Auch die urbane Identität ist freilich in der Krise: Städte wachsen und verdichten sich; sie werden stetig vielfältiger und stellen für viele ihrer Bewohner*innen ohnehin nurmehr Durchgangsorte dar, an denen man ein paar Monate oder Jahre verbringt, um anschließend weiterzuziehen. Wer sich in einer Stadt nicht daheim fühlt (sei das nun selbstgewählt oder aufgrund sozialer Exklusion), der wird auch keine Sorge für die Zukunft dieser Stadt tragen.
Als eine politische Antwort auf diese Entwicklung ist das Quartier ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: wo noch direkte Betroffenheit herrscht und Selbstwirksamkeit möglich ist, wo Beziehungen entstehen und nachhaltige Strukturen gut gedeihen können.
Topografie der Transformation
Die Frage, was genau eigentlich mit „Quartier“ gemeint sei, beantwortet man sich am besten selbst: Wo kauft man die Zeitung, wo den Wein, wo das Brot, wo ist der nächste Supermarkt, wo die Grundschule, wo die nächste ÖPNV-Station, wo das Café an der Ecke? Und wem begegnet man dort? Ein Quartier ist ja nicht nur eine städtebauliche, sondern mindestens im selben Maße auch eine soziale Topografie; eine Infrastruktur aus Läden, Praxen, Gastronomie, Landmarks, öffentlichen Einrichtungen, ÖPNV-Zugängen. Ein Quartier ist ein Netzwerk aus fußläufigen Orten der gesellschaftlichen Teilhabe und den Menschen, die dort interagieren.
In meinem Quartier wohne ich seit rund 20 Jahren; jeden Tag kann ich sehen, wie sich die Stadt verändert. Vor dem Haus haben wir gerade eine Baustelle, da wird Fernwärme verlegt. Meine Stamm-S-Bahn-Haltestelle wird seit Kurzem immer mal wieder still gelegt – wegen der Bauarbeiten an der zweiten Stammstrecke. Der ganze Platz ist ohnehin eine Baustelle, weil die nahegelegene Brücke über den Fluss erneuert wird; in diesem Zuge wird die Zahl der Autospuren von vier auf zwei verringert. Und der Straße am südwestlichen Rand meines Quartiers haben sie vor ein paar Jahren Autoparkplätze gestrichen zugunsten eines sichereren Fahrradwegs.
Auch die großen städtischen Veränderungen fallen allen natürlich ins Auge. Aber der Wandel des eigenen Quartiers betrifft uns unmittelbar: Auto- wie Radfahrende, Familien wie Singles, Mieter*innen wie Eigentümer*innen, Arme wie Reiche. Das gemeinsame Quartier verbindet, gerade weil es sich verändert.
Reallabor für Demokratie
Betroffenheit ist zweifellos einer der wichtigsten Motivationen, um ins Handeln zu kommen. Auch das macht das Quartier für Stadtpolitik und Verwaltung interessant, denn auf der Ebene des Quartiers wollen die Menschen gerne mitreden – eben weil sie es können dank ihrer eigenen Anschauung der Dinge, die da verhandelt werden. Geht es ums Quartier, dann ist von Politikmüdigkeit üblicherweise keine Spur.
Und manchmal geht das sogar bis vors Gericht: Aus einem Teil der Münchner Kolumbusstraße hat die Stadt in diesem Sommer eine so genannte „Sommerstraße“ gemacht: aus Parkplätzen wurden Wiesen, Sandkästen, Freiflächen, aus der Straße eine „verkehrsberuhigte“, i.e. autofreie Zone. Die einen liebten es, die anderen hassten es, und einer reichte Klage ein. Eingeklagt wurde zu wenig Transparenz und mangelnde Mitbestimmung – und darüber darf man sich wirklich freuen (so sehr solche Grantler auch manchmal nerven!), wenn in Zeiten wie diesen, wo über eine „Rückholung de Demokratie“ schwadroniert wird, von Bürger*innen ganz ernsthaft mehr Demokratie eingefordert wird.
