Marmorschwein gesucht! Christa Winsloe, Lessie Sachs und andere vergessene Autorinnen | #femaleheritage

Vergessene Autorinnen neu aufgelegt – dafür setzt sich der AvivA Verlag seit 23 Jahren ein. Wer waren Christa Winsloe, Lessie Sachs und Shelagh Delaney? Was zeichnete ihre Schriften aus und warum lohnt es sich, diese wieder zu entdecken? Darüber schreibt Julia Baudis in ihrem Gastbeitrag zur Blogparade #femaleheritage

Christa Winsloe mit Marmorschwein, 1908 (aus: Doris Hermanns; Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Berlin: AvivA, 2012) #femaleheritage
Christa Winsloe mit Marmorschwein, 1908 (aus: Doris Hermanns; Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Berlin: AvivA, 2012) #femaleheritage

Christa Winsloe – Schriftstellerin, Publikationsverbot und tragisches Schicksal

Lebensgroßes Marmorschwein gesucht! Vermisst wird das gute Tier seit Jahrzehnten, seine Existenz verdankt es Christa Winsloe, geboren am 23.12.1888. Sagt Ihnen der Film „Mädchen in Uniform“ etwas? Ja, genau, der Film, der heute hauptsächlich in der Version von 1958 mit Romy Schneider in der Hauptrolle bekannt ist. Zugrunde liegt das Theaterstück „Ritter Nérestan“ aus dem Jahr 1930, das erstmals von Leontine Sagan verfilmt wurde (Erika Mann spielte darin übrigens eine Lehrerin). Es stammt aus der Feder von Christa Winsloe. 

Doch jenseits davon ist die Schriftstellerin und Tierbildhauerin (daher das Schwein) fast vergessen. Studiert hat sie in München und nicht nur die Arbeit mit männlichen Aktmodellen im noch jungen 20. Jahrhundert liefert Stoff für so manche Anekdote, die Winsloe dann meisterhaft erzählen wird. Später reist sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann in einem Benz quer durch Europa, lebt nach ihrer Scheidung eine Weile mit der US-Journalistin Dorothy Thompson zusammen in den USA, stellt nach ihrer Rückkehr ins inzwischen von den Nationalsozialisten regierte Deutschland fest, dass sie Publikationsverbot hat, und geht schließlich zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Simone Gentet nach Frankreich. 1944 wird sie nahe ihrem Haus in Cluny erschossen. Aber vorher schreibt sie. Über Bildhauerei und „Blumenquälerei“, Fünfuhrtees und Inflation, über Tiere – vom Aguti bis zum Mops. Und sie schildert die turbulente Lebensgeschichte ihres Autos, eben jenes Benz, zwischen 1914 und 1920.

Doris Hermanns hat bei uns die Biografie der umtriebigen Künstlerin unter dem Titel „Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela“ veröffentlicht und den wunderbaren Winsloe-Band „Auto-Biographie und andere Feuilletons“ herausgegeben.

Lessie Sachs – zwischen Politik, Exil und Alltagsabsurditäten

Ebenso wie Christa Winsloe ist auch die Schriftstellerin Lessie Sachs heute nahezu unbekannt. Nach einem vielversprechenden beruflichen Start in ihrer Heimatstadt Breslau setzte die Machtübernahme der Nationalsozialisten der Karriere der jüdischen Schriftstellerin und Rundfunkmoderatorin ein Ende. 1937 konnte sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Amerika emigrieren, wo sie 1942 starb. Sachs und Winsloe haben einander übrigens nur um wenige Jahre verpasst – 1918 zog es Sachs zum Kunststudium nach München. 

Lessie Sachs‘ Engagement im Zuge der Novemberrevolution 1918/19 brachte ihr einen Gefängnisaufenthalt ein, von dem sie Jahre später in Gedichten erzählen wird. Doch neben Reflexionen ihrer politischen Arbeit und ihres Erlebens des Exils sind es vor allem scharfsichtige Alltagsbeobachtungen, die Lessie Sachs bestechend elegant und pointiert zu Gedichten und Kurzprosa verarbeitet: mal nachdenklich und melancholisch, mal voller Humor und unglaublich sympathischer Selbstironie. Jürgen Krämer und Christiana Puschak haben einen Band mit Lyrik und Feuilletons herausgegeben, der 2018 bei uns erschien: „Das launische Gehirn“. 

Dein eigner Kram
Sachen, wenn man umzieht, quillen und quillen wie Reis;
Mir wird, wenn ich daran denke, aus Angst glühend heiß.
Sachen wachsen und wachsen, und werden ein Berg;
Und da stehst Du inmitten, und bist klein, wie ein Zwerg.
Frech ist das Zeug; wächst wie verhext. – Sonder Scheu
und Scham
Erstickt Dich, erschlägt Dich, begräbt Dich: Dein eigner
Kram.

Lessie Sachs
Porträt von Lessie Sachs (Holzschnitt von Otto Urbas von 1919) (aus: Lessie Sachs: Das launische Gehirn. Lyrik und Kurzprosa. Hg. v. Jürgen Krämer und Christiana Puschak, Berlin: AvivA, 2020) #femaleheritage
Porträt von Lessie Sachs (Holzschnitt von Otto Urbas von 1919) (aus: Lessie Sachs: Das launische Gehirn. Lyrik und Kurzprosa. Hg. v. Jürgen Krämer und Christiana Puschak, Berlin: AvivA, 2020) #femaleheritage

Aviva Verlag und #femaleheritage – Neuauflage vergessener Autorinnen

#femaleheritage: Wo sollen wir anfangen, wo aufhören? Seit 23 Jahren setzen wir uns für die Sichtbarkeit von Schriftstellerinnen ein und verlegen Bücher vergessener Autorinnen, gerne auch als Erstausgaben aus dem Nachlass. Lessie Sachs und Christa Winsloe sind nur zwei der unzähligen Schriftstellerinnen, deren Erbe beinahe der nationalsozialistischen Kulturpolitik zum Opfer gefallen wäre und die es unbedingt wiederzuentdecken lohnt. Da wären zum Beispiel die 1942 ermordete Wienerin Lili Grün oder die Berlinerin Ruth Landshoff-Yorck, die noch rechtzeitig emigrieren konnte; beide sind bei uns mit mehreren Titeln vertreten. 

