Ein Gespräch mit Dr. Arne Ackermann über Bibliotheken heute und morgen
Sie kamen im Januar 2013 als neuer Direktor an die Münchner Stadtbibliothek. Wie waren Ihre ersten beiden Jahre?
Ich habe viel gelernt und vor allem viel gestaunt: über die Qualitäten, über das Leistungsniveau und über die Bandbreite der Münchner Stadtbibliothek. Ich war erst wenige Wochen hier, als die Monacensia wegen Asbests vorzeitig geschlossen werden musste. Zugleich stellte sich zum wiederholten Mal die Frage nach einem Umzug der Stadtteilbibliothek Waldtrudering. Wir hatten damals 200 Quadratmeter in Waldtrudering, 140.000 Besuche im Jahr und über eine halbe Million Entleihungen: Das gibt es in Deutschland kein zweites Mal! Das meine ich mit Qualität und Bandbreite: auf der einen Seite die Monacensia als Facheinrichtung, ein Archiv mit herausragendem Bestand. Und auf der anderen Seite die Stadtbibliothek in Waldtrudering, eine klassische, aber unglaublich leistungsstarke Stadtteilbibliothek. Eine schöne Erfahrung war auch das zehnjährige Jubiläum des Vereins Lesefüchse, dessen ehrenamtliches Engagement unsere Arbeit bereichert. Nicht zu vergessen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die in München momentan sehr günstig sind. Wir engagieren uns dementsprechend, weshalb die Münchner Stadtbibliothek einen guten Stand hat in der Stadt.
Die Münchner Stadtbibliothek besteht aus sehr vielen, sehr unterschiedlichen Bibliotheken. Welche Vor- und welche Nachteile hat die dezentrale Struktur?
Ich kann dem nur Gutes abgewinnen. Die dezentrale Präsenz ist unsere große Stärke. Diesen Laden zu managen, stellt einen selbstredend vor die erwartbaren Schwierigkeiten. Es braucht ein gutes Gleichgewicht von zentralen Standards und dezentralen Freiräumen. Kreativität kann sich nur jenseits von Vorgaben entwickeln, man kann sie nicht verordnen. Diese Balance muss man immer wieder herstellen, und im Moment sind wir noch dabei, sie neu zu justieren. Für solche Prozesse braucht es länger als die zwei Jahre, die meine Stellvertreterin Frau Lipelt-Kalus und ich nun hier sind. Aber diese Zeit haben wir. Wichtig ist, konsequent daran zu arbeiten.
2014 hat die Münchner Stadtbibliothek ihr interkulturelles Engagement deutlich ausgebaut. Warum war das notwendig?
Vor dem Hintergrund der weltweiten Migrationsbewegungen. Prognosen gehen davon aus, dass München in den kommenden 15 Jahren um 150.000 oder gar 200.000 Menschen wächst. Das strapaziert eine Stadt, dafür benötigt sie nicht nur mehr Wohnungen und mehr öffentlichen Nahverkehr, sondern auch die kulturelle Infrastruktur. Da ist die Bibliothek besonders gefragt, weil es ihr um grundlegende Fertigkeiten geht – und um eine ernst gemeinte Willkommenskultur: für diejenigen, die eine erste Hilfe benötigen, und für die, die längst angekommen sind und ihre Sprache und Kultur pflegen wollen. Gesellschaftliche und damit kulturelle Teilhabe sind entscheidend, dafür stehen wir mit unserem gesamten Programm. Interkultur ist kein Nischenangebot, sondern muss die Haltung der gesamten Einrichtung sein und in allen Bereichen durchdekliniert werden. Das ist ein umfassendes Projekt, nach außen wie nach innen. Es wurde etabliert als strategisches Feld der Stadt: München will darin Vorbild sein, will Vorbild sein mit dem, was es selbst tut und was den Umgang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betrifft. Das ist auch unser Anspruch.
„Man sollte denken, dass öffentliche Bibliotheken ein Auslaufmodell sind“, behauptete jüngst eine große deutsche Tageszeitung.
Was für ein Unsinn! Auch wenn man kaum absehen kann, wie sehr sich unsere Lebenswelten verändern werden, bin ich, bei allen Unwägbarkeiten, davon überzeugt, dass die Kernaufgaben von öffentlichen Bibliotheken dieselben bleiben. Eine Bibliothek sieht nicht mehr aus wie vor zehn Jahren, sie macht andere Angebote, bedient sich anderer Formen und Formate, aber das sind Nuancen angesichts ihrer Kernaufgaben. Leseförderung ist ein Kernauftrag, die Vermittlung von Medienkompetenz ist ein Kernauftrag, Unterstützung lebenslangen Lernens ist ein Kernauftrag. Wo ist denn abzusehen, dass sich daran etwas ändern wird? Daran wird sich absehbar nichts ändern, weil das Selbstverständnis einer Bibliothek um eine anthropologische Konstante kreist: Wir sind Menschen und wir bleiben Menschen. Wir werden auch in 100 Jahren noch lesen lernen müssen, folglich werden öffentliche Bibliotheken wichtiger werden denn je. Weil sie nicht kommerziell sind und weil es ihnen um Verständigung geht – darüber, ob Literatur Erklärungen bereit hält oder nicht, wie wir leben wollen, wie Städte aussehen sollen. Das sind alles Dinge, die wir miteinander verhandeln müssen, von Angesicht zu Angesicht. Die Leute wollen sich treffen, und das können sie bei uns. Eine Bibliothek ist ein Ort, an dem Gesellschaft stattfindet.
