in einer Kunstaktion von Wolfram Kastner mit sechs Straßenschildern in Elisabeth-Castonier-Platz umbenannt.
- Bei den seit 1995 stattfindenden Gedenkveranstaltungen, die anlässlich des Jahrestages der Bücherverbrennungen stattfinden, wurde aus Werken von Elisabeth Castonier gelesen, zuletzt in diesem Jahr von Monika Manz.
Autorin: Brigitte Bielinski, Münchner Stadtbibliothek Riem
Wir danken sehr herzlich für diesen vertiefenden Beitrag zu Elisabeth Castonier aus der Perspektive der Münchner Stadtbibliothek Riem. Wir erinnern gerne an den persönlichen Zugang zur Münchner Schriftstellerin von Theresa Höpfl, die in ihrem Beitrag zu #femaleheritage auch auf Elisabeth Castonier eingeht.
Quellen:
- Wikipedia: Elisabeth Castonier
- Fembio: Elisabeth Castonier
- Castonier, Elisabeth, 1894-1975
Stürmisch bis heiter / Elisabeth Castonier – FRANKFURT/M.: ULLSTEIN, 1988 – 328 Seiten – ISBN 3-548-20907-6 - Berühmte Frauen : dreihundert Porträts / hrsg. von Susanne Gretter und Luise F. Pusch. – 2.. – 1. Aufl. – Frankfurt am Main ; Leipzig : Insel-Verl., 2001 – 379 Seiten : zahlr. Ill. – ISBN 3-458-17067-7
- Kantorowicz, Alfred, 1899-1979
Politik und Literatur im Exil : deutschsprachige Schriftsteller im Kampf gegen den Nationalsozialismus / Alfred Kantorowicz – Hamburg : Christians, 1978 – 346 Seiten ; 23 cm (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte / hrsg. von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ; Bd. 14) – ISBN 978-3-7672-0546-8 - Wall, Renate
Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil : 1933 – 1945 / Renate Wall – überarb. und aktualisierte Neuaufl. der Ausg. von 1995 – Gießen : Haland und Wirth, 2004 – 553 Seiten : Ill. ; 20 cm – ISBN 3-89806-229-5 - Deutsche Intellektuelle im Exil : ihre Akademie und die „American Guild for German Cultural Freedom“; eine Ausstellung des Deutschen Exilarchivs 1933 – 1945 der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main / [Ausstellung und Katalog: Werner Berthold, Brita Eckert und Frank Wende. Bibliothekarische Mitarb.: Mechthild Hahner und Marie-Luise Hahn-Passera] – München : Saur ; London ; New York, 1993 – XI, 584 Seiten : Ill ; 25 cm (Sonderveröffentlichungen / Deutsche Bibliothek ; Nr. 18) – ISBN 3-598-11152-5
- Meister, Monika
„Unwahrscheinliche Wahrheiten“ : Elisabeth Castonier – Landarbeiterin und Schriftstellerin ; Sendung 14. März 2004 ; Bayern-2-Radio ; Manuskript / von Monika Meister – München : Bayerischer Rundfunk, 2004 – 14 Seiten (Bayern – Land und Leute) - Eintrag „Mutige Literatin“ aus Munzinger Online/Süddeutsche Zeitung (abgerufen von Münchner Stadtbibliothek am 1.12.2020)
- Eintrag „Spuren des Brandes“ aus Munzinger Online/Süddeutsche Zeitung (abgerufen von Münchner Stadtbibliothek am 1.12.2020)
- Eintrag „Castonier-Grabmal ist verschwunden“ aus Munzinger Online/Süddeutsche (abgerufen von Münchner Stadtbibliothek am 1.12.2020)
- Eintrag „Ehrengrab gegen das Vergessen “ aus Munzinger Online/Süddeutsche Zeitung (abgerufen von Münchner Stadtbibliothek am 1.12.2020)
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ich habe wieder was gelernt, wie bei fast jedem Artikel hier Danke!
Eine kleine „Besserwisserische“ Anmerkung zu den Straßennamen sei bitte erlaubt: Die Augustenstraße ist auch eine „weibliche“ Straße, sie heißt nach der Wittelsbacherin Auguste Amalie, der Tochter des ersten bayerischen Königs Max I. Joseph. Ihr hatte Bayern indirekt die Königswürde zu verdanken, weil sie einwilligte, den ihr unbekannten Eugène de Beauharnais, den Stiefsohn Napoleons, zu heiraten. Durch diese Heirat erhielt Napoleon den erwünschten Zugang zum europäischen Hochadel.
Liebe Adelheid Schmidt-Thomé,
das freut uns sehr, dass die Teilnehmenden hier Lern- und Denkstoff bieten. „Besserwisserische“ Anmerkungen sind immer erlaubt und auch willkommen. In der Tat ist uns hier etwas durchgerutscht. Das hat definitiv etwas Gutes, da unsere Lesenden so nochmals mehr erfahren, wir natürlich auch. Spannend immer wieder, welche Adelsverflechtungen bzw. Ansinnen zu welchen Möglichkeiten führten.
Auch Ihnen ein herzliches Dankeschön für Ihren kurzweiligen und lehrreichen Beitrag zu #femaleheritage. Wir haben über die Beiträge der Teilnehmenden auch viel gelernt und sind einfach nur begeistert, welche Vielfalt darüber zustande kam. Für uns bedeutet das auch viel Denkstoff, was wir mit der Fülle dieser großartigen Beiträge in Zukunft noch tun werden.
Herzlich
Tanja Praske
Liebe Brigitte Bielinski,
vielen Dank für den interessanten Beitrag über Elisabeth Castonier. Wie schön, dass eine Bücherei eine Adresse mit ihrem Namen trägt. 2025 wird ihr 50. Todestag sein – wird man dann öffentlich an sie denken, so wie sie an den 50. Todestag eines von ihr verehrten Dichters gedacht hat („In Memoriam“, in „Seltsames Muster“)? Werden ihre Erinnerungsbücher vielleicht sogar neu aufgelegt?
Zwei Anmerkungen: Elisabeth Castonier schildert in ihren Büchern „Stürmisch bis heiter“ und „Seltsames Muster“ die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz), nicht auf dem Münchner Opernplatz. Und „Seltsames Muster. Begegnungen – Schicksale“ (1971) ist ein weiterer Erinnerungsband.
Viele Grüße
D. N.