Das sich verändernde Gewicht einzelner Worte

#kulturslammuc – Stadtkultur im Shutdown

Wie geht es den Münchner Bildungs- und Kulturinstitutionen? Wie schaffen es die Akteur*innen der Stadtkultur, für ihre Stadtgesellschaft da zu sein und weiterhin ihren Auftrag zu erfüllen? Diese und weitere Fragen stellt unser BlogSlam „Stadtkultur im Shutdown“. Alle sind herzlich zum Mitmachen eingeladen – mehr dazu gibt es hier.

Heute: unser Förderverein bücher&mehr

von Ulrich Chaussy, Vorsitzender bücher&mehr

Als bücher&mehr am 5. Dezember 2019 zur Mitgliederversammlung in die Stadtteilbibliothek Bogenhausen einlud – zur jährlichen Bilanz unserer Aktivitäten, zu den turnusgemäßen Wahlen des Vorstandes –, hatten wir externe Gäste. Kurz zuvor hatte ich von einer Gruppe erfahren, die auf einer der großen Fridays-for-future Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmer*innen auf dem Königsplatz aufgetreten war: eine Münchner Gruppe der in Berlin ins Leben gerufenen L4F-Initiative. Das Kürzel „L4F“ steht für „Libraries for Future“.

Libraries for Future

Dass hier Bibliothekar*innen sich organisieren, um in DER Zukunfts-Schicksalsfrage Klimawandel die Bibliotheken als hilfreiche und nützliche Orte zugänglich und dienstbar zu machen (bis Corona sich als eine dunkle Wolke vor alles schob), hatte mich spontan angesprochen. Also kamen Lea Neubauer und Alexander Uschold von L4F-München, beide Studierende der Bibliothekswissenschaften – und wir waren im Dezember 2019 uns schnell einig: Die Bibliotheken sind zum einen ein umfassender und seriöser Wissensspeicher in Sachen Klimawandel. Sie halten ein breites Medienangebot bereit, auf den man als mündige*r Bürger*in zurückgreifen kann und soll, will man sich in der Debatte positionieren.

Und zum anderen können sie auch als sozialer Treffpunkt dienen, um die notwendigen Debatten voranzutreiben, Forderungen zu formulieren und die nächsten Schritte und Aktionen zu planen. Denn wohin bitte sollen denn all die Schüler*innen NACH der Freitagsdemo? Wo ist der geschützte öffentliche Raum – nach den Demonstrationen und Kundgebungen auf den Straßen und Plätzen der Stadt? Na klar, das kann hier in dieser Stadt München die Stadtbibliothek mit allen ihren Stadtteilbibliotheken sein.

Die Bibliothek als kultureller Player

Es hat uns, Steffi M. Black und mich von bücher&mehr, sehr gefreut, dass wir mit dieser Idee beim Treffen mit Bibliotheksdirektor Dr. Arne Ackermann und der Redakteurin für digitale Kommunikation Katrin Schuster auf offene Ohren stießen. Denn die beiden präsentierten uns – völlig unabhängig von unseren Überlegungen – ihre Zukunftsstrategie für die Bibliotheksarbeit (die eigentlich schon eine geraume Zeit angelaufen, wenn auch noch nicht so offensiv in den Vordergrund gestellt worden ist): Dass eben die Bibliothek der Stadt nicht vor allem eine Bücher- und Medienverwahr- und Ausleihbehörde, sondern ein themenbezogener kultureller Player im Stadtleben sein soll.

Dem wird ja auch schon durch die Neugestaltung der Website Rechnung getragen. Sie verweist seit ihrem Relaunch mit einer jeden Suche nach einem Buch und dessen Thema sofort auch auf Veranstaltungsangebote der Stadtbibliothek und Webfundstellen in der gleichen Sache. Also nicht nur auf das neue Buch zum Ausleihen und Lesen und Hören, den neuen Film zum Angucken auf dem heimischen Bildschirm. Sondern eben auch: auf die Lesung mit dem Autor, der Autorin. Auf den Blogartikel über die Macher – und so weiter. Selbstverständlich eben auch auf die Debatten um die Energiewende und die besten und notwendigen Schritte zur Klimaneutralität bis … möglichst bald. Das gefällt uns von bücher&mehr – wegen dieses „&mehr“, das dieses Konzept betont und stärkt.