Auch ohne gedruckte Bücher? Es heißt ja, es nahe das Ende des Papierzeitalters.
Das zeugt von Ignoranz, und zwar nicht nur der aktuellen Fakten, sondern auch der Prognosen. Deren Pointe lautet doch, soweit man die Zukunft eben vorhersagen kann: Das gedruckte Buch bleibt Leitmedium. Wenn manche den Anteil des E-Books bald bei 30 Prozent sehen, bedeutet das im Umkehrschluss, dass das gedruckte Buch erst einmal Leitmedium bleiben wird. Ich stehe dafür: Wir sind auch in zehn Jahren noch ein Haus der Bücher. Was macht denn den Markenkern aus? Es wäre doch dumm, solch eine Riesenstärke – ein Institution, die mit Verlässlichkeit und Tradition assoziiert wird, mit Beständigkeit – wegzuwerfen. Was wir tun müssen: Wir müssen uns noch stärker vernetzen, noch mehr Vereine einladen, zum Beispiel auch einmal Initiativen wie dem Chaos Computer Club unsere Bühne bieten. Die Vermittlung medialer Kompetenzen ist eine gewaltige Aufgaben, und gemeinsam – die berühmten Synergien – schaffen wir das besser als alleine.
Können Bibliotheken in Sachen Medienkompetenz überhaupt Schritt halten mit den Digital Natives?
Die sogenannten digital natives sind nicht diejenigen, die besonders kompetent sind im Umgang mit diesen Medien; sie nähern sich ihnen nur unverkrampfter. Mein fünfjähriger Sohn lernt viel schneller den Umgang mit Touchscreens, aber er weiß nicht, was da passiert und wie er das bewerten soll. Die Pragmatik macht den digital natives keinerlei Schwierigkeiten, der kritische Umgang dagegen schon. Und den gewinnt man nur durch einen qualifizierten Austausch, sei es mit Freunden, in der Schule, mit Eltern oder eben in der Bibliothek.
Bibliotheken sind also medienpädagogisch stärker denn je gefordert?
Absolut! Diese Lotsenfunktion stellt für uns auch eine große Herausforderung dar. Wir müssen dafür sorgen, dass ein Grundverständnis der verschiedenen Endgeräte zum Standardwissen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehört. Im Grunde geht es darum, dass wir unsere eigene Programmatik ernst nehmen: Wir selbst sind eine lebenslang lernende Institution. Das Faszinierende an unserem Beruf ist doch, dass wir alle Themen besetzen können. Wir haben eine unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten, weil der Zugang zur Welt medial ist und ein Gutteil dieser Medien zu unserem Kerngeschäft gehört.
In der Öffentlichkeit herrscht ein weniger faszinierendes Bild von Bibliotheken …
Wir haben allen Grund, selbstbewusst aufzutreten, weil wir für eine wichtiges und wertiges gesellschaftliches Angebot stehen, das auch als solches anerkannt wird. Aber das Geschäft, dem wir nachgehen, wirkt nunmal unspektakulär – im Gegensatz etwa zur Kunst oder zur Oper. Ein Politiker stellt sich gerne neben einen berühmten Dirigenten und küsst gerne einer Opernsängerin die Hand. Das ist natürlich nicht zu vergleichen mit einer Leseförderungsveranstaltung in der Bibliothek! Das Inklusive, die Breite des Angebots, ist nicht auratisch – aber die Frage ist doch, ob wir das sein wollen. Uns interessiert eben etwas anderes. Nehmen Sie nur Angebote wie »update«: Da erfahren wir eine Wertschätzung von jungen Kundinnen und Kunden, die uns auf einmal cool finden, weil sie mitbekommen, dass man bei der Münchner Stadtbibliothek nicht nur lesen, sondern auch gamen oder einen Film drehen oder Sprayen lernen kann. Oder wir werden von den Münchner Schülersprecherinnen Schülersprechern entdeckt, die zu ihrer Vollversammlung einmal im Jahr die ganze Bibliothek besetzen.
Vor welchen weiteren Herausforderungen steht die Münchner Stadtbibliothek?
Wir müssen uns über die Zukunft verständigen. In einem Visionsprozess werden wir uns viele Fragen stellen: Wie sieht die Bibliothek der Zukunft aus? Was sind die Anforderungen an die Stadt und was erwartet die Stadt von uns? Ich glaube, es ist wichtig, zu wissen, wofür man steht, gerade angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen und der Renaissance der Bibliothek im öffentlichen Bewusstsein. Auch den Dialog mit unseren Kundinnen und Kunden müssen wir noch stärker führen. Sind wir als Bibliothek auf dem richtigen Kurs? So überzeugt ich davon bin, müssen wir trotzdem darüber diskutieren. Die Welt verändert sich, und wir müssen über eine Vision sicherstellen, dass wir diesen Veränderungen gerecht werden.
Dr. Arne Ackermann ist seit Januar 2013 Direktor die Münchner Stadtbibliothek.
Alle Bilder: Eva Jünger / Münchner Stadtbibliothek