Shelagh Delaney – Kultautorin aus Manchester


Hier bin ich und ich bin hier sicher und ich habe die Schnauze voll davon.

Shelagh Delaney

Andere Zeit, anderer Ort. Am 25. November 1938 wird Shelagh Delaney im nordenglischen Salford nahe Manchester geboren. In England gilt sie als Klassikerin und Pop-Ikone, in Deutschland provoziert die Nennung ihres Namens hauptsächlich Fragezeichen. Dabei haben so einige von uns Delaney-Texte im Ohr – diejenigen, die The Smiths kennen nämlich. In den Songs der britischen Kultband wimmelt es geradezu von Zitaten der Schriftstellerin, die als die einzige Frau unter den „Angry Young Men“ der britischen Nachkriegsliteratur gilt. Auch die Beatles verehrtenShelagh Delaney und coverten den Titelsong der Verfilmung von „A Taste of Honey“. 

Mit diesem Theaterstück landete die damals erst 19 Jahre alte Delaney einen Welterfolg,  es lief unter anderem am Broadwayund sollteschließlich als modernes Sozialdrama die Bühnen revolutionieren. Die Protagonist*innen: eine alkoholkranke Prostituierte, deren Tochter, die von einem schwarzen Matrosen ungewollt schwanger wird, und deren homosexueller Freund, der das Kind mit ihr gemeinsam aufziehen will. Mehr als genug Zündstoff, um in den späten 1950ern für Furore zu sorgen. Delaneys scharfer Blick auf ihre eigene Zeit, die der unseren so irritierend nahe ist, ist verblüffend. 

Uns hat sie in diesem Jahr den Herbst versüßt. Unsere Delaney-Werkausgabe „A Taste of Honey“ mit Erzählungen und Theaterstücken der Autorin aus Manchester, übersetzt und herausgegeben von Tobias Schwartz, wurde als einer der zehn besten Titel aus unabhängigen Verlagen auf die Hotlist 2020 gewählt.

Buchcover: Shelagh Delaney, A Taste of Honey, AvivA Verlag. #femaleheritage
Buchcover: Shelagh Delaney, A Taste of Honey, AvivA Verlag. #femaleheritage

Margaret Goldsmith – eine Wiederentdeckung

Unsere neueste Wiederentdeckung stammt aus dem Jahr 1931: „Patience geht vorüber“ von Margaret Goldsmith, herausgegeben von Eckhard Gruber. Goldsmith wurde in Milwaukee/USA geboren und kam als Jugendliche nach Berlin. In den frühen 1920er-Jahren war sie stellvertretende US-Handelskomissarin, als erste Frau in einem solchen Amt weltweit. Später arbeitete sie als Journalistin, Schriftstellerin und Übersetzerin, schrieb überwiegend Sachbücher und Biografien und ging 1931 nach England, wo sie unter anderem Werke von Anna Seghers, Vicki Baum und Erich Kästner ins Englische übertrug.

Heute ist Margaret Goldsmith am ehesten noch als Geliebte von Vita Sackville-West ein Begriff, als Schriftstellerin aber nahezu vergessen. Zu Unrecht, wie „Patience geht vorüber“ eindrucksvoll beweist. Im Zentrum: die sympathische Heldin Patience mit ihren Lebensentwürfen und Enttäuschungen, ihrer leidenschaftlichen Liebe zur Schulfreundin Grete bis zum »neusachlichen« Umgang mit Beziehungen Ende der 1920er-Jahre, ihrer Arbeit als Journalistin zwischen Deutschland und England bis zur Karriere als Medizinerin, die Patience bis in die USA führt. Die Tochter eines preußischen Arztes und einer englischen Adligen steht wie Goldsmith selbst zwischen den Nationen, Klassen und Geschlechtern, und doch ist der Roman keine literarisierte Autobiografie, sondern ein dichtes Zeitbild vom Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution über die Inflation 1923 bis ins Jahr 1930. Flott, humorvoll und unprätentiös erzählt – und auch heute, 90 Jahre nach seinem Entstehen, immer wieder überraschend aktuell. 

Buch-Cover: Margaret Goldsmith, Patience geht vorüber, AvivA. #femaleheritage
Buch-Cover: Margaret Goldsmith, Patience geht vorüber, AvivA. #femaleheritage

Es gibt noch so viel zu entdecken! Wir freuen uns darauf, weitere Schätze zu heben, bislang vernachlässigte Aspekte und Schätze des kulturellen Erbes in den Blick zu rücken und den literarischen Kanon um weibliche Stimmen zu erweitern.

Autorin: Julia Baudis, AvivA Verlag 

Julia Baudis, geb. 1982, Studium Musik und Deutsch an UdK und HU Berlin sowie an LHI Reykjavik, lebt und arbeitet in Berlin. Seit 2016 freie Mitarbeiterin für Lektorat und Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im AvivA Verlag. 

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