Es ist mithin kein Zufall, dass gefühlt in allen Ecken und an allen Enden der Stadt gerade Konzepte und Leitfäden entstehen, die versuchen, dieses Wagen von mehr Demokratie in ein Format zu gießen, digital wie analog, und dabei immer das Quartier im Blick haben: Das Quartier ist – neben dem Arbeitsplatz – ein Spielraum für Selbstwirksamkeit, vom Guerilla-Gardening bis zum Engagement im Bezirksausschuss.
Quelle urbaner Resilienz
Nur wenig deutet bislang darauf hin, dass es gelingen könnte, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Ohnehin steht die Klimakrise ja nicht bevor; sie geschieht längst, wie die allgemeine Weltlage unschwer erkennen lässt. Neben der Reduktion des CO2e-Ausstoßes („Mitigation“) steht daher die Adaption, die Anpassung an den Klimawandel, auf der To-Do-Liste jeder Stadtplanung. „Wenn unsere Städte überleben sollen, dann müssen wir uns anpassen“, schreibt auch der US-Soziologe Eric Klinenberg in seinem Essay „Adaption“.
Auch dafür bildet das Quartier die Basis, wie nicht nur Stadtplaner*innen und Politik immer besser zu begreifen scheinen. Wie buchstäblich überlebenswichtig ein gemeinsames Verantwortungsgefühl fürs eigene Quartier ist, hat Klinenberg in seiner Studie zur Chicagoer Hitzewelle des Jahres 1995 gezeigt. Er hatte entdeckt, dass die Sterblichkeit in manch „sozial schwierigen“ Nachbarschaften deutlich unter der wohlhabender Quartiere lag, und fand den Grund dafür in den sozialen Infrastrukturen, deren Knoten dritte Orte darstellten, an denen sich Communitys formten, wuchsen und gediehen.
Fruchtbare Handlungsebene
Obwohl Bibliotheken in jüngster Zeit vor allem wegen spektakulärer Zentralbibliotheken, die all die Vielfalt an einem Ort abzubilden suchen, von sich reden machten, so schlägt ihr Herz doch mindestens genauso laut im Quartier. Denn dort wird, siehe oben, Transformation sichtbar, Demokratie gelebt und Resilienz gestärkt, und zwar ganz gleich, ob man an ein Quartier in einer kleinen Gemeinde oder einer Großstadt denkt.
Oft stellen öffentliche Bibliotheken im Quartier jene infrastrukturellen Knotenpunkte dar, die in Zukunft immer wichtiger werden und eine größere Rolle in der nachhaltigen Entwicklung der Quartiere spielen werden. Dafür braucht es, ganz profan, zunächst einmal Investitionen in die Ausstattung der Häuser und eine deutliche Erweiterung der Öffnungszeiten. Alles Weitere lässt sich je nach Quartier individuell gestalten. Mit politischer und zivilgesellschaftlicher Netzwerkarbeit wird die Entscheidungsebene adressiert, mit partizipativen Projekten die Bürgerschaft; ein Fokus auf die Historie des Quartiers kann die gemeinsame Identität stärken, weil sie lokales Wissen als wirksame Weiterbildung vorstellt; und schon eine einfache, aber ernst gemeinte Frage, deren Antwort zu einem besseren Quartier beitragen kann, lässt viele Menschen ein Gefühl Sichtbarkeit, Wertschätzung und Selbstwirksamkeit erfahren.
In Spanien nennt man sie Superblocks, in Paris baut man an der polyzentrischen 15-Minuten-Stadt, in Deutschland ist eine Kiez-Bewegung entstanden. Die Zukunft der Stadt ist zweifellos polyzentrisch, und das ist beileibe nicht die schlechteste Entwicklung aus der Perspektive Öffentlicher Bibliotheken. Denn im Quartier, da sind sie ja längst und da lernen sie schon seit Jahren, was die Menschen zusammenhält und was sie trennt, worin sie sich einig sind und worin nicht. Oder anders, in den Worten von Eric Klinenberg gesagt: „To restore civil society, start with the library.“
(Und lesen Sie „Hoch die Hände, Klimawende!“ von Gabriel Baunach!)
Ein Beitrag von Katrin Schuster, Kommission Nachhaltigkeit