Ohne „&mehr“

UND DANN: CORONA! Was ist gleich weg? Auf einen Schlag eben dies ganze „&mehr“. Wir hatten für den 28. April eine Lesung mit Sabine Rinberger und Andreas Koll vereinbart, aus ihrem Buch „Schwere Jahre“ über die legendäre Schauspielerin und Volkssängerin Liesl Karlstadt. Lesung im Veranstaltungssaal der Stadtbibliothek Bogenhausen? GEHT GARNICHT! SHUTDOWN DER BIBLIOTHEKEN bis…?

Und als Kombination mit und Weiterführung der Lesung wollten (na ja, und wollen wir prinzipiell immer noch) uns aufs Radl schwingen und unter der kundigen Führung der Valentin-Karlstadt–Musäums-Direktorin Sabine Rinberger im Laufe des Sommers auf den Spuren von Liesl Karlstadt durch München radeln. So wie wir es mit ihr vor Jahren auf den Spuren von Karl Valentin gemacht haben. Wohnorte, Auftrittsorte, wichtige Adressen und Schauplätze eines Künstlerlebens. GEHT JETZT ERSTMAL AUCH GARNICHT.

Kreative Ersatzhandlungen

Was wir nun im Corona–Shutdown alle dankbar und gewiss richtigerweise als digitale Ersatzhandlungen kreieren, ist bewundernswert und kreativ. Ach, was sind das alles für Formate! Jamsessions mit Sting und anderen übers Netz. Kabarett aus dem Homeoffice. Angeblich auch „Romeo und Julia“ als Theateraufführung aus komplett getrennten Wohnzimmern, die so also noch weniger zusammenkommen können als bei Shakespeare im wirklichen Theaterleben auf der Bühne – mit all den Zuguckern unten auf den Rängen. Und Rundgänge durch Ausstellungen in so leeren Museumssälen, wie man sie sich im wirklichen Leben immer wünscht und nie erlebt, auch nicht im auf dem Ticket zugebilligten Time-Slot-Durchmarsch in der Kandinsky-Ausstellung.

Echt super Formate. Na ja. Ein bisserl nüchtern betrachtet sind sie etwas mickrig rechteckig im Smartphone-Bildschirmformat bis zum opulenten Laptopscreen, auf den Zoomkonferenzmäßig vielleicht auch ein Dutzend Kolleg*innen im Briefmarkenformat passen, die Dich anquäken durch den weißen Knopf in Deinem Ohr wie Du sie. Oder mit Kopfhörer-Mikrofon-Headset wie bei den richtigen Callcentersklaven.

Gewisses Ernüchterungsniveau

Mir persönlich geht es so, dass der Begeisterungs-Hype – toll, was wir alles zusammen können, wenn wir nicht zusammen sein können – auf ein gewisses Ernüchterungsniveau zurücksinkt. Denn all unsere digitale Behelfskommunikation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir im sozialen und kulturellen Leben NACH CORONA die Qualität der physischen und kollektiven Begegnung mit frischer Kraft zelebrieren und genießen und ausleben wollen und sollten. Und wir werden das genießen und auskosten, wenn es wieder geht.

Ich gehöre nicht zu denen, die in der medizinischen begründeten temporären Suspendierung einer Reihe unserer demokratischen, bürgerlichen Freiheitsrechte den Plan irgendwelcher Finsterlinge wittern, unser Land in einen totalitären Überwachungsstaat zu verwandeln – Orbán-Töne habe ich von keinem deutschen Politiker vernommen.

Zunehmend guter Klang

Eigentlich akkumuliert sich in meinem Kopf vor allem die Vorfreude auf das, was möglichst bald wieder möglich werden soll, kann, am Ende: muss. An der immens steigenden Wertschätzung für Verhältnisse und Dinge, die man über die Jahre für komplett selbstverständlich gehalten hat. Ich merke das an dem sich verändernden Gewicht einzelner Worte, an ihrem zunehmend guten Klang. Das ist doch oft so, wenn man einzelne Worte immer wieder vor sich her sagt und auf ihnen herumkaut wie auf einem Lutschbonbon. Probieren Sie es mal damit:

Versammlungsfreiheit. Versammlungsfreiheit. VERSAMMLUNGsfreiheit. VersammlungsFREIHEIT. VERSAMMLUNGSFREIHEIT. Natürlich so bald als möglich nicht mehr nur wieder UNTER FREIEM HIMMEL sondern auch in der Münchner Stadtbibliothek.


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